Spaziergang
durch Brandenburger Industriegeschichte
Gabriele Gobi führte Silvesterspaziergang
Michael L. Hübner
Die alljährlichen Stadtspaziergänge
erfreuen sich großer Beliebtheit. Dass sie sich aber mit einem solchen
Zulauf konfrontiert sehen würde, damit rechnete auch Gabriele Gobi
nicht. Auf dem Gelände der ehemaligen AlWo in der Neuendorfer Straße
fanden sich zwischen 450 und 500 Besucher ein, die zusammen mit Gabriele
Gobi, Marcus Alert und Edith Silz einen Silvester-Ausflug in die Brandenburger
Industriegeschichte unternehmen wollten. Selbst frostige Temperaturen
unterhalb des Gefrierpunktes hielten niemanden ab. Die Leute pilgerten
in Scharen zur alten Kummerlé-Fabrik. Die schätzungsweise
2.500 Euro Entree-Gelder kommen dem St. Gotthard-Kindergarten in der Bergstraße
zugute. Als Eintrittsbilletts fungierten alte „Steuerkarten“
von AlWo.
Wie man aus den Gesprächen einiger Anwesender erfuhr, zog es gerade
ehemalige Mitarbeiter der nun schon beinahe zwei Jahrzehnte brach und
in ruinösem Zustand daliegenden Fabriken zur einstigen Stätte
ihres Broterwerbs. Die sehr kompetent und unterhaltsam parlierende Gabriele
Gobi entführte ihre Zuhörer in die Zeit, als Brandenburg an
der Havel noch eine Hochburg des Tuchmachergewerbes war und die besuchten
Plätze teils noch weit vor den Toren der Stadt lagern. Doch auch
vor der Havelmetropole machte das Zeitalter der Industrialisierung nicht
halt. Als die Tuche aus England infolge des industriellen Fortschritts
konkurrenzlos billiger zu werden begannen, mussten sich rührige Unternehmer
wie beispielsweise die Brandenburger Tuchmacherdynastie Krüger nach
neuen Erwerbszweigen umsehen. Und so erfuhr man en passant, dass der Industriemagnat
Gottfried Krüger seine Elisabethhütte nach seiner Frau benannte
und auch, dass er die am Heine-Ufer gelegene „Bauchschmerzenbrücke“
stiftete, die nach ihm eigentlich „Gottfried-Krüger-Brücke“
heißt. Wer dem Vortrag der Stadtführerin aufmerksam lauschte,
konnte viele Details über das Werden und Wachsen der innerstädtischen
Industrie erfahren. Die Stadt bot Wohn- und Arbeitsmöglichkeit, wenngleich
auch die Generationen vor reichlich einem Jahrhundert unter schier unvorstellbaren
Bedingungen zu schuften hatten. Die Fabrikantenvillen, an deren eine der
anschließende Gang zum Salzhof vorbeiführte, verdeutlichte
anschaulich den immensen gesellschaftlichen Abstand zwischen den Arbeitern
und den Fabrikbesitzern. Auf dem Weg zur Näthewinde zog der Tross,
der auf Grund des hohen Andranges in drei Blöcke aufgeteilt werden
musste, an der Wiemann-Werft vorüber, die einst das Schiffs- und
Maschinenbauzentrum der Havelstadt war. Wie viele andere ehemalige innerstädtische
Produktionsstätten konnte auch sie nicht mehr gegen die Anforderungen
einer modernen Produktionsanlage bestehen und verbreitet als Industrieruine
den traurig-barocken und etwas morbiden Charme einer untergegangenen Ära.
Für die Kommune steht daher nicht nur die Frage einer sinnvollen
Nachnutzung des brachliegenden Geländes. Die Beseitigung nicht erhaltenswerter
Gebäude, die Aufbereitung des Bodens und die Umgestaltung der Insustriedenkmäler
zu Zentren zeitgemäßen Lebens und Arbeitens wird die Stadtplaner
noch auf geraume Zeit beschäftigen. So wird schon in den nächsten
Monaten das Gelände der AlWo, derzeit noch ein innerstädtischer
Schmuddelfleck, einem Supermarkt der REWE-Gruppe Platz machen, wie der
aktuelle Eigentümer des Geländes, Detlef Delfs, berichtete.
Dabei werden die ältesten Teile der Fabrik erhalten und in das Wohnumfeld
integriert. |