Schwierige Suche nach der Wahrheit
Literatur-Erzengel Günter stürzt
in die Tiefen des Scheol
Kotofeij K. Bajun
Von vielen Seilen kräftig
gezogen, beginnt der Koloss zu wanken. Er neigt sich und dann –
dann stürzt das gewaltige Monument in seinen Fugen ächzend
dem Erdboden entgegen. Hart ist der Aufschlag, das Eisen bricht. Hilfe
heischend scheint es den Arm in jenen Himmel zu recken, in welchen hinein
es einst Millionen lesender Zeitgenossen den Weg in die Zukunft gewiesen.
Und die, welche noch vor wenigen Tagen im Schatten dieses Denkmals rasteten,
Blumen niederlegten und verstohlen zärtliches Gewisper tauschten
– die treten nun nach dem gefällten Abbild, heißen
den einen Schurken, den die wenigsten im Leben selbst gesehen.
Wer liegt nun da? Wessen Antlitz ruht im Staub, den es im Sturze aufgewirbelt?
Ist es Lenin, Stalin, Jagoda? Ist es Mao oder der verrückte Hussein?
Nein, um jene gefährlichen Narren würde sich der Preußische
Landbote kaum melancholisch machen. Denn diese waren Männer, deren
Denkmäler sich um blutiger Taten willen, verherrlicht in einem
Strom nicht enden wollender Lügen und Halbwahrheiten, in ewig gleichen
Posen über die Menschen erhoben.
Hier aber stand einer, dessen Stirne umkränzt war vom Lorbeer des
Literaturnobelpreises. Nicht mit Waffen, sondern mit der Macht der geistreich
gesetzten Worte hatte dieser Mann die gebildete Welt einst in den Bann
geschlagen. ...uns auch!
Dann begegneten wir einander und fanden beide, es sei gut und richtig,
wenn es bei dieser einzigen Begegnung bliebe. Nach dem Wenigen, was
wir voneinander wussten, enttäuschte uns der Anblick des Gegenübers,
den wir uns in unseren Köpfen so ganz anders skizziert hatten.
Hier nun liegt das Monument des Günter Grass, des würdigen
Greises markantes und ehernes Gesicht gedrückt in den Uferschlamm
von Mütterchen Trave. „Nun freue dich Landbote, denn der
allmächtige Vater Israels hat wieder einmal nach seinen Worten
gehandelt und einen bornierten Mächtigen vor Deinen Augen zu Fall
gebracht...!
WER...?! Wer hat uns da soeben diese bodenlose Frechheit zugerufen?
Wer unterstellt uns solche billige Infamie? Zum Teufel! Niemand freut
sich in diesem Hause an dem späten wie höchst überflüssigen
Fall eines Mannes, zu dem uns zwar die Sympathie, vor dem und dessen
Werk uns aber nie der tiefe Respekt abhanden kam. Statt dessen herrschte
noch Tage nach dem Sturm in der Redaktion betretene Stille.
Töricht wird sein Gedicht gescholten, das er jüngst vor der
Welt zum Vortrage brachte. Für töricht halten auch wir es
– in der Tat. Doch über welche Zeilen soll das Verdikt gesprochen
sein? Irrte er, als er – als Freund wohlverstanden – dem
Judenstaat die Szenarien vorrechnete, die ein Atomschlag in dieser Region
nach sich ziehen könnte? Nein, mit keinem Worte. Irrte er, als
er sagte, die persische Atombombe sei unbewiesen, jene der Juden aber
schon? Nein, mit keinem Worte. Irrte er, als er die als Wiedergutmachung
verbrämte und einzig von Profit- und Geldgier getragene Heuchelei
des deutschen Staates an den Pranger stellte, dessen Vorgänger
ihn einst die schrecklichste Uniform zu tragen hieß, welche der
Menschheit ewig grauenvoll im Gedächtnis brennen wird? Nein, mit
keinem Worte.
Ja, worin irrt er dann? Denn, dass dieser Günter Grass einen fundamentalen
Fehler beging, scheint klar wie der lichte Tag!
Vielleicht ist ihm vorzuwerfen, dass er, der ehemalige Kämpfer
der Waffen-SS, den Umstand missachtete, für die nächsten Äonen
das Recht verwirkt zu haben, an denen israelischen Juden Kritik zu üben.
Sein nach unserem Empfinden weniger als anspruchsvolle Lyrik zu bezeichnendes
Gedicht aus der Feder eines dänischen oder holländischen Dichters
hätte kaum für eine Furore gegolten, die über den Tag
hinausgegangen wäre. Man hätte es zweifelsohne als den kalten
Drusch sattsam bekannter Allgemeinposten abgetan. Und dass er sich seiner
Vergangenheit wohl bewusst ist, belegt die Zeile 37 sattsam und keinen
böswilligen Widerspruch duldend.
Ist er ein Antisemit? Diese Keule möge wuchtig auf die Füße
derer fallen, die sie dumm und ignorant schwingen! Schon in der Blechtrommel
wies Günter Grass überzeugend nach, wie er es mit denen Juden
hält. Sie hatten einen guten Freund und Fürsprech in Grassens
Günter. Diesen Zug in sich bewahrte er – in der Zeile 40
steht es schwarz auf weiß: „... dem Land Israel, dem ich
verbunden bin und bleiben will...“. Das klingt ehrlich. Das ist
nicht angreifbar!
Was also lässt die Welt aufjaulen? Was veranlasst die Israelis,
so überzogen zu reagieren und den Alten von Langfuhr ihrer Pforte
zu verweisen? Worin besteht die Torheit des sonst so klugen Grass? Nach
unserem Dafürhalten in zwei Dingen:
Zum ersten: Freund hin oder her – kein Deutscher hat je wieder
das Maul aufzumachen, was das Heilige Land betrifft, er habe denn recht
oder nicht. Fordert das von den Teutonen kritiklose Nibelungentreue
zu ihren jüdischen Brüdern und Schwestern? Ja, ja und tausendmal
ja! Fünf Millionen tote Juden sind eine unfassbare Dimension, die
andere Gesetze deklariert, als sie sonst auf Erden herrschen mögen.
Auch die anderen Nationen haben kluge Köpfe. Möge man diese,
wenn man glaubt, sie artikulierten sich nicht deutlich genug, bitten,
den eigenen Gedanken diskret in Tel Aviv vorzutragen und zu übermitteln.
Diskret! Diskret! Diskret! Nach außen hin passe kein Blatt Papier
zwischen eine Eiche und den Jordan.
Die gravierendste Dummheit aber scheint uns darin zu bestehen, dass
er, der Grass, dieser große Anatom der menschlichen Seele und
ihrer Schwächen, so völlig verkannt zu haben scheint, an wen
er da adressierte. Ja, ist denn der Mann auf seine alten Tage mit völliger
Blindheit geschlagen oder vernebelt ihm der Rauch seiner ewigen Pfeife
den unverstellten Blick auf seine Pappenheimer?
Für wen hält dieser Günter Grass seine Deutschen? Nach
all seinen Erfahrungen? Nach all dem Erlebten? Für ein Volk von
tiefgründigen, feinsinnig gebildeten Analysten frommer, philanthropischer
Denkart, frei von den Versuchungen hastig gefällter Vorurteile
zugunsten des politischen Tagesgeschäfts? Da entblößt
er für alle sich opfernd die Brust und erwartet allen Ernstes,
es fände sich niemand zum feigen und gnadenlosen Schusse bereit?
Die Deutschen wollen keinen belehrenden Zeigefinger. Dazu sind sie viel
zu klein und zu unreif. Zumal sich dieser Zeigefinger vor wenigen Jahren
erst durch eigene Fahrlässigkeit selbst erheblich verletzte. Nun
wittern die Feinde Morgenluft. Jetzt können sie mit dem raschen
Hieb des Scharfrichterbeils abtrennen, was sie seit langem stört.
Ein für alle mal.
Und die Juden? Dünnhäutig sind sie – wer will es ihnen
verdenken nach Auschwitz, Nasser und den Hasstiraden des Verrückten
von Teheran?! Das grenzt schon an Paranoia. Doch erklärbar ist
es immerhin.
Und es ist immer dasselbe. Sei es mit den Satanischen Versen, die kaum
je ein Muselmann las, sei es mit den Karikaturen des Propheten, welche
die wenigsten Gläubigen je sahen: Der Mob tobt, wie ihm von höherer,
von vermutet „verständiger“ Stelle geheißen.
So denn auch hier.
Was ist mit dem Wahrheitsgehalt dessen, was Grass zum Vortrage bringt?
Interessiert nicht. Wie steht es um den ehrenhaften und von keiner noch
so winzigen Boshaftigkeit gezeichneten Impetus? Ist wurscht! Es gilt,
eine Eiche zu stürzen! Da wird zum Hallali geblasen und die Parforcejagd
eröffnet. Die Gelegenheit ist günstig, da der überragende
Baum schon seit geraumer Zeit an den Wurzeln zu schwächeln beginnt.
Armer alter Grass! Dass das Alter vor Torheit nicht schützt, zumal
wenn es von heillosem Hochmut begleitet wird, das musstest Du jetzt
traurig erfahren. Wir saßen einst am Tische Stefan Heyms in seinem
Häuschen am Rabindranath-Tagore-Weg. Wir schreiben uns mit dem
großen Loest. Auch diese beiden sind respektable Vertreter deutscher
Dichtkunst Sie stiegen nicht ganz so vermessen hoch wie Du, Du Dädalus
von Danzig. Doch kann man ihre Monumente nicht zu Fall bringen –
weil sie es nie zuließen, dass um ihre Persönlichkeiten je
welche errichtet wurden. Nun wird zu hoffen bleiben, dass der schwer
drückende Lorbeer von Stockholm und das an ihn geheftete, epochale
Gesamtwerk nicht unter den Trümmern begraben werden – unter
den Trümmern eines lebendigen Denkmals größter deutsche
Nachkriegsprosa.
Dem Preußischen Landboten ist jede Häme fremd. Wir würden
Dir aufzuhelfen suchen, Günter Grass, wenn wir das könnten,
Du seist uns gleich als Mensch fremd geworden. Doch dazu sind wir zu
unbedeutend. Wisse aber, dass wir nicht nach Deinem Denkmal treten werden.
Im Gegenteil, sollte an seinem Sockel eine Blume sich finden, so könnte
es sein, dass wir sie dort hinlegten. Denn über jeden Graben gegenseitiger
Animositäten hinweg haben wir verstanden, was Deines Herzens Anliegen
gewesen.
Und – wir unterschreiben längst nicht alles, was Du verlautbaren
lässt. Fändest Du aber kein Blatt mehr, dass Deine Worte veröffentlicht
– wir wollten es tun. Denn hier steht das freie, das demokratische
Preußen! In unserer Redaktion stehen die Büsten unserer Väter
Heine und Tucholsky, beide Söhne aus dem Hause Davids. Gemessen
und gewogen wird hier mit dem Herzen, dem Verstand und dem Willen zuzuhören.
Ungerechtigkeit und dümmlich-polemisches Gebell sollen Dir von
hier aus nicht widerfahren!