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Süchtig – Protokoll einer Hilflosigkeit
Eine Reportage des WDR

B. St. Fjöllfross
Frau Braun hatte unendlich viel Geduld: vierzehn Jahre lang begleitete sie ein Hamburger Mädchen auf dem Weg in die Hölle. In eine selbstverschuldete Hölle. Selbstverschuldet? Nun, vielleicht ist dies das Hauptproblem, dem wir uns in diesem Beitrag anzunähern versuchen sollten.
Allen klerikalen Märchenerzählern zum Trotz: Die Hölle entsteht zunächst einmal in uns selbst, ehe sie sich eventuell verselbständigt und zu einer Hölle wird, die uns umgibt.
Die Hölle dieses Mädchens Tanja war der Drogenmißbrauch. Heroin und Kokain, Alkohol und Tabak in rauhen Mengen – das machte andere reich und sie kaputt.
Einen fürchterlichen Tod hatte sie gehabt – im Oktober 2003. Dahinvegetiert nach einem Sauerststoffmangelsyndrom im Kopf, von AIDS geschwächt, auf einer Intensivstation hörte ihr 29 jähriges Herz auf zu schlagen. Das systematisch und über mehr als anderthalb Jahrzehnte in ihren Körper gepumpte Gift hatte ihre inneren Organe ruiniert, ihren Kreislauf überstrapaziert. Am Ende war sie, die eine blendend schöne Frau hätte sein können, ein Wrack.
Frau Braun begegnet Tanja, als diese, gerade mal dreizehn Jahre alt, schon an der Nadel hängt. Das Gesicht eines Mädchens, jung, frisch, von ungebändigtem Charme lächelt in die Kamera. Wir müssen sehr vorsichtig sein, um nicht in verbotene Subjektivität abzugleiten: Berührt uns das Schicksal dieser einen Drogenabhängigen, weil sie das Gesicht einer Prinzessin hatte? Würden uns vom Aussehen her benachteiligtere Mitmenschen weniger berühren? Ist es der alte Totentanzmythos vom Tod und der Jungfrau, der hier unterschwellig aufbegehrt? Ist es gar der Archetypus des Gefallenen Engels? Ist es alles zusammen?
Schwer zu sagen. Aber Vorsicht ist angebracht.
Es geht um die Vita dieses Menschen, dieses eine und unwiederholbare Leben, die verpaßten Chancen, die Ohnmacht aller Beteiligten. Wir erleben eine grauenhafte Chronik des Verfalls, in deren Mitte die Protagonistin schon mal bekennt, daß ihr aus dem Spiegel ein Zombie entgegenschaue. Und recht hatte sie. Dem Oberkiefer des schmal gewordenen Gesichtes fielen die Frontzähne heraus, ein verfaulter Incisivus hielt einsam die Stellung. Sie hebt den Rock, um die Einstichstellen am Oberschenkel zu zeigen: eine junge Anfangszwanzigerin hat irgendwo fünf Jahrzehnte verloren – das ist das Gesicht und der Körper einer alten Frau!
Wir sind erschüttert, bis ins Mark getroffen.
Es ist nicht so, daß sie gottverlassen ist auf dieser Welt. Die Mutter hält noch immer zu ihr, gleichwohl geplagt von einer eigenen gescheiterten Beziehung und der Trunksucht, es gibt einige Männer, manche augenscheinlich guten Willens, aber keiner stark genug, die Seele des Mädchens mit Leben zu füllen. Das aber ist es, was sie am meisten sucht: Leben. Was sie findet, ist etwas, was für ein paar Minuten so aussieht wie Glück, und für das sie einen enormen Preis bezahlt – physisch und finanziell.
Behandelnde Ärzte werden während der Reportage vorgestellt. Sie versuchen ihr Bestes, bieten eine Polamidon- Substituierungstherapie an. Vergebens. Das Mädchen kokst weiter.
Wer gibt einer jungen Frau ohne Schulabschluß, dafür aber mit einer Drogenkarriere einen Job, mit dem sie sich wenigstens ein paar Träume erfüllen könnte? Niemand. Was bleibt? Der Strich, das Milieu, und wenn die Reize des Körpers verblüht sind, was unter dem Einfluß der Gifte rasend schnell vonstatten geht, dann bleibt nur noch die Gosse!
Woran also lag es? Warum konnte Tanja kein normales Mädchen, keine normale Frau werden, wie Hunderttausende andere auch?
Das verkrachte Elternhaus? Die insuffiziente Mutter? Das Umfeld? Die mangelnde Hilfe seitens der Behörden, über die sich die weinende Mutter am Schluß beklagt?
Wenigstens letzteres ist Unsinn. Die Mutter in ihrem Schmerz bedarf eines Sündenbockes. Schon klar. Aber wie hätte eine Hilfe über die Gebotene hinaus aussehen können? Zweimal war Tanja im Gefängnis. Dort war sie drogenfrei. Welcher Dämon fuhr in sie, am Tage der Entlassungen freudestrahlend zu verkünden, daß sie sich als erstes wieder einen Schuß setzen wolle? Nach Monaten der Abstinenz!
Tja, also, viele Kriterien werden hier zusammengespielt haben. Aber die Hauptursache des desaströsen Weges sehen wir in Tanja selbst.
Sie muß schon lange vor dem Ausfall ihrer Zähne ein sehr gestörtes Verhältnis zu sich selbst gehabt haben. Leben, das wollte sie. Aber, wie wir seit Goethe wissen: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß!“ Davon wußte Tanja nichts. Selbstdisziplin, harte Arbeit, um sich einem gesteckten Ziel zu nähern, waren ihr völlig fremd.
Sie lebte ihrem Vergnügen und in den Tag hinein. Diese Haltung ließ sie jeden Anschluß verpassen. Am Ende stellte ihr das Leben eine unbarmherzige Quittung aus – und vorbei war’s mit dem Vergnügen. Der Preis war grauenvoll.
Und immer wieder bewegt uns die Frage: Wäre dem Mädchen zu helfen gewesen? Hatte irgendwer zu irgendeinem Zeitpunkt auch nur den Hauch einer Chance? Hätte man mehr für sie tun können?
Wir glauben nicht, daß es so ist. Was getan werden konnte, wurde getan. Von anderen, vielleicht auch von ihr. Die Mutter hielt zu ihr, Mütter tun so etwas mitunter. Und Tanja selbst?
Außenstehende können leicht sagen: Sie hätte doch einfach nur… Wer weiß denn wirklich, wie es aussieht in so einem Menschen, was die noch können oder nicht mehr können?
Wir wollen zu ihren Gunsten annehmen, sie habe ihr Bestes versucht. Am Ende standen Schmerzen, Verfall und Resignation. Am Ende stand der Tod, der große Erlöser. Und vor diesem relativiert sich alles, alles Gewesene. Am Grabe ist alles egal, denn es ist nichts mehr zu ändern.
Man ist geneigt, im Angesicht dieses erschütternden Lebensweges an der Schöpfung zu zweifeln. Aber das wäre ungerecht. Und es wäre falsch! „Eritis sicut Dii, scientes bonum et malum“, sagte einst die kluge Schlange zu unser aller Urmutter Eva. Das bedeutet: „Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ Somit ist uns die Entscheidung anheimgegeben, wie wir auf die Herausforderungen des Lebens antworten wollen. Wir können uns oft nicht aussuchen, ob wir in Reichtum oder Armut leben. Aber wir können, wenn wir das wollen, den Dingen widerstehen, die uns das Leben noch saurer machen, wenn wir uns nur selbst etwas wert sein wollten – egal wer oder was dawider spricht; wenn wir uns bemühen, unser Leben selbst mit Schönem anzufüllen, anstatt auf andere zu vertrauen oder gar den Kopf mit Produkten aus Biologie und Chemie zu betrügen.
Das kurze Leben dieses gefallenen Engels, der vor der Zeit verwelkte, sollte eine Warnung sein. Als solches interpretierte man auch seinen Sinn, als er als wertvolles und preisgekröntes Lehrmaterial klassifiziert wurde. Doch die Mahnung wird verhallen, wie die Botschaft der Holzkreuze, die zu Tausenden die deutschen Straßen säumen. Sie wird verhallen wie die Botschaft dieses Artikels, der sich mit seiner Aussage der Reportage anschließt. Immer wieder werden sich Menschen für den bequemen, unmerklich sanft abfallenden Weg entscheiden, der geradewegs in das Inferno führt. Sie werden sich gegen Anstrengung, Selbstdisziplin und Verantwortung für sich und andere entscheiden, weil diese Werte durch harte und beständige Arbeit, durch Verzicht und Selbstüberwindung errungen und behauptet werden wollen. Und so werden wir weiterhin Zeuge solcher Tragödien sein müssen – wieder und wieder.
Tanja äußerte oft den Wunsch zu sterben. Der Tod erschien ihr sympathischer als ihr Leben. Das klang authentisch. Aber in diesem Augenblick, in dem Moment, in dem man das Leben abzulehnen beginnt, setzt der eigentliche Sterbeprozeß ein. Die Gifte, die Drogen, waren nur noch Beiwerk.
Es ist schade um sie.

4. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2004