Dezember 2007 in Deutschland –
Weihnachtsmann und tote Kinder
S.
M. Druckepennig
Da stehen sie zu Hauf, Dutzende abgeschlagener trauriger Tannen,
als Umzäunung eines Weihnachtsmarktes aufgereiht, ihres
Baum-Lebens unzeitig beraubt für ein sinnentleertes Ritual
des Nackten Affen, mit dem sich dieser etwas Trost in sein tristes
Dasein zu mogeln sucht.
Da liegen sie zu fünft: tote Kinder, Jonas, Justin, Ronan,
Liam und Aidan vor dem Altar einer Holsteinischen Kirche. Derweil
wird in Plauen eine Mutter verhaftet, die drei ihrer Kinder...
Betroffenheit, Entsetzen, Suche nach Schuldigen, Erklärungen,
landauf, landab. Und die nächsten toten Kinder, und die
nächsten und die nächsten. Und immer das Gleiche:
Kerzen, Gebinde, Plüschtiere vor den Türen der Wohnungen,
in denen diese Kinder einst lebten.
Da kommen dann Hunderte Menschen in die Kirchen zu Gedenkveranstaltungen
und Gottesdiensten und heulen Rotz und Blasen und versichern
sich ihres Kummers und scheuen keine Kosten und Mühen,
dies alles zu tun. Kosten und Mühen scheuten sie als die
Kinder noch lebten. Es ist um so vieles leichter und bequemer,
Toten hinterher zu heulen als den Lebenden zu helfen. Und es
wärmt das Herze, dieses gemeinschaftliche Gesinge und Gejammer.
Politiker gesellen sich dazu und die Hohe Geistlichkeit –
und jetzt gib ihm! Diese Flut der Betroffenheits-Phrasen, wie
sie abgedroschener nicht mehr sein können, diese Willensbekundungen:
„Wir müssen jetzt...!“ Einen Dreck was müßt
ihr! Die nächsten Wahlen müßt ihr gewinnen,
die Pfründen müssen gesichert werden. Was gehen euch
da die toten Bälger von egoistischen oder durchgeknallten
Unterschichten-Trinen an, die ja perspektivisch doch nur das
Heer der Sozialschmarotzer verstärkt hätten!
Es ist die Sinnleere in den Menschen, die sie zu solchen Untaten
treibt. Es ist diese Eiseskälte zwischen den Geschäften,
mit denen der Nackte Affe seinesgleichen in die Tasche faßt.
Und daneben, und darüber gibt es nichts. Mammon, Mammon
über alles, über alles in der Welt.
Schlimme Auswüchse erwachsen der Religion, wo sie sich
der Macht versichert. Gepreßt und eingeengt von bigotten
Eltern, Priestern und Erziehern wachsen Kinder teilweise in
religiösen Gemeinschaften auf und geben erlebten Druck
und durchlittene Enge, nachdem sie selbst gebrochen wurden,
unreflektiert an die nächste Generation weiter. Aber da
ist wenigstens eine Generation, an die man etwas weitergeben
kann.
Weil da ein Sinn dahinter steht. Er mag krude und verquast sein
oder nicht. Die Leute bewegen sich gehend oder kriechend entlang
einem Werte-Kanon, einem tradierten Weltbild, einem Sinn, der
es ihnen verbietet, verantwortungslos und lediglich ichbezogen
dahinzutaumeln.
Doch die abendländischen Religionen hatten es letztendlich
übertrieben. Selbst dem Dorftrottel fiel irgendwann auf,
daß in Schwaben beispielsweise die aufgeputzten Frauen
nicht mehr des Sonntags der Kirche zustrebten um den Armen Gekreuzigten
zu ehren, sondern um zu zeigen, daß sie besser ausstaffiert
waren als die böse Frau Nachbarin. Nebenbei plärrten
sie dem Heiland noch die Ohren voll, er möge ihnen dies
und das – und der Nachbarin am besten noch die Pest an
den Hals.
Das war das ganze Gegenteil dessen, was der Gute Mensch von
Wandsbeck einst in seine zu Herzen gehenden Verse goß,
so in seiner Ode „Der Mond ist aufgegangen.“ Matthias
Claudius war Christ, seinem Gotte sehr nah. Für die Aufgeputzten
hätte es auch ein x-beliebiges kleines Götzlein getan.
Denn für sie war und ist der Heiland kein Gott sondern
ein ziemlich unzuverlässiger Erfüllungsgehilfe, ausschließlich
dazu da ihren eigenen Wünschen zu dienen und sie am Ende
von ihren zahllosen Sünden zu absolvieren.
Der Maßlosigkeit der Religion, die sich selbst immer mehr
von dem ihr zu Grunde liegenden Inhalt entfernte, folgte die
Strafe auf dem Fuße. Erst kam der Atheismus, dann die
sexuelle Revolution, und dann der mächtigste apokalyptische
Reiter der Moderne: die enthemmte Spaßgesellschaft.
„Jeder für sich und Gott gegen alle!“ und „Geiz
ist geil!“ und „Hasse deinen Nächsten wie dich
selbst!“ Dieser Nächste ist nicht nur mehr dein Nachbar.
Nein, nun ist es auch dein Kind, deine alte Mutter, die dich
einst aufzog, dein gebrechlicher Vater, dein Mann, der seine
Arbeit verlor und nun verzweifelt auf der Parkbank sitzt, deine
Frau, die nichts mehr hat von der Attraktivität ihrer jungen
Jahre. Sie alle stören dich. Sie nerven, sie öden
dich an. Und – sie kosten!!! Dein Geld mußt du abgeben
für diese überzähligen Kreaturen. Da schlage
doch das Donnerwetter drein! Nein, schlage du drein! Laß
nicht zu, daß Pflegeheime für die teuren Alten an
dein sauer Erspartes gehen! Laß nicht zu, daß ein
schreiendes und quengelndes Gör dir deine Disko-Abende
vermiest. Schlag zu! Schlag zu! In die Tiefkühltruhe, in
den Blumenkasten damit. Unser Geld kriegen wir ganz gut alleine
durch. Auf dem Weihnachtsmarkt zum Beispiel. Damit wir mit saublöden
rot-weißen Mützen an Bratäpfelständen stehen
können, von süßlichem, ohrenbetäubenden
Weihnachtsgedudel berieselt mit Luftgewehren in Schießbuden
herumballern und Glühwein saufen können. Wir! Nicht
die Anderen! Selbst wenn die mit uns eines Fleisches sein sollten.
Es gibt keine Sippe mehr, keine Freundschaft, keine Nächstenliebe.
Alles kalter Kaffee! Es lebe das Ego, das verantwortungslose
„Hoppla, jetzt komme ich!“ Ich, ich, ich –
und nichts anderes. Und alle, die von diesem Ich etwas wollen,
sind Parasiten, selbst wenn sie von mir abstammen, oder ihrerseits
mein Dasein erst ermöglichten. Schnell noch ein paar Geschenke
gekauft... Bald ist Heilig Abend. Geschenke? Oft seelenloser
Tinnef, so hohl und leer wie diejenigen, die sich für Schenkende
halten und doch nur zähneknirschend einer lästigen
Pflicht genügen. Und wie sie dann ärgerlich sind,
wenn sie ihrerseits mit demselben Plunder zugemüllt werden.
Süßer die Glocken nicht klingen...
Der Heiland, der sich für die Sünden, den Stumpfsinn
und den Egoismus der Menschheit ans Kreuz hat schlagen lassen,
hat Geburtstag. Stille Nacht, heilige Nacht! Still und starr
ruhen die Leichen der toten Kinder, still und starr stehen die
abgeschlagenen Tannen am Rande des Weihnachtsmarktes, der voller
Krakeel und Gaudi und Schacher die ritualisierte Sinnleere des
Nackten Affen hochleben läßt.
In einer romanischen Kirche voller Schlichtheit, nahebei, sitzt
ein alter Mann in einer abgeschabten Lederjoppe, die Hände
gefaltet und blickt den Gekreuzigten an, der dort seit vielen
hundert Jahren unter der Vierung hängt. Jahrzehntelang
hatte der Alte keine Kirche mehr von innen gesehen. Das hätten
die Genossen übel vermerkt. Später hat er ein Faß
aufgemacht, als man ihm während des Jahres seiner Arbeitslosigkeit
Kirchensteuer vom Arbeitslosengeld abzog. Nun sitzt er hier
allein in der Kälte. Die Sonne ist bereits untergegangen.
Er denkt an seinen Sohn, der vor wenigen Wochen bei einem Verkehrsunfall
ums Leben kam, an seine Frau die am Krebs dahin verreckte. Er
denkt an die gemeinsamen Tage des Glücks während der
Ferien im FDGB-Erholungsheim an der Ostsee. Er denkt an den
langen schweren Kampf der Frau und wie sie immer siecher wurde
und schmaler und schwächer und von Tag zu Tag mehr dahinschwand.
Er denkt an den Augenblick, als der Notfallseelsorger an seine
Tür klopfte um ihm die Nachricht zu bringen, daß
seinem Sohne nicht mehr zu helfen gewesen sei. Er hatte nur
den einen. So wie die Frau auf dem Altarbild, die ihren Jungen
auf dem Schoß zu liegen hat, nachdem die Römer erlaubten
ihn vom Kreuze abzunehmen. Nichts, kein Haarbreit paßt
mehr zwischen den Alten und den toten Rabbi, so nah sind sie
sich in ihrem Elend!
Der Alte erhebt sich. Er darf heute noch zur Arbeit. Für
ein paar lumpige Euro in der Stunde läuft er Wachschutz
für seinen Ausbeuter, dessen mißratenes Söhnchen
schon mal aus Jux und Dallerei ein Firmenauto schrottet. Macht
doch nichts! Dafür gehen die Idioten doch für ’nen
Appel und ’n Ei malochen. Hier, just hier zeigt sich,
was Werte sind und was ein Ritus, ein Ritual bedeutet: Nichts,
gar nichts, überhaupt nichts. Doch für die da draußen
zählt weiterhin nur ihre ungebremste Sucht nach Vergnügen,
Abwechslung, Unterhaltung und Allotria. Rote Bommelmützen
mit weißem Rand. Stille Nacht, heilige Nacht.