Ein
Gedenkstein
K. K. Bajun
Eine alte Frau weint an
diesem kalten Wintertag. Sie kam aus Mannheim angereist. Nun steht
sie neben einem Stein am Brandenburger Nikolaiplatz und weint.
Der Stein erinnert an die Opfer der stalinistischen Geheimpolizei
in den Jahren zwischen 1945 und 1950.
Von der Straße weg wurden oft willkürlich und ohne
nähere Begründung Menschen verhaftet, in die Folterhöhle
des NKWD befohlen, dort festgehalten, gedroschen, gequält,
umgebracht.
Viele verschwanden auf Jahre in den Sonderlagern des sowjetischen
Geheimdienstes, in Sachsenhausen, Jamlitz, Buchenwald…
Noch Monate zuvor waren dies die Konzentrationslager der Nazis
gewesen. Die Sowjets nutzten sie nahtlos weiter.
Einst zeigte eine andere, damals junge Frau bei den „Befreiern“
an, daß ihre Mutter von „Personen, die sowjetische
Uniformen trugen“, vergewaltigt und umgebracht wurde. Das
war der Beginn eines aberwitzigen Martyriums, welches das Leben
dieser Frau zerbrach und mit 41 Jahren verlöschen ließ.
Durch Folterhöllen wurde sie geschleift, in Sonderlager verschleppt,
immer dem Verrecken nahe, das Kind wurde ihr genommen; die Erbauer
einer besseren Welt, die fröhlichen Sieger der deutschen
Geschichte, ließen sie in den Zuchthäusern Hoheneck
und Waldheim verfaulen, bis man nach zehn unendlich langen Jahren
das Häufchen Elend nach Westberlin abschob. Irgendwann wurde
der ihr bereits völlig verfremdete Sohn hintergeschoben.
Waren die Russen, waren die Kommunisten nun die wilden Bestien,
als welche sie uns die Propagandamaschine des Dr. Goebbels nach
Nemmersdorf verkaufte?
Na ja… man muß da sehr vorsichtig sein. Die Russen
hatten nach dem von ihnen unter einem unvorstellbaren Blutzoll
gewonnenen Krieg wenig Grund, die Deutschen zu lieben. Was Wehrmacht,
SS, Gestapo und Sonderkommandos in Rußland an Verbrechen
verübten, sucht in der Geschichte vergebens nach einem Beispiel.
In den Lagern der Nazis wurden sie behandelt wie der allerletzte
Dreck. Jetzt waren sie am Drücker. Die deutschen Kommunisten
waren schon zu Thälmanns Zeiten ein Haufen, dem mit äußerstem
Mißtrauen zu begegnen war. Ihr Rot-Front-Kämpferbund
war gar nicht so weit entfernt von den proletarischen Schlägertrupps
der SA und oft genug zogen die beiden Horden gemeinsam los, wenn
es galt die Sozialdemokraten zu verprügeln. Wer von ihnen
nach all dem Terror im Hotel Lux und hinter den roten Linien der
spanischen Interbrigaden noch etwas anderes erwartete als Tod
und Vernichtung im Namen des wissenschaftlich begründeten
Dogmas von einer lichten Zukunft, mußte schon jeglichem
Realitätssinn abgeschworen haben. Orwells Farm der Tiere
hatte das Wesen des realen Kommunismus für jeden erkennbar
auf den Punkt gebracht.
Dennoch!
Wer von euch ohne Fehl und Tadel ist, der werfe den ersten Stein!
Natürlich werden die grauenhaften Exzesse und Gewaltorgien
der sowjetischen und später ostdeutschen Zähneeinschläger
durch nichts gerechtfertigt. Ein Unrecht bringt man nicht durch
ein anderes aus der Welt. Aber verstehen, nachvollziehen was in
den Köpfen der Russen vorgegangen sein muß, wenn man
von den sadistisch-pervertierten Elementen einmal absieht, die
es in jedem Volke gibt, das muß drin sein.
Die Russen waren nur einem gewissen Teil ihrer kommunistischen
Brüder wahre Befreier. (Viele aufrechte und durchaus linientreue
Kommunisten wurden von ihnen ebenfalls gemeuchelt, teils auf bloßen
Verdacht des Renegatentums hin, teils, weil diese Leute sich mit
der Wirklichkeit konfrontiert um ihre Ideale geprellt und betrogen
sahen).
Auch die kommunistische Propaganda vom guten, menschlich wertvollen
Sowjetmenschen ist ein einziges Lügengebräu. Daß
nicht alle Russen entmenschte Triebtäter waren, die ständig
besoffen über deutsche Frauen herfielen, steht ganz außer
Frage. Dennoch war das Gefasel der Roten für Tausende ein
blutiger Hohn auf die selbst erlebten Schrecken.
Nein, es geht nicht darum, vor der Geschichte zu richten oder
aufzurechnen.
Es geht um ganz etwas anderes. Der Platz, an dem der neue Gedenkstein
steht, verdeutlicht es eindrucksvoll: Eingeklemmt zwischen den
Dienstsitzen der politischen Polizei des Nazi-Oberbürgermeisters
Sievers und des Ministeriums für Staatssicherheit steht der
Trumm mahnend. Er verweist darauf, daß die Menschen nichts,
aber auch gar nichts dazulernen. Ein Verbrechersystem löst
das andere ab, etikettiert notdürftig einige gesellschaftliche
Ziele um – und weiter geht der infernalische Tanz. Und wieder
ist alles schön und gut und wissenschaftlich begründet
und vor allem – zukunftsweisend. Und wieder schreien „Diversanten“
und „schädliche Elemente“ vor Schmerz oder verstummen,
von Kugeln durchsiebt, für den Rest der Ewigkeit.
Ist der Spuk vorbei, dann versichern sich alle, daß so etwas
nie wieder geschehen dürfe und siehe, ein paar hundert Kilometer
weiter läuft dasselbe mörderische Geschehen ab, zeitgleich,
ungestört, ewig und der verkommenen Seele des Nackten Affen
immanent.
Eine alte Frau steht auf der Neuendorfer Straße und weint.
Hier, ein paar Meter weiter nur wurde einst ihr Vater von den
Russen erschossen. Hier, just hier steht nun ein Stein, den ein
Dutzend alter und gebrochener Menschen ehrfürchtig betrachtet.
Passanten gehen vorüber, schauen kurz interessiert –
immerhin ist dort eine Menschenmenge. So etwas fesselt die Blicke
immer. Manche machen sich sogar die Mühe, die Inschrift auf
dem Stein zu lesen. Doch keiner geht zu der weinenden Frau aus
Mannheim und sagt. „Und wenn’s mich mein Fell kostet.
Ich stehe dafür, daß so etwas hier nie wieder passiert.“
Und meint es ehrlich! Bis es die Gleichgültigen selbst erwischt.
Dann erst werden sie munter, aktiv und fordern die tätige
Solidarität der anderen ein, die sie denen doch versagten,
als sie noch in keiner Bedrängnis waren. Vielleicht waren
die, die heute alt und zitternd den Reden der Offiziellen lauschten,
einst auch so geartet. Nur das ein unberechenbares Schicksal s
i e getroffen hat. Vielleicht?
Das ist es, was die Passanten der Botschaft eines solchen Steines
entnehmen sollten. Das, genau das! Denn das geht wirklich alle
an.
Und daher empfiehlt der Landbote verbittert die Setzung eines
weiteren Steines mit der Aufschrift: Den Milliarden Opfern ihrer
eigenen „scheiß-egal-Mentalität“.
Auf dem Nikolaiplatz zu Brandenburg an der Havel aber steht eine
alte Frau aus Mannheim und weint.
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