Die Mörder von Potzlow
Don
M. Barbagrigia
Die DDR seligen Angedenkens ging an ihren inneren Widersprüchen
zugrunde. „Innere Widersprüche“… - das
war so ein Schlagwort, ein stehender Begriff der ostdeutschen
Ideologen. Sie begründeten damit die desolate Perspektive
des zum Untergang verdammten Kapitalismus und erstickte selbst
an dieser durchaus brauchbaren Analyse, weil es ihnen an der
angemessenen Selbstkritik mangelte. Die fehlende sachliche Objektivität
gegen die Umstände, denen auch sie unterworfen waren, trübte
ihnen den Blick für ihr eigenes Schicksal. Die DDR verlor
den Existenzkampf – der rauhe, der zähe, der sich
an den Realitäten orientierende Kapitalismus überlebte.
Innere Widersprüche in der Seele eines Menschen oder einer
Gesellschaft leisten ähnliche Arbeit, wie das Eis in den
Felsen des Hochgebirges – mit der Zeit sprengen sie alles
kaputt.
Dieser kleine Prolog erscheint notwendig für das nachfolgende
Thema. Am Donnerstag, dem 20. September 2007 lud die SPD-nahe
Friedrich Ebert Stiftung in Brandenburg an der Havel zu einer
besonderen Lesung mit anschließender Publikumsdiskussion.
Hintergrund war ein schrecklicher Vorfall, der im Jahre 2002
das uckermärkische Dorf Potzlow und ganz Deutschland schwer
erschütterte. Drei jugendliche Schwerverbrecher folterten
den harmlosen 16jährigen Marinus Schöberl bestialisch
zu Tode.
Ein halbes Jahr später wurden die Banditen gefaßt,
überführt und zu Gefängnisstrafen zwischen 2
und 15 Jahren verurteilt.
Anliegen dieses Beitrages ist es, den Umgang unserer Gesellschaft
mit solchen Individuen kritisch zu hinterfragen und zur Diskussion
zu stellen.
Die der Veranstaltung folgenden Gespräche befaßten
sich mit großer Intensität mit der Problematik des
erstarkenden deutschen Rechtsradikalismus. Das Verbrechen von
Potzlow wurde für unser Empfinden zu nah an diese politische
Grundaussage geknüpft. Zwar versahen sich die drei Schandbuben,
wie das bei geistig minderbemittelten und gesellschaftlich zu
kurz gekommenen Spätpubertierenden häufiger der Fall
ist, mit rechtsradikalen Attributen, sowohl was das Auftreten
als auch was die Kleidung betraf. Dennoch aber fehlte dieser
Canaille bei einem attestierten IQ von um die 55 die mentale
Fähigkeit den Nationalsozialismus als komplexe Erscheinungsform
zu erfassen und bewußt zu adaptieren. Um eine politische
Idee, so krude sie auch sein mag, mit dem eigenen Persönlichkeitsbild
abzugleichen, bedarf es eines gerüttelt Maßes an
Selbstreflektion, einer fundierten Analyse des eigenen Ichs,
einer ausformulierten Vorstellung über die perspektivische
Gestaltung der Gesellschaft. All das dürfen wir den drei
Verbrechern von Potzlow getrost absprechen. Dazu sind sie einfach
und gelinde gesagt – zu dumm! Es handelt sich um drei
grenzdebile und von latenten Minderwertigkeitskomplexen geplagte
Spinner, die virtuell und leiblich erfahrene Gewalt wie seelenlose
Transmissionsriemen weitergaben oder potenzierten. Sie weisen
darüber hinaus eine abnorme Gewaltaffinität aus –
das ist alles.
Es treibt uns also die Frage um, ob das moderne deutsche rechtsstaatliche
Systemadäquat mit Strolchen dieser Qualität verfährt.
Schon bei der ersten Beurteilung des Falls stoßen kollidieren
wir mit dem Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland:
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar...
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen
und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage
jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit
in der Welt.
Diese Regelung ist aller Ehren wert. Doch halten wir sie, wenn
ihr das Schicksal einer realitätsfernen Utopie erspart
werden soll, für erweiterungsbedürftig. Es sollte
wohl berücksichtigt werden, daß die Menschenwürde
wohl durch Dritte nicht antastbar ist – das einzelne Individuum
sich aber seiner mit der Zeugung zuerkannten Menschenwürde
durch schandbares Verhalten gegen Mensch und Kreatur durchaus
nachhaltig begeben kann.
Natürlich sind keineswegs die immensen Schwierigkeiten
zu verkennen, die sich aus dieser Forderung ergeben. Bedarf
es doch bei einer solchen Konstruktion wiederum Dritter, die
über das Fortbestehen oder die Aberkennung dieser Würde
und der an sie gebundenen Menschenrechte zu befinden hätten.
Deshalb sind gut formulierte Richtlinien notwendig, die eine
zuverlässige Beurteilung dieser für den Einzelnen
existentiellen Frage gestatten.
Eine dieser Richtlinien wäre dann, die böswillige
und absichtsvolle Gewalt zum Schaden von Mensch und Kreatur.
Dabei sei die Qualität des geistigen Potentials des Täters
unerheblich. Mensch, Tier und Pflanze haben ein gottgegebenes
Recht auf Schutz vor der Gewalt des Bösen.
Nun sagte der große Friedrich von Preußen einst
bezüglich eines auf Todesstrafe erkannten Verfahrens gegen
einen Schäfer, der seinen Sohn im religiösen Wahn
erschlagen hatte: „Galgen und Rad bessern solche Narren
nicht. Man soll ihn in ein Irrenhaus geben und dort vernünftig
und menschlich behandeln!“ Nun wäre der Landbote
kein preußisches Blatt, schlösse er sich diesem tiefgreifenden
Humanismus nicht grundlegend an. Auch wir argumentieren allerorten
vehement gegen die Todesstrafe. Doch die Sache mit dem Irrenhaus
wollen wir relativieren.
Uns schwebt statt dessen ein hermetisch abgeschirmtes, unwirtliches
Gelände vor, dessen einzige Kosten in seiner strengsten
Bewachung von außen bestünden. Die Menschen, die
sich aus welchen Gründen auch immer entschlossen, ihrer
Menschenwürde zu entsagen und sich mit nicht entschuldbarer
Gewalt gegen die Gesellschaft vergingen, seien es Schläger
der extremen Szenen, seien es Kinderschänder oder Vergewaltiger,
seien es Tierquäler oder Brandstifter (nota bene keine
politisch Andersdenkenden!), mögen den Rest ihrer Tage
in diesem Areal verbringen. Mit Ausnahme der erwiesenen Unschuld
oder eines groben Rechtsbruch seitens der strafverfolgenden
Organe darf es für die Verdammten und Ausgestoßenen
nur ein „Rein“ in diese für Normalsterbliche
verbotene Zone geben. Ein „Raus“ nicht einmal mit
den Füßen zuerst.
Da sich die Verbrecher gegen die Normen der Zivilisation empörten,
so mögen sie untereinander die Gelegenheit haben, sich
nach ihren Vorstellungen zu organisieren. Haben sie sich aber
aus der Gesellschaft herauskatapultiert, so sei die Gesellschaft
auch fürderhin nicht mehr für den Erhalt der Existenz
dieser Leute responsibel. Keine Versorgung – auch nicht
mit dem Mindesten, dem Lebensnotwendigsten – von außen!
Kein Kontakt, keine Interaktion, keine Kommunikation. Diese
Leute seien ausgesetzt wie auf einem anderen Planeten. Sollen
sie sich in ihrer Hölle selbst organisieren und diese nach
ihrem Gusto gestalten, die sie anderen durch ihre Untaten unverdient
und ungewollt zumaßen. Und wer weiß, vielleicht
ist es ja den Stärksten, Grausamsten, Schlausten unter
ihnen das ersehnte Paradies. Das aber soll uns egal sein.
Vaporisiert sei ihre Existenz für die Außenwelt,
die nur dafür Sorge tragen soll, daß die Exmittierten
nicht entweichen, der Gesellschaft nie wieder zur Last fallen.
Das mag hart klingen, vielleicht auch unmenschlich hart. Es
entspricht jedoch unserem Verständnis für menschliches
Empfinden mehr, als die – wohl vermerkt – hochehrbaren
Ansätze der Aufklärer, die noch immer massiv in unser
Rechtssystem hineinwirken.
Leider haben sich diese Ideen Rousseaus, Voltaires, Lessings,
Claudius’ und der vielen anderen großen Geister
in Praxi als Utopien erwiesen, so realitätsfern wie das
Perpetuum Mobile.
Gerade das Beispiel der verblichenen DDR lehrt uns anschaulich,
daß derjenige unweigerlich zum Scheitern verurteilt ist,
der allzulange an einer solchen fixen Idee festhält. „Wer
zu spät kommt, den bestraft das Leben!“, postuliert
seinerzeit Herr Gorbatschow. Und damit hatte er den Nagel auf
den Kopf getroffen.
Gilt das wirklich nur für den Kommunismus und den real
exsistierenden Sozialismus? Oder muß sich auch die Rechtsstaatlichkeit
diesem universellen Prinzip beugen?
Sie muß! Oder wie anders erklären sich Phänomenen
wie die no-go-areas der Favelas von Sao Paulo, Los Angeles South
Central oder der New Yorker Bronx? Diese liegen inmitten scheinbar
solider rechtsstaatlicher Gebilde und werden dennoch kaum mehr
von den Organen des Rechtsschutzes erreicht. Längst sind
in dieses Arealen die Gesetze des sie umgebenen Gemeinwesens
nicht mehr das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind. Statt
dessen werden diese Zonen von Hierarchien beherrscht, die dem
menschlichen Archaikum entsprechen. Schrankenlose Gewalt hat
alle Errungenschaften der Zivilisation unter sich begraben.
Das menschliche Leben ist nicht mehr das Schwarze unter dem
Fingernagel wert!
Unleugbar ist diese dort zu verzeichnende Entwicklung keineswegs
widernatürlich sondern entspringt immanent den Bedürfnissen
eines durch die Jahrtausende hinweg mehr oder weniger konstanten
prozentualen Anteils der Menschheit. Mit diesem Fakt gilt es
sich zu arrangieren, oder wir kommen unter die Räder.
Die Gewaltbereiten haben nämlich uns gegenüber ein
mächtiges Trumpf-As im Ärmel: ihre Gewaltbereitschaft
nämlich. In deren Folge die Angst, die sie schüren.
Es ist die Angst, welche den weitaus größeren anständigen
Teil der menschlichen Gesellschaft zu paralysieren droht, zum
Opportunismus verführt, erdulden und stille halten läßt,
dem Florians-Prinzip Vorschub leistet.
Wir erreichen die Repräsentanten dieses devastierenden
Weltbildes nur viel zu geringem Maße, als daß weitere
sündenteure und unbezahlbare Resozialisierungsprogramme
auf Dauer zu rechtfertigen wären. Wir müssen endlich
den Fakten in die Augen sehen: Ein zahlenmäßig nicht
eben geringer Bodensatz der menschlichen Gesellschaft wird sich
– egal mit welcher Begründung – immer gegen
die Normen der Zivilisation stellen, sie brechen, sie verletzen,
sie mit Füßen treten. Es hilft nichts das Meer zu
streicheln um einer Sturmflut vorzubeugen. Dämme sind gefragt.
Sonst ersaufen wir! Denn das über Jahrtausende dem gewalttätigen
Naturell des Nackten Raubaffen abgerungene Ethos, welches doch
der Leim einer Zivilisation ist, ginge unweigerlich zum Teufel,
wenn die ungebremsten Schurken das Ruder übernehmen.
Eine denkbare Alternative wäre nach unserem Dafürhalten,
die ihrer Schuld überwiesenen Verbrecher unter für
die Gesellschaft profitablen Konditionen, gleichsam wie Heloten,
lebenslang Schwerstarbeit unter absolut reduzierten Bedingungen
bis zum Ende ihrer irdischen Existenz leisten zu lassen. Der
Gewinn aus dieser Tätigkeit möge nach Abzug der Unkosten
vollumfänglich den Geschädigten oder deren Hinterbliebenen
zufließen. Im Falle des viehisch ermordeten Marinus aus
Potzlow könnte das beispielsweise bedeuten, daß diese
Gelder unterstützend in einen Fonds zur Ausbildung seiner
Geschwister eingehen.
Jedes andere uns derzeit bekannte Verfahren spreizt die Schere
zwischen Rechtsprechung und Rechtsempfinden, was letztendlich
in die fatale Sentenz mündet, daß Recht und Gerechtigkeit
zwei verschieden Paar Schuhe seien. Genau diese gefühlte,
wie auch von Juristen oft bestätigte Kalamität unterminiert
langsam, stetig und zersetzend das Fundament unseres Gemeinwesens,
weil es das Vertrauen des ehrlichen, staatstragenden Bürgers
in die Hüter der Gesellschaft vernichtet.
Darin sehen wir die Lehre, die uns von den untergegangenen Utopien
der Menschheit erteilt wird: Wer versucht eine menschliche Gesellschaft
zu gestalten, indem er sie grob am natürlichen Wesen des
Nackten Raubaffen vorbei organisiert, die aberwitzige und zügellose
Gewaltbereitschaft und den schrankenlosen Egoismus des unreflektierten
Vertreters der Gattung Homo „sapiens“ sträflich
vernachlässigend, wird zwangsläufig Schiffbruch erleiden.
Wir haben unseren Verstand erhalten, um einer solchen Gefahr,
die für das Fortbestehen unserer Zivilisation weitaus präsenter
erscheint, als der vielbeschworene „Killer aus dem All“,
bei rechter Zeit und effektiv zu begegnen. Dieses Potential
sollten wir um unserer selbst willen nutzen, ehe es zu spät
ist. Zu spät, wie es bereist für den jungen Marinus,
seine Eltern seine Geschwister und ungezählte Leidensgenossen
ist. Noch haben wir das Ruder in der Hand!