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Offner Brief an Seine Excellenz,
den Herrn Bundeskanzler G. Schröder zu Fragen der sogenannten Hartz-IV-Reform
Plaue an der Havel, den 09. Januar
2005
Hochverehrter Herr
Bundeskanzler, Excellenz!
B. St. Fjøllfross
Viele Menschen unseres Landes setzen
sich nach den drastischen Veränderungen, die mit der Umsetzung des
letzten, „Hartz-IV“ genannten Reformpaketes einhergehen, mit
folgenden Fragestellungen auseinander:
1. Bürgern, denen
nach den geltenden Kriterien Leistungen aus der Sozialkasse verwehrt werden,
verlieren ihren kompletten Sozialversicherungsschutz und sind auch nicht
mehr in der Lage, für ihre Altersvorsorge das Geringste zu leisten.
Diese Menschen wissen oft nicht, von welchem Geld sie sich bei den gesetzlichen
Krankenkassen versichern sollen um wenigstens ihre Gesundheitsversorgung
gewährleisten zu können.
2. Vielen der Bedürftigen werden Leistungen zur Grundabsicherung
versagt, weil sie in einer Beziehung leben, deren anderer Partner eventuell
noch über eigenes Einkommen verfügt. Die daraus resultierende
Totalabhängigkeit dürfte in der Folgezeit zu enormen innerfamiliären
Spannungen führen. Mit einem großflächigen Verlust an
sozialen Bindungen ist zu rechnen. Die Höhe der gesellschaftlichen
Hypothek, die der nachwachsenden Generation aus diesem Defizit entsteht,
ist kaum abzuschätzen und wird sich mit Sicherheit auch volkswirtschaftlich
negativ bemerkbar machen.
3. Welche Vermittlungsbemühungen dürfen von Arbeitslosigkeit
Betroffene noch erwarten, wenn Sie mit der Ablehnung ihres Hartz-IV-Antrages
aus der Leistungspflicht der Sozialbehörden entlassen wurden? Hier
besteht der dringende Verdacht, daß diese Menschen auf ein Abstellgleis
geschoben werden, dem zu entrinnen sie bis an ihr Lebensende kaum noch
hoffen dürfen. In solchen Fällen nachhaltig auf Eigeninitiative
zu setzen, wäre lebensfern. Welch Umsatzchancen hätte beispielsweise
ein neu zu gründendes Unternehmen, wenn die Kaufkraft der potentiellen
Konsumenten Tag für Tag mehr im Schwinden begriffen ist?
4. Aus dem Vorgenannten ergibt sich, daß zwar die Arbeitslosigkeit
signifikant sinken wird – jedoch nur in den statistischen Auflistungen.
Keinesfalls aber wird ein reeller Abbau der Arbeitslosigkeit stattfinden,
in dessen Folge ein Anwachsen sozialabgabepflichtiger und besteuerter
Tätigkeit zu verzeichnen wäre. Ebenso wird es mangels Masse
zu keiner Umsatzsteigerung auf dem für die Volkswirtschaft überlebenswichtigen
Binnenmarkt kommen, der allein auf Dauer die Wiederbelebung der ökonomischen
Kraft der Bundesrepublik Deutschland garantieren könnte. Hier besteht
der Verdacht, daß sich die Tätigkeit der Agentur für Arbeit
von ihrem eigentlichen Aufgabengebiet – der Vermittlung von Arbeitsplätzen
– weg, hin zu einem unerträglichen Selbstzweck – nämlich
der Schönung der eigenen Statistik – bewegen wird.
5. Abgesehen davon, daß die sogenannten 1-Euro-Jobs ebenfalls nicht
zur Steigerung des Binnenumsatzes beitragen, von ihnen keine nennenswerten
Steuereinnahmen direkter oder indirekter Natur zu erwarten sind, oder
daß sie das Sozialgefüge der Bundesrepublik zu stärken
in der Lage wären, werden sie von der Mehrheit der Betroffenen solcherart
empfunden, daß sie alleinig dazu dienen, dem Drücken des Lohnniveaus
in der Bundesrepublik auf sogenannten „Dritte-Welt-Standard“
einen Einstieg zu ermöglichen. Dem aber stehen die unverändert
hohen Lebenshaltungskosten gegenüber. Beides zueinander in Beziehung
gesetzt, wird zu einer Massenverelendung und zunehmenden sozialen Spannungen
führen.
6. Es ist unverständlich, daß die Bundesregierung in als prahlerisch
empfundener Weise angibt, die Hilfeleistung für die Opfer der Tsunamikatastrophe
in Südostasien sei die umfangreichste der Welt und astronomische
Summen nennt, von denen jeder einzelne Cent nunmehr dem deutschen Binnenmarkt
fehlt. Unbestritten ist das hilfsbedürftige Elend der Betroffenen
im dortigen Krisengebiete. Unbestritten aber ist auch, daß hierzulande
ab dem ersten Januar 2005 ein erklecklicher Teil der Bevölkerung
von jeglicher Zuwendung abgeschnitten ist. Ein kluges Maßhalten
und Abwägen der realen Möglichkeiten, das dem deutschen Wesen
seit dem Bestehen dieses Volkes fremd zu sein scheint, wäre hier
für alle Beteiligten gewinnbringender gewesen. Es ergibt keinen Sinn,
geopolitisch den alten Wirtschaftssupermacht-Anspruch vorzutragen, wenn
im Innern bereits sämtliche gesellschaftlichen Gefüge auseinanderzubrechen
drohen.
7. Die Notwendigkeit radikaler Reformen wird nicht angezweifelt. Daß
die öffentlichen Kassen der Bundesrepublik, der Länder und Kommunen
leer sind, dürfte nunmehr auch dem letzten Bürger aufgegangen
sein. Die Art und Umsetzung dieser Reformen aber steht in krassem Gegensatz
zu allem, was als vernünftig begriffen wird. Subventionierung von
Arbeitsplätzen für bestimmte Zielgruppen führt nur noch
dazu, daß beinahe ausschließlich diese Zielgruppen eine Anstellung
bekommen, die in der Regel genau solange währt, wie die Unterstützung
für den Arbeitgeber seitens der Agentur anhält. „Normale“
Arbeitslose, die die Kriterien der Förderungswürdigkeit aufgrund
eines bestimmten Alters oder der zu kurzen (!) Dauer der Arbeitslosigkeit
nicht erfüllen, bleiben von vorneherein unvermittelbar. Dieser Zustand
verdient nur die Bezeichnung: pervers! Hier zeigt sich am deutlichsten,
daß das Gegenteil von „Gut“ nicht „Böse“
ist, sondern „Gut gemeint“!
8. Es ist durchaus richtig, Betroffenen erst dann gesellschaftliche Hilfe
zu gewähren, wenn alle privaten Möglichkeiten zur Absicherung
der Existenz ausgeschöpft worden sind. Es ist nachvollziehbar, daß
es schwierig ist, diesbezügliche allgemeinverbindliche Eckpunkte
zu definieren. Allerdings scheint nicht bedacht worden zu sein, daß
angesichts solcher Maßnahmen dem Wirtschaftskreislauf weitaus mehr
Mittel entzogen werden, als zur Grundabsicherung Einzelner benötigt
würde. Will sagen, es werden Sparguthaben und private Anlagen vorsorglich
aufgelöst, respektive umgeschichtet werden, um sie vor einem drohenden
Zugriff zu sichern. Unter breitem Verzicht auf schmale Verzinsung wird
der private Sparstrumpf eine Renaissance erleben. Sparstrumpfgelder aber
stehen keiner konjunkturbelebenden Investitionspolitik mehr zur Verfügung.
9. Sollten die unter Punkt 8 genannten Gelder trotzdem von Ihren Besitzern
weiterhin als Anlageform Verwendung finden, so ist zu befürchten,
daß die Schattenwirtschaft von diesen Einlagen profitiert. Herr
Eichel wird wissen, welche Einnahmeverluste das für sein Ministerium
und damit für den Staatshaushalt bedeutet. Kontrollverlust über
erwirtschaftetes Vermögen aber bedeutet Verlust von Macht und Einfluß.
Das aber beträfe dann unmittelbar die Handlungsfähigkeit der
Bundesregierung. Russische Verhältnisse stehen bei unserer Prognose
Pate: Die vom Volk legitimierte Regierung müßte sich früher
oder später Macht, Kontrolle und Einfluß mit einigen totalitär
bestimmenden Oligarchen teilen. Ein wahres Horrorszenario – auch
der deutschen Geschichte nicht eben unbekannt.
Es herrscht die Ansicht,
daß eine Fortsetzung dieses auf massive Entsolidarisierung fußenden
Kurses unweigerlich zum Kollaps der deutschen Wirtschaft und in Folge
dessen zu einer Handlungsunfähigkeit des Staates betreffs seiner
Fürsorgepflicht für seine der Hilfe bedürftigen Bürger
kommen wird. Daraus wird sich eine Destabilisierung der gesamten Gesellschaft
ergeben, deren Auswirkungen an dieser Stelle wohl keiner weiteren Erklärung
bedürfen. Der Verweis auf den fatalen Ausgang der letzten Landtagswahlen
in Brandenburg und Sachsen sollte genügen
Zu den vorgetragenen
Bedenken bitten wir Sie höflichst, uns aus Ihrer Sicht der Dinge
Auskunft zu erteilen. Uns wäre diesbezüglich an konkreten und
faßbaren Fakten gelegen. Allgemeinposten und schwammige Vertröstungen
auf kommende bessere Zeiten kraft der nunmehr ins Werk gesetzten Reformen
hingegen wären ungeeignet, unser Vertrauen in die vor allem den Menschen
der unteren sozialen Schichten zugute kommenden eingeleiteten Maßnahmen
zu stärken, denen sozialdemokratische Politik doch der Tradition
entsprechend zumeist verpflichtet wäre.
Es verbleibt Hochachtungsvoll
Ihr sehr ergebner
B. St. Fjøllfross
-Chefredakteur des Preußischen Landboten-
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