Der Christus vom Grauen
Kloster
Der vom Kreuz steigende Christus vom Grauen Kloster
K.
K. Bajun
Das ist unser Christus! Das ist er. Das ist der Heiland, den
wir uns vorstellen wollen, den wir herbeisehnen.
Vor dem von Bomber-Harris zertrümmerten Grauen Kloster
zu Berlin steht er. Und er nimmt uns gefangen – wir strecken
kampflos die Waffen.
Das Graue Kloster bot einst Heimstatt dem Geiste. Berlins erste
Buchdruckerei ward in seinen Mauern eingerichtet. Eines der
bedeutendsten Gymnasien der Mark Brandenburg erwuchs aus seinem
Schatten. Welch ein Ort!
Dann aber verdunkelten Haß und Stumpfsinn die Straßen
rund um diese ehrwürdige Franziskaner-Abtei. Der Humanismus
mußte dem Ungeist, der Verblendung und der Verrohung weichen.
Menschlichkeit wurde unter den fanatischen Schlägen nationalsozialistischen
Wahns zerdroschen.
Wofür hat sich der arme Wanderrabbi aus Galiläa einst
ans Kreuz nageln lassen? Dafür? Daß Kain in brauner
Uniform in bisher nie gekanntem Ausmaß seinen Bruder Abel
mit dem Judenstern auszurotten trachtete? Nein. Ganz gewiß
nicht.
Kains Haß fiel am Ende auf ihn selbst zurück. Er
regnete in Form unendlich vieler Spreng- und Brandbomben, Luftminen
und Granaten auf die Reichshauptstadt und begrub Kains Söhne
und Töchter unter sich. Und begrub die Leistungen der kultivierten,
der zivilisierten, der anständigen Voreltern gleich mit.
Wie eben jenes Graue Kloster.
Hatte der Rabbi genug gelitten? Er, der sich für die Sünden
der Welt auf die erbärmlichste, auf die grausamste Art
hat peitschen lassen, bis ihm die blutige Haut in Klumpen und
Fetzen vom Leibe hing, er, dem die sadistischen Legionäre
Roms die Dornenkrone ins schmerzgeschwollene Gesicht drückten,
er, dem sie Nägel durch die Knochen trieben um ihn dann
unter der sengenden Sonne Palästinas, von Fliegen und Mücken
und Durst und Atemnot und unendlichen Schmerzen gepeinigt langsam
verrecken zu lassen?
Hat er endlich lange genug an diesem dreimal verfluchten Kreuz
gehangen, das die Christen kurioserweise als Zeichen der Erlösung
begreifen?
Zähle einer die, die nach ihm in ihrer unendlichen Verzweiflung
und Not zu ihrem Gotte schrieen: Mein Gott, mein Gott, warum
hast Du mich verlassen? So fragte der große Stefan Heym,
und er ließ seinen Ahasver den Rabbi anbrüllen: Steige
herab von Deinem Kreuz, laß Dich nicht wie das Lamm zur
Schlachtbank führen, denn das Dulden der Schafe stärkt
die Ordnung der Wölfe. Steige herab und nimm das Schwert
Gottes in deine Hände und errichte dein Reich hier und
jetzt und nicht erst irgendwann und irgendwo!
Der Rabbi vom Grauen Kloster ist nicht der traurige nordische
Jüngling, der entkernt und entsaftet und ausgeblutet schmächtig
als Leidensmann am Kreuze hängt und die ihn ansehen in
Depression und Paralyse treibt.
Dieser hier steigt herab. Traurig aber fest geht der Blick nach
vorn. Kraftvoll stößt er das verkrüppelte Holz
des elenden Kreuzes von sich fort. Die Kiefern fest aufeinandergepreßt
begegnet uns hier ein Held, dem der armselige Arno Breker vergebens
nachgehechelt hätte, und wären ihm Tausend Jahre vergönnt
gewesen. Die starken Arme reißen die Dornenkrone herunter
– Roms Legionen, wo seid ihr nun? Kein Lendenschurz verbirgt
mehr die Manneskraft – Christus, Adam, Prometheus –
der geknechtete, geschlagene, gedemütigte Mensch erhebt
sich, befreit sich, nimmt sein Menschsein in die Hand.
Dem wollen wir folgen! Dem ja!
Mit dem armen Jesus, unter dessen Kreuz wir geboren worden,
haben wir Mitleid empfunden. Ja doch, den haben wir geehrt und
geachtet. Stark mußte man wohl sein, solches Martyrium
auf sich zu nehmen. Vielleicht unendlich stark. Vielleicht war
die Kraft eines Mensch gewordenen Gottes notwendig. Wer weiß?
Wir wären es nicht wert gewesen, diesem Jesus die nackten
Füße zu küssen.
Der aber, der Heiland vom Grauen Kloster, der läßt
uns nicht nur über Stärke nachsinnen, der zeigt sie
uns. Der lebt sie uns vor. Ist dieser hier nicht mehr sanftmütig?
Doch, ist er. Nach wie vor. Denn er ist der Christus.
Nur mit der Duldsamkeit ist es vorbei! Der, so das Leiden ablehnt
und überwindet, der, so das Kreuz von sich tritt, der ist
noch weitaus stärker als jener, welcher sich martern läßt.
Das ist der neue Christus. Das ist unser Christus.
Mögen die einen unter seinem Leidensbild die Saiten einer
Gitarre zupfen und singend und betend ein Kerzlein anzünden.
Wir aber wollen mit dem da gehen, mit dem Reb Joshua vom Grauen
Kloster zu Berlin. Wir wollen nicht singen, wir wollen tun.
Wir wollen nicht auf die andere Welt warten. Wir wollen diese
in unsere Hände nehmen und gestalten nach unserem Willen
– in Hände, die durch keinen Kreuzesnagel mehr am
Tun gehindert sind.
Die freigewordene Linke des Gottessohnes streckt sich uns entgegen.
Ein Lump, ein Feigling, ein Verräter, wer sie ausschlägt.
Wir wollen in sie einschlagen, mit festem Händedruck!
Kyrie eleison? Jawoll, Rebbe, komm! Komm zu uns, in unsere Mitte.
Komm herab von diesem verfluchten Symbol des Todes und des Grauens.
Dieses Höllenkreuz, das dich auf makabre Art überhöht,
das dich trennt von uns – laß es uns gemeinsam zu
Kleinholz hauen! Denn wir bedürfen seiner nicht.