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Brotlose Jungakademiker

Jules-Francois Savinien Lemarcou
Wahrscheinlich haben sie sich mit ihrer aberwitzigen Paukerei die Jugendjahre um die Ohren gehauen. Wir wollen für sie hoffen, daß ihnen das Lernen wenigstens Freude gemacht hat. Schön muß es gewesen sein, wenn sie vor den Ferien ihre exzellenten Zeugnisse nach Hause brachten, Oma und Opa ihnen einen Fünfzig-Mark-Schein Zeugnisprämie in die Hand drückten und dabei mit einem strahlenden Lächeln sagten: „Brav Kind! Wir sind ja so stolz auf Dich. Mach weiter so! Aus Dir wird noch ’was!“
Und sie machten weiter, legten ein Einser Abitur hin, gingen zur Universität, schlossen auch diese mit Prädikat ab, belegten Auslandssemester, um ihren Kommilitonen etwas voraus zu haben, lernten drei Fremdsprachen sprechen wie ihre Muttersprache, wurden elitäre Asse.
Dann bekamen Sie nach all den Jahren endlich die Abschluß- und Zulassungsurkunden überreicht, Sektflaschen wurden geköpft, der Schampus floß in Strömen, Schulterklopfen: „Na siehst du, Kind, endlich. Hast es geschafft. In den letzten Ferien fährst du noch mal schön an die Algarve, oder vierzehn Tage nach London und dann geht’s los mit dem Geldverdienen. Und wenn ihr dann heiratet, dann könnt ihr auch gleich ein schönes, großes Haus bauen. Geld genug habt ihr ja dann in euren Positionen…“
Nee, ham se nich! 27 Lenze sind se, hochqualifiziert, arbeiten als Personalchefs und Projektmanager und – kriegen keinen Pfennig!
Es ist das vierte Praktikum nach Beendigung des Studiums – jedes ging so ein Jahr, eines wurde sogar mit 750,- Euro Brutto(!!!) vergütet, eines brachte nur noch ein Drittel dessen und die letzten beiden Jahre mußten die Eltern wieder ran.
Arbeitslosengeld? Bewahre! Die Jungakademiker konnten ja noch nie etwas einzahlen. Wenn die Alten nicht mehr könnten, na dann wäre das Sozialamt gefordert.
Aber das würde sich in ihren Biographien sehr, sehr schlecht ausnehmen. Sie wären erschossen. Und das wissen die Bosse. Die Universitätsabgänger müssen ihre Zeit mit harter Arbeit verbringen. Und sie müssen ihr Bestes geben, damit sie im nächstjährigen Rennen um einen weiteren Praktikumsplatz wieder eine Chance haben. Vielleicht klappt es ja doch irgendwann und ein Chef sagt: „Ich übernehme Sie mit einem Festvertrag!“
Das ist nun ihre Hoffnung. Eine wahnwitzige Hoffnung, die sie von Praktikum zu Praktikum hangeln läßt. Sie leisten eine Arbeit, für die ein Chef eine festangestellte Fachkraft mit zig Tausend Euro im Monat entlohnen müßte. Gespart! Tendenz zunehmend.
Was ist das? Wir fragen, was ist das? Was ist los in diesem Land?
Solche Kalkulation wird integraler Bestandteil betrieblicher Planungen. Wieder das alte Lied: Manche Gierknochen sehen darin einen Wettbewerbsvorteil, andere müssen nachziehen, ob sie wollen oder nicht – denn am Ende siegt meist der Bewerber am Markt, der am billigsten anbieten kann – und wo läßt sich am effektivsten sparen, wenn nicht am Personal?
Lange Zeit hat es nur die armen Teufel getroffen, die kaum mehr als ihren Namen fehlerfrei schreiben konnten. Das ist die Bevölkerungsgruppe, die sich traditionell am wenigsten zur Wehr setzen kann.
Jetzt erwischt es schon die geistige Elite. Und das deutsche Volk ist machtlos?
Rekapitulieren wir noch einmal das ABC der Wirtschaft: Ohne Verdiener kein Konsum. Ohne Konsum keine Binnennachfrage. Ohne Verdiener und damit Konsumenten also auch kein Steueraufkommen. Ohne Steueraufkommen kann kein Staat mehr seinen Verpflichtungen gegenüber seinen Bürgern nachkommen.
Anarchie und wirtschaftliches Chaos ist die absolut zwangsläufige Folge. Wer dazu mehr erzählt, lügt oder will vom Kern der Dinge durch schwafelndes Gewäsch ablenken.
Dieses Unwesen grassiert. Wurden erst in vielen deutschen Krankenhäusern AiPler bis auf die Knochen ausgebeutet, so sind es jetzt gelernte PR-Manager, Betriebswirtschaftler, Projekt- und Werbemanager – die zukünftigen „Leistungsträger der Gesellschaft“.
Wo steuert eine solche Entwicklung hin?
Bis vor kurzem noch wurde die Parole ausgegeben, Leistung müsse sich lohnen. Nun lohnt sie sich nicht mehr. Die, die noch Geld und Mittel haben, um Arbeit zu bezahlen, wollen diese umsonst. Wie die jungen Menschen leben sollen und wovon, das ist ihnen scheißegal.
Und die Eltern und Großeltern, die solange voller Stolz auf den Nachwuchs geblickt haben. Sie werden auf kaltem Wege um die Früchte ihrer Lebensarbeit gebracht – denn sie stehen in der Pflicht, für den einkommenslosen Nachwuchs zu sorgen.
Was haben sie sich vorzuwerfen? Haben sie ihre Söhne und Töchter vernachlässigt, ihnen keine Nestwärme gegeben, sie nicht gefördert?
Welcher Anreiz besteht noch für die Generation, die jetzt die Schulbänke drückt?
Resignation wird wie ein Teppich über Deutschland gebreitet.
So aberwitzig dumm kann doch kein Volk sein, daß es so blind in seinen Untergang läuft. Doch, das deutsche Volk kann es – es hat Übung darin!
Dieses Volk kennt kein Erbarmen mit sich selbst. Es ist sich selbst nicht grün. Es hat keine Skrupel so mit sich selbst umzugehen. Es ist offenkundig, daß die Leute, die sich fest im Sattel wähnen, mehr und mehr Achtung vor dem schnellen Dollar bekunden als vor ihrem Mitmenschen.
Diese Tendenz ist an Fatalität nicht mehr zu überbieten.
Es hat den Anschein, daß sich die gesellschaftliche Entwicklung umkehrt und rasend schnell rückwärts verläuft, hin zu einem urzeitlichen Anarchismus. Nachdem wir in Mitteldeutschland den Manchester-Kapitalismus kennengelernt haben, der doch seit hundertundfünfzig Jahren überwunden schien, machten wir gesamtdeutsch eine Phase modernen Feudalismus durch mit richtigen Festungen wie Großkonzernen und –betrieben, (Wirtschafts-) Fürsten und deren typischem Gebaren, (wir erinnern an der Mannesmann-Prozeß), und jetzt steuern wir mit vollen Segeln auf eine neuzeitliche Form der Sklavenhaltergesellschaft zu.
Doch halt! Wir haben diese Epoche schon fast wieder hinter uns gelassen, denn die Sklaven wurden von ihren Besitzern wenigstens am Leben erhalten. Heute sind sie austauschbares Leistungsmaterial, von dem der Markt überschwemmt ist.
Aber das ist eine Sackgasse! Es ist eine aberwitzige Irrfahrt in einen Anachronismus, der binnen kürzester Zeit alle Prinzipien von Ethik und Kultur hinwegspülen wird. Er wird die teuer gewonnenen Errungenschaften von Tausenden Jahren Zivilisationsgeschichte hinwegschmelzen, wie eine dünne Eisdecke unter der Frühlingssonne. Und was werden wir zu Gesicht bekommen? Die bösartige Fratze eines nackten Raubaffen, der immerfort brüllt: „Ich, ich, ich!“ Den das Schicksal seines Nächsten nur unter zwei Aspekten interessant sein wird: Kann er mir gefährlich werden oder kann ich ihn ausbeuten!“
In vielen armen Ländern dieser Welt ist diese apokalyptische Vision längst Alltag. Die Favelas von Rio und Manila sind von ihr geprägt.
Die sogenannte Erste Welt hat viel zu diesen Zuständen beigetragen. Sie lebte erbarmungslos auf Kosten des Elends und der Armut von Milliarden von Menschen. Jetzt kehrt sich diese Armut zu jenen, die sie einst säten, so, wie der Kriegsterror einst zu Deutschland zurückkehrte, dem Land, das ihn anderen Völkern brachte.
Wir haben in den Tag hinein gelebt, wie die Bewohner des sagenhaften Vineta. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie es uns morgen ergehen könnte, wenn die sprudelnden Quellen des Reichtums versiegen.
Es ist noch Zeit zu einem radikalen Umdenken im Angesicht einer drohenden Gefahr, von dessen immensen Ausmaßen sich die deutsche Bevölkerung noch gar kein Bild zu machen in der Lage ist.
Aber es wäre nicht das Deutsche Volk, wenn es diese letzte Gelegenheit beim Schopfe griffe. Ein gesundes, gesamtgesellschaftliches Gefühl von Solidarität und einem anständigem Miteinander würde dieses Land eventuell noch einmal fit machen für den globalen Wettbewerb. Doch das sind Luftschlösser – nur Phantasten können noch hoffen.

4. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2004