zurück
zum Landboten
|
Hartz IV und die Reporterin
B.
St. Fjøllfross
Ein Hamburger Abendblatt hat eine gute Idee: Sie schicken eine junge Reporterin
ihres Hauses im August des Jahres 2004 auf eine Expedition in die Abgründe
von Hartz IV und lassen die junge Dame parallel zu ihren Erfahrungen in
Fortsetzungskolumnen berichten.
Dieses Experiment halten
wir in mehrfacher Hinsicht für gelungen: Zeigt es doch zum Ersten,
daß es wirklich jeden treffen kann. Wer sich heute noch gut situiert
wähnt, kann morgen schon vor dem Abgrund stehen. Als Arbeitslose
auf Zeit nämlich fand sich die Frau Reporterin natürlich auch
pflichtgemäß beim Arbeitsamt ein, wo sie alsbald erfuhr, daß
es im ganzen Großraum Hamburg keine journalistische Stelle zu besetzen
gab. Wäre also ihr Arbeitsplatz realiter in Gefahr, sie hätte
es schwer in der Hansestadt. Und wie sicher ist schon das Leben in einem
kleinen, lokalen Blatt? Binnen kurzem fand sie sich in einer Currybude
wieder, für 400 Euro Brutto monatlich! Genial, was? Der Abstieg einer
studierten Fachkraft, die sich plötzlich von proletenhaften Fernfahrern
den zugegebenermaßen hübschen Hintern tätscheln lassen
muß, während sie deren Speisereste beräumt. Schöne,
neue Welt! Es treibt einem die Tränen der Wut in die Augen!
Die junge Dame, ausgestattet mit dem jämmerlichen Kontingent von
345 Euro im Monat, mußte von einem Tag auf den anderen lernen, ihren
gesamten Lebensstandard radikal in den Keller zu fahren. Billigangebote,
kein Freizeitvergnügen, ja selbst die S-Bahn-Benutzung wird zum teuren
Vergnügen, „…so, wie man früher Taxi fuhr“,
wie sie erklärte. Was nur am Rande erwähnt wurde, aber wohl
die unvermeidliche Folge des sozialen Abstiegs ist, sehen wir in der den
Absturz begleitenden gesellschaftlichen Isolation. Alte Beziehungen brechen
weg, Einsamkeit droht. Erstarkende Solidarität? Das wird lange brauchen,
ehe sich ein solcher Bewußtseinswandel in der Bevölkerung durchsetzt.
Zunächst heißt es: Einer gegen alle und Jeder gegen Jeden!
Ich habe Arbeit, du nicht? Ja, Pech mein Lieber. Dann bist du jetzt wohl
kaum noch der rechte Umgang für mich…
Sie berichtet von aberwitzigen Seminaren, deren Sinn eher in einer Beschäftigungstherapie
der hoffentlich noch festangestellten Seminarleiter zu bestehen scheint.
Sie erzählt von Armenküchen und Leuten, die sie auf den Fluren
der „Agentur für Arbeit“ kennenlernt. Leuten, die resigniert
haben, die von heut auf morgen ins Bodenlose gefallen sind, eine Kündigung
aus wirtschaftlichen Gründen und aus war’s! Seither Bewerbungen
über Bewerbungen, gefolgt von Absagen über Absagen. Und langsam
wir uns klar, daß die Zeiten der Wirtschaftsoase Deutschland ein
für alle mal vorbei sind. Diese Menschen, mit denen sie die Wartebank
des Arbeitsamtes teilt, sind zumeist keine Berufsasozialen. Das sind oft
Männer und Frauen, die gestern noch einen gutdotierten und qualifizierten
Job ausgefüllt hatten.
Wo sind jetzt die Schreihälse, die noch immer fordern, Deutschland
müsse zu einem Einwanderungsland werden, weil seine Bevölkerung
schrumpfe? Für die zur Arbeit Fähigen, die schon hier leben,
ob Deutscher, Türke, Sorbe oder Asylbewerber ist kein Platz mehr:
an den gesellschaftlichen Rand werden sie gedrängt und dort noch
gerade eben geduldet, am Existenzminimum gehalten, egal, was sie vorher
für diese Gesellschaft geleistet hatten. Ist es verwunderlich, daß
Nationalsozialisten mit darauf zielenden Phrasen erbarmungslos punkten?
Die Reportage zeigt, wenn man tiefer schaut, was die Hartz-„Reformen“
wirklich sind: unausgegorene Machwerke, die den gesellschaftlichen Verfall
rasant beschleunigen werden, denn der alles entscheidende Binnenmarkt
wird unter ihren Hammerschlägen zusammenbrechen. Diese „Reformen“
schaffen keine neuen Arbeitsplätze, jedenfalls keine, deren Entlohnung
dem deutschen Preisniveau gerecht wird und die also zu einer Belebung
der Binnennachfrage führen könnten. Welches Bankhaus vergibt
noch Kredite, welche Versicherung kann noch Abschlüsse tätigen,
welcher Kaufmann kann noch Umsätze machen, welcher Vermieter noch
vermieten?
Diese „Reformen“ werden Massenverelendung erzeugen. Und sie
werden dazu führen, daß sich einige wenige Krisengewinnler
bereichern werden, daß sich die Balken biegen.
Als sogenannten Kollateralschaden vermuten wir einen sprunghaften Anstieg
der Suizidrate in der ersten Hälfte des nächsten Jahres. Werden
die Reformer darüber bittere Tränen vergießen? Wohl kaum.
So sentimental sind sie denn doch nicht. Eher das Gegenteil: bei Wegfall
von Menschenmaterial immense Kosten gespart, das eh nicht mehr effektiv
zu verwenden ist. Zynisch? Ach wo! Realistisch!
Und Frau B., die Reporterin, für die nach vier Wochen der Spuk wieder
vorbei war? Sie sollte aus ihren gesammelten Erfahrungen schleunigst die
Konsequenz ableiten, von nun ab alles verdiente Geld zu bunkern, was das
Zeug hält. Und zwar so, daß sie es nirgends zu deklarieren
braucht. Denn wenn die Arbeitslosigkeit zunimmt und mit ihr die Hartz-IV-Empfänger,
wer wird dann noch die Zeitung kaufen oder gar halten können, bei
der sie ihre Brötchen verdient?
|