Tucho im Kreuzgang
Rolf Staude las Werke von Kurt Tucholsky
Gerhard Weihe, Rolf Staude und Eva Sänger
am 6. Dezember 2012 im Kreuzgang zu St. Pauli
Michael L. Hübner
Der Heilige Kurt ist der Schutzpatron
des anspruchsvollen Journalismus auf höchstem Niveau. Als er noch
lebte, war er ein promovierter Rechtsanwalt. Vor allem aber war er ein
Anwalt der Menschlichkeit – mit scharfem Verstand und noch schärferer
Feder, gnadenlos und doch voller Güte, hart und doch gleichzeitig
butterweich. Ein grandioser Beobachter, ein hervorragender Analyst dessen,
was er sah. Ein Spötter von dem Format eines Lukian und Heinrich
Heine. Dr. Kurt Tucholsky, der Vater der geistreichen politischen Satire
war in Brandenburg zu Gast. Siebenundsiebzig Jahre nach seinem Tod füllte
er den Kreuzgang von Sankt Pauli. Er bediente sich der Stimme und Gestik
des Brandenburger Schauspielers Rolf Staude, der sich Texte von Tucho
für seine Lesung erkoren hatte. Ach, was war "Rheinsberg"
so schön – wer gebraucht nicht des Öfteren das geflügelte
Wort, man wolle "die Seele baumeln lassen". Wer hat's erdacht?
Tucholsky! Wieviel junge Leute liebten hernach wirklich "vom Blatt",
wie er es vorausgesehen hatte! Aber der kleine Dicke aus Berlin, der mit
seiner Schreibmaschine versucht hatte sich der Mikrobe der menschlichen
Dummheit entgegen zu stemmen und einen Krieg aufzuhalten, wie Erich Kästner
urteilte, der konnte auch anders. Wo er die Oberflächlichkeit und
geistige Rasenlatscherei erblickte, da schlug er zu – unbarmherzig.
Und Staude trug das vor. Und der Kreuzgang barst schier und zeigte mit
85 Besuchern einen rekordverdächtigen Ansturm. Sie lachten, sie hörten
andächtig – des Meisters Worte ziehen ein dreiviertel Jahrhundert
noch immer die in den Bann, die hören wollen und das Verstehen suchen.
Staude führte die sprachlichen Bilder Tucholskys vor wie ein verliebter
Galerist, mit Verve, mit Gestik, mit Prononcierung und Melodie in der
Stimme. Ausgewählt hat er aus dem 5.000 Werke umfassenden Opus die
Stücke, die auch nach über achtzig Jahren einen ungebrochenen
Bezug zur Aktualität besitzen. Das, was Tucholsky damals schrieb,
das gilt, das passiert heute so wie damals, hier, vor deinen Füßen,
gleich um die Ecke und – in deinem Spiegel. Man lernt über
den anderen viel, und wenn man nur will, über sich selbst noch mehr.
Denn der Mann war ein Kyniker – Sie lesen richtig – kein Zyniker
in dem mittlerweile negativ konnotierten Sinn. Er biss nicht um zu verletzen,
sondern um zu helfen. Das vom Lesepult herunter eins zu eins übersetzen
zu wollen, ist eine große Herausforderung. Staude stellte sich ihr
und gewann. Das Publikum dankte es ihm und es dankte der feinfühligen
musikalischen Begleitung durch Gerhard Weihe am Klavier und Eva Sänger
mit ihrer zauberhaften Geige. Auch die beiden Musiker fanden einen schlafwandlerischen
Zugang zu der Zeit Tucholskys – teilweise mit eigenen Kompositionen
Weihes. Der routinierte Pianist hatte ein stetes Lächeln auf dem
Gesicht, während er seinen Fingern zusah, wie diese – scheinbar
völlig autark – über die Klaviatur tanzten. Tucholsky
war anwesend, ganz sicher. Die Nazis, die sein Leben ruinierten, hatten
an diesem Abend ein weiteres Mal verloren. Denn der 1933 Ausgebürgerte
war da, war in Brandenburg an der Havel, war im Kreuzgang von Sankt Pauli.
Im Jahr seiner Ausbürgerung schrieb er, er wolle "erst amal
das Maul halten. Gegen einen Ozean pfeift man nicht an.“ Der braune
Ozean ist zu einem Rinnsal eingetrocknet. Aber das Pfeifen des Mannes
Tucholsky ist noch immer laut und deutlich zu hören. Es füllt
noch immer die Säle. Das ist es, was Mut macht.
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