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Ein Schuß und seine Folgen

Don Miquele Barbagrigia
Mit diesem Artikel will sich der Preußische Landbote keinesfalls zum Fürsprecher gewalttätiger Ehemänner oder durchdrehender Amokläufer profilieren. Worum es einzig geht, ist aufzuzeigen, daß hinter einer Nachricht von fünfzehn Sekunden oft mehr steckt, als deren rein inhaltliche Aussage. Der Artikel will zum Hinterfragen anregen, und zur Nachdenklichkeit. Er sagt dem schnell gefaßten Vorurteil den Kampf an und will aufzeigen, welche Schwierigkeiten es bereitet, zu einem Urteil zu gelangen, welches dem Sachverhalt „gerecht“ wird.

So kam es über den Ticker der Nachrichtenagenturen: Der 45-jährige Gregor M. erschoß in seiner Wohnung seine 33-jährige Ehefrau Kathy sowie deren anwesende Freundin Julia T. Beim Versuch, die Waffe anschließend gegen sich selbst zu richten, wurde er schwerverletzt vom herbeigerufnen SEK überwältigt und in ein Haftkrankenhaus verbracht. Experten gehen davon aus, daß dem Geschäftsmann bei Wiederherstellung seiner Gesundheit eine Anklage wegen Doppelmordes und bei einer Verurteilung lebenslange Haft droht.

Vor Hunderttausenden deutscher Fernsehgeräte und Radioapparaten, hinter ebenso vielen Zeitungen kamen gleichzeitig dieselben Gedanken auf: „Strolch, der verfluchte!“, „Immer wieder diese gewalttätigen Männer, die ihre Aggressionen nicht im Griff haben.“, „Das blühende Leben zweier junger Frauen einfach ausgelöscht.“, „Die armen Eltern“, „Lebenslänglich? Das reicht nicht. Da kommt er ja nach fünfzehn Jahren wieder raus, das Schwein! Rübe runter! Das wäre richtig. Unsere Justiz ist viel zu lasch!“
Und schon hatte das Volk ein Urteil gefällt. Der Mob fragt nicht nach Hintergründen. Das hat er nicht nötig, denn er ist Mob und kein Philosoph. Während letzterer seine Zeit mit Nachdenken vertrödelt, lyncht der Mob schon mal. Scheiß Theoretiker! Der Mob ist mehr praktisch veranlagt!

Was aber war in unserem oberen Fall geschehen?
Der Landbote brachte folgendes in Erfahrung:
Gregor M. war ein eher ruhiger Charakter und wie immer standen die Nachbarn seines Einfamilienhauses in einem Vorstadtbezirk von K. vor einem Rätsel. Unauffällig, hilfsbereit, das Bild der heilen Familie – erfolgreicher Geschäftsmann, eine hübsche und intelligente Tochter, Hund und neuer Caravan vor der Garage, kleines Sportcoupe in derselben, gepflegter Garten, immer ein freundliches Wort für die Nachbarn – unfaßbar das Ganze. Auch die Kameraden des örtlichen Fußballvereins sowie die Brüder der Jagdgemeinschaft und Schützengilde konnten es nicht begreifen, daß ausgerechnet einer von ihnen…
Dabei war sein Leben bisher so geradlinig verlaufen: Abitur in W., Studium der Betriebsökonomie in B., einige Auslandssemester. Anstellung zu guten Konditionen bei einem der größeren mittelständischen Arbeitgeber der Region. Durch Beständigkeit und Fleiß aufgefallen und nach zehn Jahren bereits stellvertretender Geschäftsführer. Von den Kollegen geachtet. 1991 dann die Eheschließung mit Kathy, ein Jahr später kam die Tochter zur Welt. Zu diesem Zeitpunkt war das neue Haus gerade bezugsfertig geworden. Jedes Jahr ging es zweimal in den Urlaub: winters zum Snowboardfahren in die Alpen oder nach Norwegen, sommers nach Bali, Hawaii oder sonstwohin. Alles schien soweit in Ordnung.
Vor allem die lebenslustige Kathy, mit der schien er richtig Glück gehabt zu haben. Sie war so ein richtiger kleiner Stern in der Nachbarschaft. Ganze zwölf Jahre jünger als Gregor, hatte er sie bei einem Event eines befreundeten Veranstalters kennengelernt, auf dem die Pädagogik-Studentin kellnerte, um sich das Bafög aufzubessern.
Wie sie ihrer damals schon besten Freundin Julia, einer Studentin der Jurisprudenz im Referendariat, erzählte, wären solche Veranstaltungen „ideal, mal so’n richtig geilen Typen klarzumachen, dem die Taschen voll hängen.“ Gregors roter Sportwagen vor der Auffahrt war ihr nicht entgangen.
Es bedurfte keiner großen Anstrengungen, ein paar Erkundigungen über den Mann selbst einzuholen. Bei dem stimmte einfach alles: ruhig, ausgeglichen, solide, etabliert, sozial anerkannt und gefestigt, ansprechende Position. Und – das beste war, der Typ war noch ledig und zur Zeit solo. Kathy zog alle Register. Und das war nicht wenig. Es reichte zumindest, Gregor in ihren Bann und in ihre Netze zu ziehen. Die Hochzeit fand knapp zehn Monate später statt.
Das Pädagogikstudium brach Kathy dann ab – ihre Versorgung war gesichert. Sich in den Schulen mit den Gören anderer Leute rumzuplagen, hatte sie keinen Bock und Referatsleiterin im Jugendamt des benachbarten Oberzentrums zu werden, bestand in nächster Zeit ebenfalls wenig Aussicht. Aber warum auch? Sie half halbtags in der Kanzlei ihrer besten Freundin Julia aus. Das brachte ihr einen bescheidnen Hinzuverdienst und überhaupt: was der Gregor nach Hause schleppte, war doch nicht schlecht. Mit dem Kind und dem Haus hatte sie eh schon genug um die Ohren.
So weit hatte sie also das heimliche Ziel ihres Lebens erreicht. Aus dem Prollviertel ihrer Kindheit war sie mit viel Fortune entkommen. Ihr Mann war schon etwas Besseres, wenn auch nicht gerade ein Antonio Banderas. Aber, wenn man sich geschickt anstellte, dann konnte man schon mal das ein oder andere Abenteuer mit so einem richtigen Latino-Lover abziehen – Julia und ihre Loftwohnung, die von den Freundinnen schon mal launig „Spielwiese“ genannt wurde, waren für jedes Alibi zu haben. Sonderlich schwer war es ohnehin nicht, denn Gregor arbeitete im Allgemeinen bis spät in der Firma und war im übrigen häufig auf Dienstreise. Auf Julias Verständnis war Verlaß: Ihr Vater, ein angesehener Regionalpolitiker, hatte schon früh die Reize seiner heranwachsenden Tochter für sich entdeckt und damit in ihr das Bild vom generell bösen Mann erschaffen. Daher auch ihr Wunsch, Rechts- und am besten Staatsanwältin und später Richterin zu werden, um das Kroppzeug, daß den Frauen und Mädchen immer wieder solche Gewalt antat, nach allen Regeln der Kunst durch den Wolf zu drehen. Leider verstarb der Vater frühzeitig in Folge eines Autounfalls und entzog seiner vielfach geschändeten Tochter somit definitiv die Möglichkeit zur Rache.
Nun, Gregor war offensichtlich keiner von diesen Halunken. Er war solide. Er liebte seine kleine Tochter wirklich – und sie liebte ihren Papa. Was an Gregor stören mochte, war, daß ihm ein ausgesprochen hölzerner Charakter innewohnte. Kaum nahbar, staubtrocken und schüchtern eher, mit einem ausgeprägten Hang zur Humorlosigkeit (es gab nichts skurrileres, als wenn Gregor im örtlichen Karnevalsverein die Narrenkappe überzog und gekünstelt aus der Bütt lächelte). Dem Nachtleben und wilden Partys war er völlig abhold, und wenn man von seinem eher mittelmäßigen Aussehen sprach, dann schmeichelte man ihm. Seine Leistungen im Bett beschrieb Kathy ihrer Freundin denerviert als das Gegenteil von befriedigend. Als beide junge Frauen anläßlich einer Sylvesterparty zu vorgerückter Stunde und nach einigen geleerten Bowletöpfen die Gesellschaft mal so richtig anheizen wollten und sich schon halb entkleidet auf einem der Tische recht frivol gegenseitig küßten und befummelten, reagierte Gregor das erst Mal ernsthaft gereizt und verdarb gründlich die Stimmung. Er wollte den Kontakt seiner Ehefrau zu dieser Julia, die mit ihrem Emanzengehabe nie so recht sein Fall gewesen war, gar einschränken. Na, da war er an der richtigen Adresse! Seitdem unterließ Julia nichts, was dem kleinen Miesling und „Büroschimmel“, wie sie ihn nannten, so richtig Verdruß bereitet hätte.
Es traf sich gut, daß Kathy nicht voll berufstätig war. Die Abende verbrachte sie immer seltener zuhause – jetzt, da Tochter Tini auch schon aus dem Gröbsten raus war.
Julias Kanzlei für Scheidungsrecht und Kindschaftsfragen lief ganz formidabel. Es bedurfte nicht sonderlich großer Anstrengungen, ihrer Klientel zu deren „Recht“ zu verhelfen. Jeder Sieg einer ihrer Mandantinnen war auch ein Sieg Julias über ihren verhaßten, bigotten Alten, dem widerlichen Dreckschwein. Und auch über ihre Mutter, die von der ganzen Sauerei gewußt haben mußte und das bis heute ableugnete und statt dessen die Tochter angiftete, warum sie Papas Andenken vor allen Leuten so in den Schmutz zöge. „Mein Gott, die Nachbarn! Du bist nicht mehr mein Kind.“ (Eine Drohung übrigens, die Julias Mutter wahrmachte, nachdem ihre mißbrauchte Tochter mal im Fernsehen im Rahmen einer entsprechenden Sendung die Karten auf den Tisch legte.)
Und so ging das Freundinnen-Pärchen zwei- bis dreimal die Woche auf Schwoof, „Kerle verarschen“, wie sie das nannten. Anheizen, abblitzen lassen, bei Bedarf vernaschen. Hauptsache, die Mädchen blieben obenauf und die Schwanzgesteuerten hatten am nächsten Morgen eine lange Nase. Beim obligatorischen Shoppen am nächsten Tag konnte man so herrlich darüber kichern und lachen. Und wenn ihnen dann erst einer von den Typen über den Weg lief und man so tat, als kennte man den Vogel gar nicht! Eine Mordsgaudi, voll super, eh! Gott, war das zum Piepen. „Hast du die Glotzaugen von dem Typen gesehen?“ Und weiter ging’s ins Solarium, Tattoostudio: Tolles Arschgeweih, eh?“, in die Boutique.
Das Geld, das Kathy über die Ladentische der Einkaufsmeile von K. wandern ließ, das hatte der Dödel Gregor an seinen langen Arbeitstagen verdient. Selbst Schuld! Warum kam er denn nicht mit und half beim Ausgeben? „Ist aber auch besser so, Kathy-Maus. Was wollen wir denn mit dem Langweiler hier? Noch’n Eis bei Luigi? Vielleicht ist wieder der lockige Neffe von Lui da, du weißt doch, der mit denn supertiefen schwarzen Augen… Hi hi hi, ha ha ha!“
War es das, was sich Gregor erträumte, als er an die Familie dachte, der er ein Heim geben wollte? Es wäre schön gewesen für ihn, wenn alle drei abends gemeinsam vor dem Fernseher gesessen hätten, oder auch mal mit Freunden vor dem Kamin. Statt dessen war Kathy immer häufiger auf Achse und wenn sie zuhause war, wurde sie immer unzugänglicher und abweisender. Hinter all dem mußte diese Julia stecken, das verfluchte Teufelsweib. Seine Kathy war doch gar nicht so…
Immer öfter machte er seiner Frau also Vorhaltungen, rechnete ihr auf, was sie in der Woche verpraßt hätte, und woher das Geld eigentlich kam. Daß er sich deshalb die Tage und Nächte im Büro um die Ohren schlug, gerade jetzt, wo der neue Kollege angefangen hätte, von dem man munkelte, er sei ein weitläufiger Verwandter des Chefs. Und ein Harvard-Diplom besitze er zu allem Überfluß auch noch. Und sie habe nichts Besseres zu tun, als ständig mit ihrer Freundin rumzuhängen, die im übrigen einen ganz miesen Einfluß auf sie ausübe. Julia fauchte zurück. Sie blieb ihm nichts schuldig. Ihr Leben lasse sie nicht von einer so trüben Tasse ruinieren, sie lasse sich nicht einsperren, sie sei ihr eigener Herr, und er hätte ihr schon gleich gar keine Vorhaltungen zu machen. Wer er denn sei, er solle sich doch bloß mal im Spiegel ansehen: Haarausfall und Bauchansatz und wann sie den letzten Orgasmus gehabt hätte, könne sie sie nicht mal mehr mit Hilfe ihres Kalenders rekonstruieren. (Sie hatte ihn erst vorgestern – Luigis Neffe hatte den Ruf des feurigen Italieners mit Bravour untermauert.)
Bei der nächsten Auseinandersetzung war Julia mit von der Partie. Weiß der Teufel, warum dieses Weib in seiner Küche rumhängen mußte, als er um zehn Uhr abends todmüde von der Arbeit kam. Der Großauftrag war an die Konkurrenz gegangen, die Außenstände bei ihrem Hauptabnehmer konnten mangels Masse nach dessen Insolvenzantrag in den Schornstein geschrieben werden, der Schnösel hatte alles vorher schon gewußt, die für den morgigen Tag angesetzte Vorstandsbesprechung würde sich zu einem Tribunal wandeln, in dessen Verlauf seine Zukunftsperspektive möglicherweise ernsthaften Schaden nähme. Viel Grund sich auf morgen zu freuen hatte er nicht. Und jetzt auch noch das! Sitzt das Rechtsverdreher-Flittchen einfach in seiner Küche und textet ihn zu! In seinem Haus, in seiner Küche, auf seinen Stühlen!
In seinem Kopf begann es zu brodeln. Wie ein fauliger Brei über dem Feuer kochten all die Blasen in ihm hoch, die seine jahrelange Enttäuschung ausmachten. Diese ganze Fassade, die für die Verwandtschaft, für die Freunde, für die Nachbarn und nicht zuletzt für die eigene Karriere permanent aufrecht erhalten werden mußte, das ewige leidige Gezänk, die unerfüllten Träume und Sehnsüchte, dieses Gefühl, nur noch als zahlender Depp herhalten zu müssen, tagein, tagaus unter hohem Streß zu schuften, während sich die eigene Frau darauf beschränkte, die Freuden des Lebens zu genießen – aber nicht mit ihm, sondern mit anderen. Diese unverdienten Demütigungen über all die Jahre hinweg. Was bildeten sich die beiden Weiber denn eigentlich ein? Das alles hier hatte er doch geschaffen!
Er kam sich ausgenutzt und mißbraucht vor, verhöhnt und bis ins Unerträgliche erniedrigt. Und jetzt palaverte dieses Aas auch noch weiter auf ihn ein, beinahe ohne Punkt und Komma.
„Leviten lesen“, nennt sie das: „Jetzt hör mal zu, Gregor! Deine Machoallüren kannst du dir abschminken. Vielleicht läßt du hier noch den kleinen Haustyrannen raushängen, was? Paß mal auf, wie schnell das geht und Kathy zieht hier aus. Du mußt nicht denken, sie wäre dann obdachlos oder von dir kleinem Würstchen abhängig. Dafür sorge ich schon, oder denkst du, ich lasse meine beste Freundin und ihre Tochter im Regen stehen. Ja, mein Lieber, Tini kommt mit, oder glaubst du im Ernst, die lassen wir allein mit so ’nem Kerl wie dir im Haus? Das könnte dir so passen – mit richtigen Frauen schaffst du’s nicht mehr – aber so ’ne Kleine, Abhängige, die sich nicht traut, den Mund aufzumachen, das ist doch genau das richtige für so’ne bigotten Spießer wie euch. In der Firma den Biedermann mimen und zu Hause Frau und Tochter kujonieren – mit euch Typen habe ich jeden Tag zu tun.“ Julia hatte sich so richtig schön in Fahrt geredet. Manchmal kam er halt in ihr hoch, dieser urwüchsige Drang nach Abrechnung mit diesen ganzen nach ekligem Schweiß stinkenden Scheißkerlen. Es genügte nicht, ihnen vor Gericht das Sorgerecht für ihre Kinder abspenstig zu machen und sie dafür auch noch zahlen zu lassen. Diese Demütigung reichte nicht aus. Sie sollten nicht nur am Zahltag wissen, was für erbärmliche Loser sie waren, diese Kinderficker! Bluten sollten sie, die Schweine! Ja genau, bluten und Schmerzen haben! So wie sie damals, wenn der Papa mit ihr fertig war. So, wie sie aus ihrer kleinen Muschi blutete und wie sie dort Schmerzen hatte – dort und in ihrer Mädchenseele. Und von denen ihre feige, arschlose Mama nichts wissen wollte. Hilf dir selbst, sonst hilft dir niemand! Und: Angriff ist die beste Verteidigung! Und an diesem Waschlappen, der sogar in seiner mickrigen Firma auf einem absteigenden Ast saß, konnte man endlich mal richtig die Sau rauslassen. Julia hatte ganz klar die Oberhand. Sie, die erfolgreiche Rechtsanwältin. Und überhaupt: Was spielte sich der Kerl hier so auf, wenn Kathy ab und zu mal bei ihr übernachtete. Schließlich war sie nicht sein Eigentum! Und das bißchen fremd vögeln – das durfte er vermuten, aber beweisen konnte er gar nichts. Im übrigen, Promiskuität gehörte doch schon fast zum guten Ton. Mußte sie nicht auch ab und an ein bißchen nett zu ihrem Chef sein und vor allem zu dem Typen vom Justizministerium, der sie immer so fatal an Gregor erinnerte. An dem ging schließlich nichts vorbei, wenn sie doch noch den Sprung rüber zur Staatsanwaltschaft schaffen wollte. Da sollte doch wenigstens der armen Kathy noch ein bißchen Spaß vergönnt sein, wenn sie mal die Beine breit machte. Die mußte wenigstens nicht.
In Gregor begann sich unterdessen ein Vulkan Bahn zu brechen. Nur, Julia war zu sehr in Rage, dies zu bemerken. „Halt endlich Dein verdammtes Maul und scher’ dich aus meinem Haus, verfluchte Hexe! Du hast hier genug Unheil gestiftet. Es reicht!“
Jetzt bekam Julia auch noch Rückendeckung von seiner Frau. Demonstrativ stellte sich Kathy vor die Freundin und giftete mit schnarrender Stimme:“ Halt, Freundchen, so redest du nicht mit ihr. Das ist auch mein Haus. Und wenn mir Julia zur Seite steht, dann ist es bald ganz allein meins und du kannst sehen wo du mit deinem Arsch bleibst." Wer weiß, was die schon ausgeheckt hatten. Nun vernahm man auch wieder Julias leise aber bedrohliche Stimme: „Tour mal ganz schnell ab und schalt mal ’n paar Gänge zurück und merk dir, wenn du schon längst zahlende Vergangenheit bist, dann bin ich immer noch Kathys Freundin.“ rief sie dem Stoffel hinterher, der die Küche bereits verlassen hatte.
Alles was ihr dann noch auf der Zunge lag, erstarb ihr wortwörtlich, bevor es die Barriere der Lippen überwunden hatte. Statt Worten quoll ich nur noch Blut aus dem halb geöffneten Mund. Die Kugel des Mannlicher-Gewehrs vom Kaliber 9,0 hatte ihre Luftröhre sowie ihre Arteria Carotis sinister zerfetzt, die zweite Kugel traf Kathy seitlich in den Kopf, als sie völlig entgeistert zu Julia hinstürzte, hysterisch und im Schock schreiend und quiekend wie ein Ferkel auf dem Weg zur Schlachtbank, ohne zu wissen was sie tat, immer wieder kreischend: „Du Sau, du dreckige Drecksau, du verdammte Mördersau!“ Der zweite Schuß aus dem doppelläufigen Gewehr krachte – dann herrschte Ruhe. Julias halbes Gesicht klebte auf der Lagerfeld-Bluse ihrer Freundin, die sie ihr erst letztes Weihnachten von Gregors Geld geschenkt hatte. Mein Gott, hatten die Mädels gelacht über diesen launigen Scherz.
Gregor stand ziemlich bleich in der Küchentür und rutschte dann in eine Hockhaltung am Türrahmen hinunter, das Gewehr zwischen seinen Knien festhaltend. Erst als er wie von ferne die Tür zum Flur zweimal klappen hörte und das neuerliche Geschrei anhob, war ihm klar, daß Tini nach Hause gekommen sein mußte. Er drehte sich nicht um. Es war auch nicht nötig, denn seine Tochter war schon wieder draußen. Er hatte kein Zeitempfinden mehr und so war es schwer abzuschätzen, wie lange es gedauert haben mochte, als er von fern Polizeisirenen hörte. Er wußte nur noch, daß jetzt alles vorbei war.
Irgendwie wankte er rüber ins Wohnzimmer, auf dessen Eichentisch in der Mitte noch immer die halboffene Patronenschachtel lag, Halb mechanisch lud er die schwere Waffe nach, stützte sie gegen das Kinn, versuchte, mit der rechten Hand an den Abzug zu gelangen, was bei seiner Statur und der Länge der Waffe nicht eben einfach war. Gregor war noch verwundert, daß er schon ein Krachen und Klirren vernahm, ohne daß er sich bewußt gewesen wäre, schon geschossen zu haben. Daß das SEK gerade von mehreren Seiten gleichzeitig ins Haus eingedrungen war, davon hatte er nichts mitbekommen. Dann spürte er einen harten Schlag. In diesem Augenblick löste sich der Schuß, Gregor hatte mit dem Finger den Abzug doch noch zu fassen bekommen. Doch der Lauf der Waffe hatte durch den Stoß des SEK-Beamten bereits eine andere Richtung genommen. So zerschmetterte die Patrone Gregors Unterkiefer, Teile des Innenohres mit dem Mastoid genannten Knochen und anschließend die Deckentäfelung. Daß er zu Boden gerissen und seine Hände auf dem Rücken gefesselt wurden, bekam er schon nicht mehr mit.
Das vergitterte Zimmerfenster des Haftkrankenhauses und der an seinem Bett sitzende Polizeibeamte waren das nächste, was er nach einigen Tagen durch das verbleibende rechte Auge sah. Das linke hatten die Ärzte nicht mehr retten können: Teile des ebenfalls durch den Schuß gesplitterten Oberkieferknochens waren dolchartig quer durch die Augenhöhle gedrungen. Er hätte noch Glück gehabt, würde der später an sein Bett tretende Oberarzt sagen.
Was für Glück, stammelte der Rest von Gregors Hirn. Sprechen ging ja nicht.
Währenddessen tagte in der Landeshauptstadt eine Juristenkonferenz unter Teilnahme hochrangiger Beamter aus dem Justizministerium, die unter Berücksichtigung des Familiendramas von K. erneut ein Überdenken der jetzigen Rechtssprechung zugunsten der Opfer forderte und einen Reformstau kritisierte.
Die Boulevardpresse wälzte die blutige Geschichte genüßlich aus und verwies auf ihre „Enthüllungen“, welche einen frustrierten Ehemann zutage förderten, dem das Glück seiner lebenslustigen jungen und bildschönen Frau zunehmend ein Dorn im Auge war. Bilder der verweinten Tini bei der Beerdigung der Mutter und den gramgebeugten Geschwistern der regelrecht hingerichteten erfolgreichen jungen Familienanwältin mit großer Zukunft füllten jeweils eine Doppelseite. Zu sehen auch die Mutter der Juristin ganz in Schwarz: „Meine arme Julia. Dieses Monster, das ihr das angetan hat! Wahrscheinlich wollte sie sich nur gegen ihn zur Wehr setzen. Die Kerle können ja nie genug kriegen. Dabei hat er so eine schöne Frau gehabt. Aber man kennt sie ja! Sind doch alle gleich. Muß es die Freundin auch noch sein. Diese Schweineigel! Auf ewig hinter Gitter!“ Soweit das Interview, daß sie dem Schmuddelblatt gab. Julias Bruder murmelte noch ein „Schwanz ab!“
Immer wieder betonte Fassungslosigkeit. Entsetzen. Pseudofundierte Fragen nach weitergehender Verantwortung und dem dringend überdenkenswerten Umgang mit männlicher Aggressivität im Allgemeinen und solchen Straftätern im Besonderen.
Das Volk aber hatte sein Urteil bereits beschlossen und an den Stammtischen verkündet. Den Ausschlag hatten die lächelnden Photos von Kathy und Julia aus glücklicheren Tagen geliefert. Beide ließen Männerherzen höher schlagen und keiner hätte sie wahrscheinlich von der Bettkante geschubst.
Daß diese beiden Frauen aus mehr bestanden, als aus gespreizten Beinen, interessierte kaum einen Stammtischjuristen. Dieser Fakt wäre auch als durchaus störend empfunden worden. Hier regierte das Reich der Phantasie. Ach, wären die beiden doch zu Lebzeiten bloß so clever gewesen, sich an sie, Heinz, Rüdiger und Klaas zu halten, statt an diesen Schnösel – sie, Heinz, Rüdiger und Klaas hätten es schon verstanden, die „Püppis“ glücklich zu machen. Vor allem im Bett hätten sie’s denen schon besorgt…
Die Frauen sahen hingegen ihre Leidensgenossinnen und schlossen sich dem Urteil ihrer Männer zumeist willig, jedoch unter einem durchaus anderen Sichtwinkel an: „Rübe runter! Schade, daß der Stümper überlebt hat. Die beiden Frauen konnte er erschießen, aber bei sich selbst hatte der versagt – wer weiß, ob der wirklich sterben wollte – am Ende nur einen auf Mitleid machen! Die arme Tochter. Was der wohl mit ihr getrieben hat. Vielleicht wollte die Mutter einfach nicht mehr stillhalten und ihr Kind schützen und endlich auspacken. Dazu die Familienanwältin als Freundin – paßt doch alles zusammen. Die Politiker sollten endlich aufhören zu quatschen…!“

Und die Hobbyrichter sollten endlich anfangen, das vorschnelle Maul zu halten, nachzudenken, wofern sie der Herrgott mit dieser Gabe gesegnet hat, sich erst gründlich zu informieren, statt sinnloses Zeug zu spekulieren, und dann das Evangelium nach Johannes lesen: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ (Joh. 8.7)
Soweit also zu dem Fall Gregor M. aus K.
Wir betonen nochmals. Das ist keine Verteidigungsschrift für einen durchdrehenden Ehemann. Nichts, aber auch gar nichts rechtfertigt den Einsatz von Gewalt und schon gar nicht den Einsatz von todbringenden Waffen. Welchen physischen und seelischen Schaden Gregor auch zurückbehält, die Gesellschaft ist verpflichtet, ihn zumindest wegen Totschlags in zwei Fällen anzuklagen und zu verurteilen. Der Mann ist für das Verlöschen von zwei unwiederbringlichen Leben voll verantwortlich. Da beißt die Maus keinen Faden ab! Niemand ist berechtigt, die Kontrolle über sich zum Schaden anderer zu verlieren. Wer sich provozieren läßt, der übt Selbstjustiz. Das darf keinem Menschen gestattet werden – sonst versinkt die Gesellschaft in Anarchie!
Solche aber, die andere Leute aus Gier berauben und die Lustmörder, die den Kindern auflauern, ihnen Gewalt antun um der eigenen Befriedigung willen und sie hernach umbringen, damit sie den Folgen ihrer Tat entgehen mögen, die soll man – sofern ihnen die Tat absolut zweifelsfrei nachgewiesen wurde – aus der Gesellschaft entfernen für alle Ewigkeit. Desgleichen die Fanatiker und Heilsbringer, die ihr Paradies mit Bomben verkünden. Denn diese haben die Tür mit ihrem Verbrechen hinter sich zugeschlagen. Sie haben ihre Menschenrechte verwirkt und sollen gerade so am Leben erhalten werden, bis es dem Allmächtigen gefällt, uns von dem Lumpenpack zu erlösen, daß er uns in SEINER ewigen und unergründlichen Weisheit auf den Hals gesandt hat. Da ist auch unserer Haltung, die Dinge zu hinterfragen, eine Grenze gesetzt.
Wer sich um solche Strolche melancholisch macht, der degeneriert zum Komplizen dieser Kriminellen – und wenn er seine Humanitätsduselei wie ein Feldzeichen vor sich her trägt.
Das sei deutlich formuliert!

4. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2004