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Verbrecherischer Menschenhandel

Don Miquele Barbagrigia
Jeden Abend, pünktlich um halb Acht Uhr, begann die Aktuelle Kamera, die offizielle Nachrichtensendung des Fernsehens der DDR, das Volk mit Neuigkeiten und Agitation zu versorgen. Eigentlich verkündeten Angelika Unterlauf, Klaus Feldmann und ihre Kollegen nur Propaganda. Wo diese nicht offen zutage trat, da gab sie zumindest den Rahmen für die Berichterstattung vor.
Es war immer dasselbe: Die friedliebenden Völker scharten sich unablässig um die ihnen voranschreitende Sowjetunion, die Imperialisten heckten unentwegt finstere Pläne aus, um die Menschheit zu knechten und verloren nur ab und an ihre böse Fratze, wenn sie dem K.u.K. Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Vorsitzenden des Politbüros des ZK der SED und Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrats der DDR, Gen. Erich Honecker, so mal zwischen durch die Ehrendoktorwürde verliehen, wie seinerzeit anläßlich eines Tokio-Besuches des besagten Dachdeckers und Gestapo-Kalfaktors Honecker aus Neunkirchen/Saar.
Nach den Auslandsnachrichten und der Hofberichterstattung ging man routinemäßig zu den Erfolgsmeldungen aus dem Inland über und leierte endlose Grußadressen aus allen Teilen der werktätigen Bevölkerung an der Genossen Honecker herunter, in denen immer wieder neue Übererfüllungen des Fünfjahrplanes beschworen wurden.
Dreißig Minuten hohles Geseiere – für jeden Schlaflosen war diese halbe Stunde besser als das hochpotente Schlafmittel Rudotel. Nur ab und an merkte man auf: Was war das eben? Ah, ja – „die Volkspolizei konnte in Zusammenarbeit mit den Sicherheits-Organen den Georg K. aus Westberlin dingfest machen, der sich im Auftrag einer kriminellen Menschenhändlerbande schwer gegen die Gesetze der Deutschen Demokratischen Republik vergangen hat. Ihm droht nun eine mehrjährige Zuchthausstrafe.“
„Verbrecherischer Menschenhandel“, „kriminelle Menschenhändlerbande“ – was für Vokabeln! Die Betonung liegt auf „verbrecherisch“, „kriminell“. Denn was die DDR-Oberen seit vielen Jahren trieben, nämlich ihre angeblich nicht existierenden politischen Gefangenen gegen Westmark in die Bundesrepublik Deutschland zu entlassen – das war natürlich keineswegs verbrecherisch! Wie auch? So etwas gab es in der Lesart der DDR-Propaganda auch gar nicht. Jedenfalls nicht auf dem Schreibtisch von Angelika Unterlauf.
Georg K. hatte den Republikfluchtwilligen Heiner Z. und dessen Verlobte Yvonne P., beide aus Michendorf bei Potsdam, im Kofferraum seines Opel-Kapitäns versteckt. Eigentlich war es geplant, die beiden auf dem Westberliner Rasthof Dreilinden heraus und in die Freiheit zu entlassen.
Doch die Stasi machte dem Trio einen Strich durch die Rechnung.
Eigentlich hätte es kurios anmuten sollen, daß das Brautpaar aus dem Hort der sozialen Sicherheit und des Friedens zu den verfaulenden und untergehenden Kapitalisten entfleuchen wollte. Normal wäre doch gewesen, daß Orje K. finstere Agenten durch den antifaschistischen Schutzwall zum Zwecke der Sabotage ins Arbeiter- und- Bauern- Paradies einzuschleppen versucht. Dieser Widerspruch aber wurde weder von der spröden Angelika verlesen, noch gab es über den wahren Sachverhalt bei der andächtig lauschenden Bevölkerung irgendeinen Zweifel. Keiner sagte was, alle wußten Bescheid! Herrlich war’s!
Also, dem Menschenhändler K. wurde vor dem ersten Strafsenat des Stadtbezirks Lichtenberg der Prozeß gemacht. „Menschenhändler, Menschenhändler…“ Das lehnt sich begrifflich irgendwie so ganz leise und aalglatt an den antiken Berufsstand des Sklavenhändlers an. Ein Mensch als Ware – pfui Teufel!
Historisch gesehen gehörte diese Perfidie in die vom Sozialismus für alle Zeiten überwunden geglaubten Epochen der antiken Sklavenhalterordnung und der feudalen Leibeigenenwirtschaft.
Nur die abgeschmackten Imperialisten konnten sich, aller wohlanständig-bürgerlichen Fassade zum Trotz, nicht so recht von diesem moralischen Kardinalübel trennen. Wie auch? Waren Menschen in den kapitalistischen Gesellschaftsordnungen doch nie etwas anderes als austauschbare Produktivkräfte, die es auszubeuten und hernach wegzuwerfen galt.
Als 1949 die Arbeitersonne über Mitteldeutschland aufging, da war ein für alle Mal Schluß mit diesem Spuk!
Wirklich? Nee, meine Lieben – da fing er erst an!
Von den neuen, Moskautreuen Machthabern, die mit schwarz-rot-goldener Kehle Demokratie trällerten, aber der Maxime des Genossen Ulbricht folgend, vom ersten Augenblick alles fest in der Hand behalten wollten, waren nicht allzu viele Deutsche zwischen Elbe und Oder zu begeistern. Repressive Unterdrückung, Mangelwirtschaft, Normentreiberei, Zwangskollektivierung, endlose Phrasendrescherei, die immer wieder auf kommende goldene Zeiten verwies, während die Gegenwart immer erbärmlicher wurde, Denunziation und Bespitzelung wie in den zwölf gehabten braunen Jahren zuvor und ein paar Groschen wertlosen Geldes im Portemonaise – das war nur für die Hundertprozentigen verlockend. Der Rest fluchte, entdeckte einen bequemen Opportunismus für sich oder verkroch sich auf seine Schrebergärten. Ein paar aber versuchten, nach dem Mauerbau mit Leuten wir Orje K. die ausgeklügelten Sperren des antifaschistischen Schutzwalls zu überwinden. Raus, nur raus aus diesem verlogenen Land!
Den Kommunisten vorher noch sagen, daß man die Schnauze gestrichen voll hatte von ihrem drögen Menschheitserlösungsgefasel? Das bedeutete zwangsläufig Kittchen. Staatsgefährdende Hetze im Dienst des Klassenfeinds… Wer beim Fluchtversuch erwischt wurde, landete ebenfalls hinter Gittern. Da war es also besser, man hielt das Maul und versuchte ohne Ankündigung zu entweichen. Hatte man sich vorher zu weit aus dem Fenster gelehnt, so konnte man gewiß sein, bereits eine Nummer beim Staatssicherheitsdienst zu besitzen und somit besonderer Aufmerksamkeit und Fürsorge teilhaftig zu werden. Dann war an Flucht überhaupt nicht mehr zu denken.
Nun ja. Heiner und Yvonne hatten sich also auf dem Transitparkplatz Michendorf etwas zu prasslig angestellt. Über ihren Dilettantismus konnten sie jetzt getrennt nachdenken – Heiner in Bautzen II, Yvonne in Hoheneck.
Orje brummte derweil in Brandenburg-Görden.
Doch Georg K.s Aktion war auch im Westen nicht unbemerkt geblieben. Quasi als Rückversicherung für seine Heldentat hatte Georg K. veranlaßt, daß man seinen und die Namen seiner illegalen Passagiere der Bundeserfassungsstelle übermittelte, die bekannte Fälle staatlichen Unrechts in der Zone archivierte.
Das hatte zur Folge, daß diese Namen bei einem der vielen offiziellen und inoffiziellen Gespräche zwischen den staatlichen Unterhändlern Ost- und Westdeutschlands auf den Tisch kamen.
Die Bundesrepublik hätte diese Freiheitsliebenden gerne aus den ostdeutschen Zuchthäusern herausgeholt. Da traf es sich gut, daß die DDR aufgrund ihrer Mißwirtschaft sehr an Devisen interessiert war. Der feindliche Bruder am Rhein hingegen hatte davon in Hülle und Fülle. Und so kam man ins Geschäft.
Die Sozialisten verhökerten ihre Staatsfeinde gegen D-Mark! Menschenhandel? Zweifelsohne.
An diesem Punkte erhebt sich die Frage, ob die Entegegennahme des ersten Couverts mit Barem am Bahnhof Friedrichstraße durch einen Stasi-Major den Zeitpunkt des moralischen Banquerotts der DDR und ihrer staatstragenden Idee markiert.
Das kann man getrost verneinen. Ihre Phantastereien betreffs globaler Menschheitserlösung hatten die weltweiten Kommunisten schon lange vorher verraten, als sie nämlich die ersten Machtpositionen besetzten. Ab da waren sie ganz gewöhnliche Thronräuber, die von der Menschheitsgeschichte im Dutzend angeboten werden. Schon die stalinistisch geführten Interbrigaden unter Spaniens Himmel waren von verbrecherischen Charakteren und machtgeilen Funktionären durchseucht. Der Rest sind fromme Märchen, geschaffen, um dem Bedürfnis pubertierender Pioniere nach Heldensagen Rechnung zu tragen.
Dieser Bürgerverramsch jedoch, der später mit richtigen Reisebussen organisiert wurde, und die stets klamme Staatskasse der Sowjetzone mit ein paar harten Millionen auffüllte, definiert etwas anderes: Es ist das offen ersichtliche Ende jeder Glaubwürdigkeit einer Idee, die einst unter dem hehren Ziel angetreten war, den Elenden der Welt ein menschenwürdiges Erdendasein zu erkämpfen.
In kommunistischer Mißwirtschaft ersaufende Bonzen, die sich bestenfalls an getürkten Erfolgsmeldungen delektieren konnten, griffen nach jedem rettenden Strohhalm. Und retten konnte sie nur der Dollar des Klassenfeindes. Der Große Bruder, die unbesieglichbare Sowjetunion wollte gleichfalls für ihr Öl und Gas Geld sehen, auf das man beißen konnte, ohne daß es sich verbog.
War es auch ein „verbrecherischer Menschenhandel“? Ja, was denn sonst! So verbrecherisch, wie sich die Staatsschurken verhielten, als sie erfolgreichen Antiquitätenhändlern aberwitzige Steuerhinterziehungsprozesse an den Hals drechselten, damit sich die KoKo des Stasiobersten Schalck-Golodkowski (Kommerzielle Koordinierung – ein Devisen- Wirtschaftsunternehmen des Ministeriums der Staatssicherheit) in den Besitz der armen Teufel setzen konnte. Wo tauchten die beschlagnahmten Güter wieder auf`? Na? Na? Natürlich: auf westlichen Kunstauktionen und in westlichen Antiquariaten. Ebenso wurden volkseigene Schätze aus den Schlössern verscherbelt, die nach 1945 von der Arbeiter- und Bauernmacht konfisziert wurden.
Und jetzt, da der alte Trödel rarer wurde, besann man sich auf einen nachwachsenden Rohstoff – den menschlichen Staatsfeind!
Wenn dann wirklich mal die Rede auf diese Praktiken kam, die allem sozialistischen Verständnis von Menschenwürde Hohn sprachen, dann waren die Kommunisten um keine Ausrede verlegen. Im Gegenteil. Diese Banditen hätten den Teufel mürbe palavert! Das war so ziemlich das Einzige, was sie meisterhaft beherrschten.
Die rote Lesart war die Folgende (natürlich nur unter dem Ladentisch, wir erinnern uns - offiziell gab es ja so etwas nicht!): Da sind ein paar Querulanten und Staatsfeinde die wir(!) auch noch zu unseren Lasten in unseren Strafanstalten beköstigen müssen. Die wollen raus. Und der Westen will dieses Ungeziefer haben und ist sogar bereit, dafür mit einer Währung zu bezahlen, mit der man auf dem Weltmarkt Rohstoffe einhandeln kann. Und wir(!) sind ja ein so rohstoffarmes Land. Das bißchen Braunkohle… Wir(!) brauchen doch die Rohstoffe, also brauchen wir(!) Devisen. (Warum eigentlich waren die Alu-Chips der DDR-Notenbank nichts wert bei den um den Sozialismus ringenden Völkern der Welt? Ah ja, die Rohstoffquellen waren noch immer in den Händen der Feinde der Menschheit. Und bis zur Weltrevolution mußte man die wohl oder übel in deren Währung bezahlen. Welch ein Jammer. Da schützte einen nicht mal die unverbrüchliche, brüderliche und ewige Freundschaft zur Sowjetunion. Ganz im Gegenteil – diese Bruderliebe gab der Zone noch den Rest!)
Und so wußten die Streiter für den Frieden, die auf der historischen Gewinnerseite im Kampf um die Völkerverständigung und die Zukunft standen, aber auf dem Weltmarkt die Fraktion der Dauerverlierer stellten, auch diesen stinkenden Unrat schön und duftend zu reden. Zumindest vor dem eigenen Publikum, welches aufgrund eines vier Meter hohen antifaschistischen Schutzwalls gar nicht anders konnte, als zuzuhören.
Heute, nachdem auch diese Ära für die Ewigkeit in den Äonen der schwindenden Bedeutung versunken ist, heute wird diese Epoche ab und an noch mal aufgewärmt. Für die Zeitgenossen zur Erinnerung – für die Nachwachsenden zur mahnenden Belehrung.
Letzteres geht todsicher in die Hose. Die breite Masse ist nun mal nicht bereit, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen.
Was bleibt, ist die fatalistische Bestätigung des spinozistischen Theorems: Recht hat, wer die Macht hat. Solange die Roten am Ruder saßen, war Georg K. aus Westberlin ein verbrecherischer Menschenhändler und die Partei- und Staatsführung der DDR ein liebender Übervater, dem nichts mehr am Herzen lag, als seinen Bürgern ab und an mal brasilianischen Hochlandkaffee, Bananen und für einige Getreue auch mal einen Golf oder 323er Mazda angedeihen zu lassen.
Die Macht der Fürsorglichen hat sich erledigt. Orje ist jetzt auch zwischen Kap Arkona und dem Vogtland das, was er im Westen schon immer war – ein vergessener Held, der Leben und Freiheit wagte, um den geknechteten Landsleuten aus der Zone die Flucht zu ermöglichen. Jetzt sind die staatlichen Menschenhändler von damals Verbrecher und fristen den Rest ihrer jämmerlichen Existenz als bemitleidenswerte Rentner, Neu-Ausbeuter oder Wachschützer.
Die Freigekauften haben sich mittlerweile auf das ganze Bundesgebiet verteilt und werden sich in ihren albtraumbehafteten Nächten oftmals nur eine Frage stellen: „Warum das alles? War es das nun wert?“
Es ist schwer zu sagen, ob es im Enteferntesten gerechtfertigt ist, die einmalige und unwiederbringliche Lebenszeit eines Einzelnen gegen das Allgemeinwohl aufzurechnen. Wenn man aber so vermessen sein will, dann erfüllen solche Schicksale eine ähnliche Funktion wie die Aussage des Buches „Das Siebte Kreuz“ der Anna Seghers. Sowohl die Durchgekommenen als auch die Gescheiterten, die später von verlogenen und verkommenen Repräsentanten eines auf Dauer funktionsuntüchtigen Gesellschaftssystems wie Stückgut verschachert wurden, dokumentierten das historische Scheitern der Roten schon zu einem Zeitpunkt, als diese sich noch fest im Sattel wähnten.
Ein Land, dem die Leute zu entfliehen suchen, hat keine moralisch vertretbare Existenzberechtigung.
Da die diesen Staat tragenden Funktionäre ihr Dasein nun aber mal ohne Rückversicherung auf diese Utopie ausgerichtet hatten, mußten sie zwangsläufig den Salto rückwärts drehen, bis hinunter zu der ein für alle mal überwunden geglaubten archaischen Ordnung der Sklavenhändler und -halter.
War eine Alternative denkbar? Für kurze Zeit nur hätte es möglicherweise eine gegeben. Saschka Dubcek hatte im Prager Frühling versucht, einen progressiven Weg zu beschreiten. „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ nannte er sein Experiment. Dieser Sozialismus hätte seine oppositionellen Landeskinder sicher nicht verschachert, wie ein deutscher Duodezfürst zur Zeit des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges.
Nur, auch dieser Sozialismus hätte nicht lange existiert. Denn der Mensch ist nun mal geschaffen danach zu streben, sein Dasein möglichst auf Kosten seiner Mitmenschen bequem zu gestalten. Dieser Drang impliziert ein für alle Mal die Ausbeutung und damit kommen wir nach jeder noch so gut gemeinten Revolution wieder hin zu einer Form des Zusammenlebens, die ein „Oben“ und ein „Unten“ festlegt. Die Russen hatten das erkannt und im Interesse einer Prolongierung des eigenen Überlebens gewaltsam interveniert.
Doch auch ein militärisches Eingreifen kann den Lauf der Dinge nicht aufhalten. Denn die Kommunisten tendierten allen Lippenbekenntnissen und Phrasen zum Trotz von Anfang an in die Richtung des Erhebens Einiger über die breite Masse. Die Nomenklatura richtete sich ein und verschaffte sich Privilegien, die der gemeinen Bevölkerung vorenthalten wurden. Das ist der Anfang vom Ende. Verbrecherischer Menschenhandel in staatlichem Auftrag ist dann das materialisierte Eingeständnis der moralischen wie ökonomischen Insolvenz.
Es hilft wenig, elegisch über die Schlechtigkeit dieser Welt und ihrer zweibeinigen Bewohner zu jammern. Besser ist es, Mechanismen zu ersinnen und zu installieren, die dem Sumpf des „Verbrecherischen Menschenhandels“ effektiv das faulige und trübe Wasser abgraben. Ein Schritt hin zu einer offenen Informationsgesellschaft scheint dabei nicht der verkehrteste Weg zu sein. Wenn es dann noch gelingt, eine kriminelle Menschenhändlerbande namens Politbüro hinter Gitter zu bringen, dann ist das Unrecht der Vergangenheit wenigstens ansatzweise korrigiert worden.

4. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2005