Von
Gardelegen durch den Drömling
Zweite Landboten-Motorrad-Fahrt
Frau Evelyn Hübner zum Gedenken,
der besten Sozia der Welt
K. K. Bajun
Mit seinem bunten Farb-Eimerchen
streift der Herbst durch die Altmark. Ich will mal sehen, ob
ich ihm folgen kann und starte am 1. Oktobersonntag, kaum dass
sich mein grippaler Infekt so leidlich verkrochen hat, zu einer
Tour mit meiner 600er Yamaha Diversion. Vor sich hin brummelnd
schiebt sich mein kleines Kraftpaket durch das Salzwedeler Tor
in die alte Hanse-, Roland- und Otto-Reutter-Stadt Gardelegen.
Die scheint noch zu schlafen, obwohl es bereits gegen Mittag
geht.
bezaubernde Altmark
Desungeachtet ich mich nicht sonderlich auf den Verkehr konzentrieren
muß, verpasse ich doch die Fernstraße B 71, die
mich nach Nordwesten aus Gardelegen herausbringen soll und finde
mich statt dessen bei Hemstedt auf einer gut ausgebauten Chaussee
wieder, die mich jedoch zielstrebig nach Norden führt.
Nein, ich will nach dem Städtchen Klötze! Also hebt
das Gezuckel über die altmärkischen Klitschen an:
Algenstedt, Schenkenhorst, Engersen, Zichtau, Schwiesau…
Das Gelände beginnt anzusteigen und erhebt sich bis auf
satte Fläminghöhen von 100 Metern über NN und
mehr. Ganz klar – auch hier wurde die Erde pleistozänal
überformt. Will heißen, dass gewaltige Gletscher
der vorletzten, der Saalekaltzeit, vor 140.000 Jahren das Geschiebe
auftürmten. Als sich die kilometerhohen Eismassen zum Abschmelzen
entschlossen, formten sie zu Füßen ihrer Endmoränen
ein gewaltiges Urstromtal, dessen Teil dann das heutige, etwa
340 km² große Naturschutzgebiet des Drömling
ist. Zu 80% auf anhaltinischem Boden, zu etwa 20% auf niedersächsischem
Grund gelegen, zählt dieser Naturpark zu den wohl bedeutendsten
landschaftlichen Kostbarkeiten Deutschlands.
Nebelwiesen
Doch noch bewege
ich mich auf kleinen Chausseen durch einen Morgen, der sich
selbst verschlafen hat. Gewaltige Nebelfelder tauchen die Landschaft
in ein unwirkliches Licht. Sachurig-schön luken Erlen durch
das Blass des Nebels. Still und verträumt ist die
Gegend.
verträumte Chaussee
Auf der Brille
und dem Helmvisier setzen sich sofort die feinen Wassertröpfchen
des Nebels ab und erschweren die ohnehin getrübte Sicht.
Ich muß also langsam fahren. 30, 40 km/h, mehr geht nicht.
Mehr ist auch nicht notwendig. Zu verzaubert sieht das alles
aus.
Hochlagen
Bei dem Städtchen
Klötze also erreiche ich den Nordrand des Drömling.
Von den nebligen Höhen herabgestiegen bewege ich mich nun
im sonnendurchfluteten Tal der Purnitz und der Jeetze. Über
Köbbelitz, Neuferchau, Kunrau und Jahrstedt erreiche ich
Böckwitz und damit die ehemalige Interzonengrenze.
Droemlingchaussee
Noch vor 18
Jahren wäre ich bereits seit langem in hermetisch kontrolliertem
Sperrgebiet unterwegs gewesen. Ohne die entsprechende Legitimation
hätte mich das Kopf und Kragen kosten können. Doch
fort sind nun die bewaffneten Phantasten, die dassmeinten, einen
besseren Menschen formen zu können, wenn sie ihn nur einsperrten,
auf dass er ihren Erziehungsexperimenten nicht entkommen
könne. Bei Böckwitz, welches noch auf anhaltinischer
Seite direkt an der Demarkationslinie liegt, soll es einen Grenzlehrpfad
geben. Aha. Na, dann schauen wir doch mal. Im Orte selbst lockt
ein kleines Landwirtschafts- und Grenzmuseum. Das macht aber
erst um 13:00 Uhr auf. Noch eine Stunde. Nö, das ist zu
lange. Ich folge dem ausgewiesenen Grenzlehrpfad, wie er hundert
Meter vor dem Orteingang nach Süden von der Chaussee abzweigt.
Tatsache, nach ca. 1km erreiche ich eine Kreuzung mit Schutzhütte
und Grillstation. Sechs einsame Zaunfelder bilden nunmehr den
Grenzlehrpfad. Stacheldraht und engmaschiger Drahtzaun.
ehemalige Interzonengrenze
Zum Drömling
selbst erklären zwei Schautafeln Wissenswertes. Eine dritte
fehlt. Vielleicht hätte sie etwas zu den ehemaligen Grenzbefestigungen
und dem Verlauf der Grenze gesagt. Wer weiß. Der Verlauf
einer der schwerstbewachten Grenzanlagen ist für den Ortsunkundigen
nicht mehr nachzuvollziehen. Vielleicht ist das auch gut so.
Die Werbung „Grenzlehrpfad“, die aber in jeglichem
verfügbaren Kartenmaterial zu einem Besuche der Gemeinde
lockt, ist jedoch ebenfalls nicht verständlich. Die sechs
beinahe unkommentierten Zaunfelder sind ja wohl ein Witz.
"Griff in die Freiheit"
Wie sollen
sich die nachfolgenden Generationen vorstellen, welch perfide
und mörderische Grenze einst die Bürger der größten
DDR der ganzen Welt daran zu hindern suchte, ihrem in der Heimat
der Werkstätigen verordneten Glücke zu entfliehen?
Käme ich heute dort als 15jähriger an und würde
dieses Jammerbild von einem Grenzlehrpfad sehen, dann würde
ich wohl sagen: „Ja, wie jetzt, Leiter ran und rüber
dass!“ Sollte es in der Nähe eine Anlage geben, die
den Namen Lehrpfad verdient und ein wenig mehr vermittelt, dann
ist sie verdammt schlecht ausgeschildert.
Grenzweg
Macht nichts.
Ich befinde mich desungeachtet in einer Landschaft, die an Schönheit
ihresgleichen sucht. So weit das Auge blickt, keine Spur von
menschlicher Behausung. Nennt man deshalb Teile des Drömling
die westlichsten Ausläufer der sibirischen Taiga? Oder
des Bewuchses wegen? Egal. Ich, der sibirische Kater Bajun fühle
mich sofort zuhause.
Landschaftsbühne
Kulissenhaft
öffnet sich die Weite. Weiden und Pappeln schmücken
die duftenden Wiesen, auf denen sich ein paar glückliche
Rinder zum Wiederkäuen gelagert haben. Ganz von ferne zieht
ein tuckernder Traktor seine Bahn. Das Fernglas zeigt ihn doppelt.
Ist halt ein 10x50 Billigglas, kein Carl-Zeiss. Hat aber auch
nur € 25,- gekostet. Hier ein bißchen gedreht, da ein wenig gegrackelt – na bitte, das Geisterbild ist fort.
Es bleibt bei dem einen Trecker.
Eine große
Nacktschnecke zuckelt gemächlich von Niedersachsen nach
Anhalt. Paß und Visum? Interessiert sie nicht. Selbst
Schnecken haben mitunter mehr Verstand als Nackte Affen. Sie
wird aus Bayern stammen, denn sie erklärt mir unumwunden:
"Als a Schneck'n zia i a rotzige Spua. Und vor mir is no
olles trock'n - aber dös rotz i a no zua!" Dann mach
mal!
Nacktschneck im kleinen Grenzverkehr
Über mir
rauscht eine liebliche Birke, die sich nun auch anschickt, ein
buntes Herbstkleidchen anzulegen. Die Bank und der Tisch unter
ihrem Laubdach laden zum Verweilen ein. Pilze sind dekorativ
dem Boden entwachsen. Ich versuche mit meinem elektrischen Kompaß
die Himmelsrichtungen auszumachen. Vergebens. Die Batterie macht
schlapp.
kurze Rast
Überall
ist Süden. Toll! Also, GST-Gruppenführer Bajun: ein
Blick auf die Uhr, ein Blick zur strahlenden Sonne. Das Problem
ist gelöst. Meine auf der Bank gemachten Reisenotizen werden
im Tankrucksack verstaut, und weiter geht’s – southwards
straight ahead! Noch einmal 3 km, dann folgt die nächste
Kreuzung. Geradeaus geht es zur Steinernen Brücke. Was
überspannt dieser Steg nur? Den Führenmoorgraben,
die Ohre oder den Fanggraben? Ja nun, man ist im Land der tausend
Gräben. Melioration exzessiv. Wie der Drömling einst
aussah, als die Ohre- und Allerhochwasser ihn noch förmlich
ertränkten, dazu gebricht es mir an Vorstellungskraft.
Fakt ist, dass die Landsknechte des Dreißigjährigen
Krieges, die unvorsichtig genug waren, in den Drömling
hineinzugehen, kaum mehr aus ihm hinausgelangten. Etwa 25 Horste,
erhabene Landschaftsinseln, nur den Einheimischen bekannt, fungierten
als Rückzugsgebiet für die Ansässigen, wenn wieder
einmal marodierende Horden in der Nähe waren. Von dort
aus führten sie einen höchst erfolgreichen Partisanenkrieg
gegen die Landströtzer und Mordbrenner. Der Soldateska
wird der Drömling wie das Tor zur Hölle erschienen
sein, mir ist er eine Pforte zur Traumzeit.
Traumzeit
Ich quittiere
es mit großem Bedauern, als mit den Häusern vom niedersächsischen
Flecken Kaiserwinkel die erste menschliche Siedlung auftaucht.
Na gut, ich will nicht undankbar sein. Vor zwei Jahrzehnten
hätte ich denselben Anblick entweder mit einem Fell voller
Blei bezahlt oder bereits in Ketten gelegt im Gelben Elend zu
Bautzen gesessen.
Hinter Kaiserwinkel erstrecken sich zu beiden Seiten der Chaussee
das Große und das Kleine Giebelmoor, durchflossen vom
Zwanzigfüßergraben. Als ich eine Schautafel am Rande
der Straße lesen will, hat mein Zickchen Mühe, sich
wieder auf den Asphalt hinaufzukämpfen. Das Moor sieht
schon eher nach Sumpf aus. Es lockt, aber die Zeit läßt
einen Abstecher nicht zu.
Rühen, der westliche Grenzbahnhof… Auf der kurvenreichen
B 244 blase ich die beiden Rohre meiner Zicke wieder frei. Tief
unter mir zieht der Mittellandkanal seine Bahn von West nach
Ost. In Velpke (klingt so nach Magdeburger Börde) erreiche
ich die B 188. Oebisfelde – wieder bekomme ich nicht mit,
wann ich die niedersächsisch-anhaltinische Grenze überfahre.
Muß wohl auf der Allerbrücke gewesen sein. Nichts,
aber auch gar nichts erinnert an die Vergangenheit. Ruhig liegt
das ehemalige Grenzstädtchen Oebisfelde dass.
Oebisfelde - die Burg
Am Ortseingang
ein Schloß. Ein kleiner Roland grüßt vom Rathaus.
Hier also war der große Grenzbahnhof, das berühmte
Eisenbahnkreuz, in dem sich Strecken aus allen vier Himmelsrichtungen
trafen. Heute braust der ICE durch Oebisfelde. Halten tut er
nicht. Ich auch nicht. Ich habe noch 35 km auf der B 188 vor
mir. Man könnte es direkt genießen, wenn da nicht
dieser unausgereifte Anfangszwanziger in seinem Golf und der
blonden Göre auf dem Beifahrersessel wäre. Der muß
alles überholen, ständig auf dem Sprung, ganz egal
zu welchem Preis. Seine Braut soll staunen, was er für
ein tougher Kerl ist und wie er mit der geborgten Kraft des
Fahrzeugs umzugehen versteht. Der Golf wird zum Hilfsboliden.
Das Risiko schnellt in astronomische Höhen. Ich habe keine
Lust in die mögliche Unfallstelle hineinzurasen. Also habe
ich ihn statt der wundervollen Altmark fest im Visier. Der dämliche
Blödian, der… Eine Baustellenampel läßt
alle seine Rennerfolge zerschellen. In Gardelegen hat der Nachwuchskamikaze
gerade mal 150m Vorsprung, und ich bin meine 80 bis 90 km/h
ruhig dahingekullert. Bravo, kleiner Idiot! Möge die hirnlose
Maid stolz auf dich sein! Warum ich sie so pauschal abwerte?
Wenn sie ein Fünkchen Verstand hätte, wäre sie
mit absoluter Sicherheit nicht die Beifahrerin dieses Sprallos,
der ihr mit kalkulierbarer Wahrscheinlichkeit zu einem kleinen
Kreuz am Straßenrand verhelfen wird.
Bevor aber das Salzwedeler Tor zu Gardelegen den Kreis schließen
wird, mache ich noch einen kleinen Ausflug nach dem Dörfchen
Ziepel, 4km südsüdwestlich der Stadt.
Ziepel - Bauerngehöft
Noch einmal
eine Landschaft, die ob ihrer Schönheit schier besoffen
macht. Wieder führen Baumgruppen und Waldraine in ferne
Tiefen, wieder protzen Wiesen mit sattem Grün, plätschert
das Flüßchen Milde neben mir dahin. Die Wellen spielen
über dem braunen Grund. Glucksend und gluckernd, quirlig
und verspielt huscht sie über ein paar Feldsteine.
Das Flüßchen Milde
zwischen Gardelegen und Ziepel
Dann das Dorf
Ziepel. Allerliebst. Jederzeit einen Ausflug wert. Die Schmiede,
der lauschige Anger, das Brünnlein, das sein Wasser über
den Gehweg rinnen läßt… Stolz verzierte der
Besitzer eines Fachwerkhofes in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts
den Rähm seines traufständigen Hauses mit Segenssprüchen,
wie das so üblich ist in der Altmark. Bei der Rückkehr
mache ich noch einen kurzen Abstecher auf eine der Mildewiesen.
Hier – ich kenne die Stelle noch ganz genau – liegt
Guestav
begraben, der kleine schwarz-weiße Kater, der Liebling
meines Freundes Jens-Peter.
bei Guestavs Grab
Ich grüße
Dich, kleiner Katzenmann. Möge Dir die altmärkische
Erde leicht sein. Dein Herrchen hat den Platz gut gewählt.
Hören Deine Katzenöhrchen den Wind, wie er durch die
Kiefern hinter Deinem Grabe rauscht, wie er Wellen über
das Wiesengras hinwegjagt, hören sie das Plätschern
der Milde? Schlaf gut, kleiner Katzenmann, ich muß weiter,
zurück nach Gardelegen, in das Haus, auf dessen einem Fensterbrett
die Mutter aller Katzen, die ägyptische Dame und Göttin
Basht sitzt und von dort aus Deinen Schlaf bewacht. Vier Stunden
war ich unterwegs. Vier herrliche Stunden. 120 km Strecke liegen
hinter mir. Kein einzelner Meter darunter, den man bereuen müßte.
Es ist schön dieses Landes Bote zu sein.