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Die schreckliche Welt der Tsunamis

Herrn B.St.Fjøllfross
Seit Ende letzten Jahres kennt die globale Nachrichtenbranche beinahe nur noch das eine Thema: Die großen Wellen aus dem Indischen Ozean. Sie sind in aller Munde und seit jenen katastrophalen Ereignissen weiß jetzt sogar Lieschen Müller und ihre Oma, was ein Tsunami ist. Eine Woche vorher bei Jauch mit der Frage konfrontiert, was sich hinter diesem Begriff verbirgt - und in der ganzen Familie wäre das große Rätselraten ausgebrochen. Ein Fischgericht? Ein neuer Kleinwagen aus Korea oder der Tschechei? Eine asiatische Kampfsportart? Es war halt nicht wichtig.
Jetzt scheint das anders zu sein. Warum? Der erschreckenden Bilder wegen? Einhundertfünfundsechzigtausend Tote rund um die Küsten des Indischen Weltmeeres, ist es das, was Lieschen und ihre Leidensgenossen so betroffen macht?
Es ist schon ein Phänomen: Nur solche Ereignisse scheinen sich dem schwachen menschlichen Verstand nicht zu verschließen, die mit rasender Geschwindigkeit auf die Leute einstürzen und innerhalb von Minuten die Landschaft verändern.
Daß die Millionen Hans und Lieschen Müllers in Deutschland an einen unsichtbaren Marterpfahl gefesselt sind, während ein ungleich höherer Tsunami auf sie zu rollt, das merken sie gar nicht. Zu gebannt schauen sie auf die Ereignisse in Südostasien.
Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und die sie kontrollierenden Nieten im Nadelstreifen können dem Weltenschöpfer gar nicht genug danken: Militärische Expeditionen, die früher im Allgemeinen zur Ablenkung von inneren Krisen dienten, sind so ungewisse, teure und oft auch undankbare Abenteuer. Hier kann man billig alles der Höheren Gewalt in die Schuhe schieben. Das Volk starrt genauso gebannt auf den Horror und zerknittert derweil nervös und wie nebenbei den Hartz-IV-Bescheid. Das ist doch jetzt alles gar nicht so wichtig, nicht wahr - da unten tobt das Inferno! Es erinnert alles an den uralten Beutelschneider-Trick: "Ooch, guck mal da hinten, na da auf dem Dach, siehst du nicht?" Und schwups, weg ist das Portemonaise.
Doch ob man es wahrhaben will oder nicht: Längst ist auch Deutschland Opfer einer Sturmflut, die der blanke Hans (und wir reden hier nicht vom Sturm über der Nordsee, sondern vom Chef des deutschen Finanzministeriums) über weite Teile der Republik hereinbrechen läßt.
Diese verheerende Walze kommt langsam aber unaufhaltsam in Gestalt einer massiven wirtschaftlichen Krise auf uns zu gerollt.
Sie meinen, das sei ein geschmackloser Scherz? Weit gefehlt! Sie werden es erleben. Hartz IV ist nur der erste Vorbote. Und während Lieschen noch ihren vermögenden Schwager beglückwünscht, daß er dem Tode während seines Thailand-Urlaubs so knapp entronnen ist, fertigt die Agentur für Arbeit bereits die Ablehnung für Lieschens Hartz IV -Antrag aus. Na, dann sieh mal zu, wie du dich weiterhin versicherst. Keine Stütze, keine Krankenkasse, so einfach ist das. Schlappe Hundert Euro sollten schon übrig sein, wenn du dich auf freiwilliger Basis absichern willst. Hundert Euro wovon.?
Tja, und daß du aus deiner um drei Quadratmeter zu großen Behausung auch raus mußt, das tut uns aber leid! Nur blöd, daß der Vermieter vorher von dir verlangt, die Bude in renoviertem Zustand zu übergeben. Ohne Abnahme keine Kautionsrückerstattung. Nach einer gewissen Frist läßt er renovieren - und das wird dann teuer. Das hängt dir eine Weile an. Wovon also die Renovierungskosten bezahlen und dann auch noch den Umzug und die Kaution für die neue Wohnung? Woher sollen wir denn das wissen?
Ach ja, da sind da noch die Schulden beim Versandhaus. Wie war das doch gleich: Heute kaufen, die erste Rate in einem halben Jahr bezahlen, nur 0,5%Zinsen, Topangebot, Super, Geil, etc.. Damals hatte Lieschen auch noch einen Job. Die Bank hat mittlerweile den Dispo eingestampft und jetzt sieht's auf einmal ziemlich mau aus. Laß den Kopf nicht hängen! Es gibt ja noch die Tröstungen der Privatinsolvenz. Nach sieben knallharten Jahren bist du schuldenfrei und kannst noch mal von vorne anfangen. So jedenfalls lautet das Märchen. Die Wirklichkeit faßte Fallada mit sechs Worten zusammen: "Wer einmal aus dem Blechnapf frißt.!"
Das alles macht dich ganz krank, Lieselotte? Herzbeschwerden? Magengeschwür? Gallenkolik? Warte bloß nicht darauf, daß dir irgend jemand Medikamente vorbeibringt. Viele gibt es eh nur noch auf Privatrezept und sind sauteuer. Für einen "Hartzer" schon unerschwinglich - für einen, der nichts bekommt - erst recht!
Ja, aber guter Mann, die vielen Toten bei dieser größten Katastrophe seit Menschengedenken.! Schon recht. Dann nehmen Sie sich mal die deutschen Archive aus den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts zur Hand und überlesen mal die Selbstmordstatistik während der Weltwirtschaftskrise. Sie werden Augen machen. Ist Ihnen zu aufwendig? Ich kann Sie trösten: Ein gutes Zille-Buch tut es auch! Ist Ihnen doch hoffentlich noch bekannt, was der Pinselheinrich über die Elendsquartiere der sozial am Boden liegenden Proleten gesagt hat: "Auch mit einer Wohnung kann man einen Menschen töten!"
Es dauert halt alles nur ein bißchen länger. Statt in Minuten, wie bei einem Tornado, Erdbeben, Vulkanausbruch oder eben einem Tsunami, spielen sich diese Vorgänge in unserem Falle doch eher in Zeiträumen von Monaten und Jahren ab. Das aber schmälert ihre Effektivität nicht im Geringsten. Das kann ich Ihnen versichern!
Die Bundesregierung tönte vollmundig, sie wolle die Hilfe für die Katastrophenopfer großzügig und unbürokratisch erhöhen.
Das trifft sich gut. Bedeutet es doch, daß entsprechende Mittel vorhanden sein müssen. Wie sieht's denn aus, Herr Wirtschaftsminister? Welche Katastrophenhilfe ist denn für die einheimische betroffene Bevölkerung vorgesehen, die schon in wenigen Wochen ebenfalls ganz jämmerlich mit den Zähnen klappern wird? Wird man sich wieder verstärkt dem entvölkerten Gebiet zwischen Elbe und Oder, Vogtland und Kap Arkona zuwenden? Sie wissen doch, das Land, bei dem nicht ganz klar ist, was schneller abnimmt: die arbeitende Bevölkerung oder das Steueraufkommen. Ist es doch durch die Treuhandwelle landschaftlich nicht minder verändert worden, als die bedauernswerten Küstenregionen zwischen Kenia und Sumatra.
Ja, ja, ich weiß, ich höre Sie entrüstet aufheulen - instinktlose Übertreibung, Mangel an Pietät den Opfern gegenüber, und so weiter. So schlimm ist es ja wohl nicht im Entferntesten! Noch nicht! Wartet es ab, wenn die Kommunen zu pleite sind, um ihren Aufgaben noch nachkommen zu können. Und wenn euch die Phantasie im Stich läßt, schaut nach der Bronxx, nach New York, Borough of Haarlem, in die Favelas von Rio und Sao Paulo, oder in die Townships von Johannesburg. Menschen müssen nicht unbedingt in einer Flutwelle ersaufen oder von Trümmern erschlagen werden. Sie können genausogut im Sog der Kriminalität umkommen, die eine stete und treue Begleiterin der Armut ist. Seit vielen Jahren schon verwüsten solche Monsterwellen Orte wie Los Angeles South Central und kein Aas nimmt mehr Notiz davon. Der einzige Grund: es ist ein schleichender Prozeß - und er dauert an. Man gewöhnt sich daran. Das gehört einfach dazu. Sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen, dazu ist der Mensch einfach nicht geschaffen. Da versandet seine spontane und großzügige Bereitschaft, das Seine mit den Betroffenen zu teilen.
Sollte diese Behauptung in Zweifel gezogen werden, so gestatte ich mir, eine andere Riesenwelle in Erinnerung zu rufen, die Jahr für Jahr über Deutschland hereinbricht - ebenfalls schön gleichmäßig über die Zeit verteilt: Die Verkehrsunfallwelle nämlich. Jedes Jahr eine Kleinstadt, die von der Landkarte verschwindet. Jedes Jahr ein paar tausend Tote aufgrund von Alkohol, Leichtsinn und Raserei. Seit der deutschen Wiedervereinigung dürften wir die Tsunamibilanz von Südostasien dicke eingefahren haben. Wen interessiert das im Alltag?
Vielleicht ein paar Soziologen und Verkehrspsychologen, die damit ihre Brötchen verdienen.
Unser Lieschen Müller bleibt davon gänzlich unberührt. Sie starrt gebannt auf das im Fernsehen ausgestrahlte Urlauber-Video, das eine Frau zeigt, die vor den herannahenden Fluten um ihr Leben rennt. Hunde schreien in Todesangst. Das macht Eindruck! Und immer wieder die große, große Welle aus dem Nichts heraus.
Aus allen universitären Löchern eiligst hervorgekramte Spezialisten schütten jetzt die Segnungen ihres vorher von der breiten Öffentlichkeit unbeachtet gebliebenen Fachwissens über die Völker aus. Erklären, wie das so abläuft. Perfekte per Computer animierte Grafiken verdeutlichen den Inhalt der Kommentare, daß einem der Schauer über den Rücken läuft. Die Historie wird bemüht: Da ist von Riesenwellen in Schottland die Rede, die vor achttausend Jahren durch einen Erdrutsch vor der norwegischen Küste ausgelöst wurden. Und den atlantischen Anrainern wird Unheil orakelt, wenn der Westhang des Pico de Teide auf Teneriffa erst mal ins Rutschen kommt. Fünfhundertmillionen Kubikmeter Schutt schliddern dann mit einem Mal in den Ozean. Was sind dagegen schon ein paar Millionen Hartz -Vierer? Vergessen der Tsunami "Maggie Thatcher", der die Britischen Inseln achttausend Jahre nach der norwegischen Katastrophe heimgesucht hat. Eigentlich merkwürdig. Braucht man doch, um dessen Spuren freizulegen, gar nicht erst irgendwelche Sedimentschichten in ein paar Metern Tiefe freizulegen. Es genügt eine Tour durch die einstigen Bergbauregionen von Wales. Liegt alles offen zu Tage! Man muß es aber sehen wollen. Man muß seinen Kopf und seinen gottgegebenen Verstand zu benutzen bereit sein.
Und man sollte der Beschränkung abschwören, die den Blick auf sensationelle Ereignisse fixiert. Schleichende Prozesse können nicht minder verheerend in Erscheinung treten.
Die Wellen, an die ich mit diesem Beitrag erinnern will, sind keineswegs Naturgewalten, denen der Mensch schutzlos ausgeliefert ist. Es sei denn, man anerkennt die menschliche Sucht, seinesgleichen und alle übrige Kreatur bedenkenlos und ohne Maß und Ziel auszubeuten, Macht um ihrer selbst willen auszuüben, koste es was es wolle, als eine solch gottgewollte Prüfung an, so wie das die obrigkeitshörigen Theologen seit den Anfängen der Kulturgeschichte immer wieder postulierten.
Es ist eine Katastrophe, wenn Jugendliche der sogenannten Ersten Welt, die in ihrem Leben noch keinen sinnvollen Handschlag getan haben, über enorme Gelder verfügen, weil sie einem Millionenpublikum unter Verrenkung ihrer Gliedmaßen, begleitet von einer diabolischen Beschallung, einen Wahn aus dem Tollhaus vorführen, während die Kinder in der Sahel-Zone vor schierem Hunger zu schwach sind, sich die Fliegen aus den Augen zu wischen. Balltreter und -werfer der nördlichen Hemisphäre leben in Saus und Braus, während die Indios in Lateinamerika nicht wissen, ob sie unter der Maloche oder wegen der Unterernährung zusammenbrechen sollen. Und das seit Jahrzehnten!!!
Die Bewohner der pazifischen Staaten, die seit Jahrhunderten mit den großen Wellen leben müssen, haben sich effektive Frühwarnsysteme und Wellenbrecher geschaffen.
Es wird Zeit, daß man über vergleichbare Maßnahmen im gesellschaftlichen Bereich nachdenkt, ehe denn die Zahl der Opfer hierzulande auf ein unerträgliches Maß anschwillt.
Aber wo fängt man an? Leute wie Lieschen Müller und der deutsche Michel haben sich in der Vergangenheit als weitestgehend unbeschulbar und therapieresistent erwiesen. Ein Hollywood-Schinken, ein Fußballspiel der Oberliga, ein Katastrophenbericht vom anderen Ende der Welt interessiert sie allemal mehr, als das sie unmittelbar betreffende politische Tagesgeschehen.
Wenn die Welle längst über ihnen zusammengeschlagen ist, dann erst gehen sie auf die Straße, tragen Pappschilder und brennende Kerzen, kippen ein paar Mülltonnen um und rempeln Polizisten an. Bis dahin verfolgen sie gebannt die unheimlichen Bilder, die das Fernsehen ihnen von Gott-weiß-wo vorsetzt.
Wahrlich, für den, der daran verdienen kann, ist die ewige Dummheit und Kurzsichtigkeit der meisten Menschen ein nahezu unerschöpflicher Segensquell.
Ein bißchen Brot und viele Spiele, danke, liebe Römer, für diese Erfindung!

4. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2005