Literarisches auf dem Lande
Adventslesung vom Viesener Lehnschulzenhof
Michael L. Hübner
Während in manchem märkischen
Industriezentrum noch eifrig darüber gestritten wird, ob Kunst und
Kultur zu den harten oder weichen Standortfaktoren zählen, sehen
sich die Musen
mittlerweile in der ruralen Umgebung der Havelstadt um. Auch in Viesen
wurden sie fündig. Das hübsche Dorf südlich des Fiener
bekam vor zwei Jahren Zuwachs. Die Bühnen- und Kostümbildnerin
Katja Schröder und ihr Mann Dr. Dirk Lebelt übernahmen das älteste
erhaltene Gehöft Viesens aus dem Jahre 1730 und boten neben ihrer
Pferdezucht auch der Kultur eine Heimstatt an. Nachdem im Sommer Kleists
Kohlhaas mit großer Resonanz zur Aufführung kam, wurde nunmehr
eine szenische Lesung initiiert, die das uralte Mit- und Gegeneinander
von Mann und Frau thematisierte. Cornelia Heyse und Matthias Brenner,
beide renommierte deutsche Schauspieler, trugen die Texte in der lauschigen
Atmosphäre der Dorfgaststätte „Zur Heimat“ vor.
Sie begannen, wie hätte es anders sein können, mit dem langwierigen
Zueinanderfinden der Ureltern Adam und Eva, wie es von den beiden in getrennten
Tagebüchern aufgezeichnet wurde. Manche behaupten auch, Mark Twain
sei der eigentliche Verfasser des amüsanten Stückes. Wie dem
auch sei: Das anhaltende Schmunzeln des Publikums verriet, dass sich an
den grundlegenden Charakteren von Mann und Frau und den alltäglichen
Missverständnissen, der Suche nach dem Partner und der Flucht vor
ihm seit der Erschaffung der Welt nichts wesentlich verändert hatte.
Man erkannte sich wieder, man kicherte, lächelte, verstohlene Blicke
musterten den Gatten, die Gattin, ob er oder sie jetzt endlich begriffen
hätte, was man ihm oder ihr nun schon seit Jahrzehnten vergeblich
beizubringen versucht. In dasselbe Horn stießen Geschichten O’Henrys,
Jeromes und J. Thurbers. Beinahe tragisch endete der gegenseitige Beweis
großer Liebe eines jungen und armen Paares. Sie wollen sich etwas
zu Weihnachten schenken, haben aber kein Geld. Daraufhin verkauft sie
ihr prachtvolles langes Haar um eine Platinuhrkette für den einzigen
Besitz ihres Mannes, eine ererbte goldene Taschenuhr zu erstehen und er
– Sie ahnen es bereits – verkauft seine Uhr, um ihr ein sündenteures
Kammset für ihre verführerische Mähne auf den Gabentisch
zu legen. Es ist zum Heulen. Jedoch ist es buchstäblich nur halb
so schlimm: Das Haar wächst ja wieder nach! Grandios und beinahe
völlig unvorbereitet fanden sich die beiden Darsteller mitten in
Tucholskys zwerchfellerschütternder Glosse „Ein Ehepaar erzählt
einen Witz“ wieder. Das Publikum bestätigte auch hier, dass
die bitterböse Satire des Altmeisters auch nach achtzig Jahren nichts
von ihrer bissigen Patina eingebüßt hatte. Ja, genauso geht’s
zu auf den großen Familienfesten. Da brechen sie hervor, die lange
schwelenden Konflikte zwischen den alten Ehezauseln, die ihre Fassade
nur noch mühsam vor der Verwandtschaft zu bewahren suchen. Kurz und
gut – das Thema der Veranstaltung war so passgenau gewählt,
dass nicht nur Viesener den Saal des Wirtshauses füllten. Ein gewichtiger
Teil der gut drei Dutzend Besucher kam aus den umliegenden Dörfern,
aus Ziesar und Brandenburg. Dieser kleine Edelstein im ländlichen
Kulturleben wird sich wohl bei anhaltendem Erfolg zu einem durchaus harten
Standortfaktor für das Dorf Viesen mausern. Engagement in den Bereichen
von Kunst und Kultur zahlen sich nämlich langfristig immer aus. |