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Steinerne
Spuren
eine bauhistorische Führung durch das
Altstädtische Rathaus und das sogenannte Ordonnanzhaus der
Stadt Brandenburg an der Havel
B. St. Fjøllfross
Es muß so um das Jahr 1300
gewesen sein: Umgeben von hochgiebeligen, aus Lehm und Holz errichteten
Fachwerkhäusern tollt ein Hund auf einer Baustelle der Brandenburger
Altstadt umher. Wozu die massenhaft auf der Erde liegenden Holzrahmen
mit dem darin verfüllten, noch halbfeuchten Lehm dienen, das weiß
er nicht. Es ist ihm auch völlig wurscht. Er rennt einfach drüber.
Ein Bauhandwerker flucht, wirft vielleicht einen Stein nach dem Vieh –
aber zu spät: die Tapse ist drin. Möglicherweise haben die Bauhüttengesellen
auch ganz absichtlich die Hundepfote in den Lehm gedrückt. Sollte
vielleicht Glück bringen. Wie dem auch sei: der Lehmquader wird zu
einem Ziegel gebrannt, vermauert und ist jetzt ein Teil des Ordonnanzhauses
der Altstadt Brandenburg. Kennen Sie nicht? Sollten Sie aber, egal, ob
Sie Brandenburger sind oder nicht: Denn das sogenannte Ordonnanzhaus ist
das älteste noch existierende Bürgerhaus der Mittel- und Neumark
Brandenburg. Es steht neben dem Altstädtischen Rathaus der alten
Chur- und Hauptstadt und soll in naher Zukunft mit diesem zum Hauptverwaltungsstandort
der Stadt Brandenburg um- und ausgebaut werden.
Noch aber sieht es in den beiden Gebäuden ziemlich desolat aus. Obschon
bereits vor einhundert Jahren der enorme kulturhistorische Wert beider
Bauwerke erkannt wurde, mußten sie immer wieder Zeiten durchstehen,
die sie aus Geldmangel, Dummheit und Desinteresse fast zu Ruinen verkommen
ließen.
Das Blatt scheint sich zum Positiven gewendet zu haben. In Brandenburg
besann man sich wieder darauf, daß ein Rathaus ein Rathaus ist,
da haben ein Bürgermeister und seine Räte zu arbeiten, da muß
es einen Ratskeller geben, einen Festsaal und überhaupt – das
Ganze muß ein kultureller, ein lebendiger Mittelpunkt städtischen
Lebens werden. Der verfluchte Krieg nahm uns unser Neustädtisches
Rathaus, wir haben nur noch eines: also retten wir dieses!
So wurden die Architekturbüros der Damen Fleege und Oehser und des
Herrn Krieg beauftragt, sich dieser immensen Aufgabe anzunehmen. Es wurde
aufgemessen und geplant, gezeichnet und entworfen. Moderne Anforderungen
an einen Verwaltungskomplex mußten mit dem Denkmalschutz eines so
vielschichtigen Bauwerkes vereinigt werden.
Dabei ging der Herr Jens Christian Holst, ein renommierter Bauhistoriker
aus Lübeck, beratend zur Hand. Mit der Verpflichtung dieses mit profundem
und enzyklopädischem Wissen behafteten Herrn gelang der Stadt ein
Bravourstück.
Am 11. Februar 2006 nun lud der Brandenburger Arbeitskreis für Stadtgeschichte
im Brandenburgischen Kulturbund e.V. unter Führung Herrn Wolfgang
Kusiors zu einer öffentlichen Begehung der beiden Gebäude ein.
Man rechnete anfangs mit etwa zwanzig Interessierten. Über Fünfzig
begehrten dann Einlaß. Es wurde eng. Doch die Veranstalter stellten
sich auch dieser Herausforderung. Herr Holst erklärte, Frau Fleege
und Herr Krieg stellten ihre Pläne vor. Anderthalb Stunden hatte
man einkalkuliert. Nach dreieinhalb Stunden wurde die Tür hinter
dem letzten Teilnehmer geschlossen.
Wer an Brandenburgs Geschichte interessiert ist und nicht dabei war, der
hat etwas versäumt – so viel ist sicher!
Da ist eine Wand abgeklopften Putzes, darunter mächtige Ziegel, die
wir spontan als Klosterformat ansprechen würden. Zugegeben –
die Reihe der gemauerten Steine wirkt nicht so recht homogen. Herr Holst
weist mit dem Finger auf die Bruchlinie und es folgt eine Geschichte.
Der Mann liest aus dem Stein, wie andere einen Krimi: Hier war einst der
Boden so und so hoch, hier war eine Tür, hier stießen einst
zwei Mauern aufeinander, just hier war mal eine öffentliche Gasse,
hier stand ein Ofen, und dort, im alten Wein ABC, im Erdgeschoß
des Ordonnanzhauses, wo vor dreißig Jahren trinkfreudige Pärchen
einen lauschigen Abend verbrachten – dort befand sich vor vielen
hundert Jahren die Hauskapelle eines der reichsten Bürger der Mark
Brandenburg. In dieser Ecke stand offenbar sein Hausaltar, hier war sein
Schlafzimmer, dort drüben – ja, unter jenem Gewölbejoch,
da hatte er seine Gute Stube. Nebenan ein Abtritt, davor eine kleine Privatnische,
wo er ungestört mit seinen Freunden dem Mete zusprechen konnte. Seine
Frau hatte dort nichts verloren. Sollte sie es doch einmal vergessen haben
– kein Problem: Der Hausherr hatte ein Bild mit seinem Konterfei
und einem gotischen Spruchband über den Eingang gemalt – da
war’s nachzulesen. Wir wollen hoffen, daß die Hausfrau eine
entsprechende Bildung genießen durfte, die ihr das Lesen ermöglichte.
Nun, von einer Frau wissen wir, daß ihr eine ganz ausgezeichnete
Bildung zuteil wurde. Sie ist derzeit die Oberbürgermeisterin der
Stadt Brandenburg und wird nach Fertigstellung der Umbaumaßnahmen
als neue Hausherrin in „dat Steenhus“ einziehen, wie das Ordonnanzhaus
zu einer Zeit hieß, da noch niemand wußte, was eine Ordonnanz
überhaupt ist.
Denkbar, daß sie dann auf eine Wand schreibt, wonach andere sich
zu richten haben. So ändern sich die Zeiten.
Doch zurück zum Rathaus. Herr Holst zeigt auf einige Steine und Mörtelverfugungen
und erklärt stolz, er habe im Ostflügel des Hochschlosses der
ostpreußischen Marienburg dieselbe maurerische Handschrift bemerkt.
Kein Zweifel ist möglich. Hier war die gleiche Maurertruppe am Werke.
In der Hauptburg des Deutschen Ordens! Brandenburger Bauleute! Na also!
Geht doch. Da zeigen uns die Väter deutlich, wozu ein echter Brandenburger
in der Lage ist. Jahrhunderte vor den Gebrüdern Reichstein ein Export
Brandenburger Schaffenskraft. Wir sind ergriffen. Wir sind so stolz, daß
uns der Kamm schwillt!
Nun ja, nicht alle Brandenburger waren Söhne und Töchter, mit
denen die Bürgerschaft prahlen konnte: Wir sehen im alten Rathause,
im Geschoß unter dem Turme einen kleinen Verschlag, kaum zwei Quadratmeter
im Geviert, mit zwei Nischen, in denen noch Reste von Halseisen erkennbar
sind. Die hohe Nitratbelastung im darunterliegenden Mauerwerk beweist:
Die armen Teufel, die hier saßen, wurden nicht einmal zum Pinkeln
losgeschlossen. Sie hatten auf ihren Prozeß zu warten, der eine
Etage über ihnen, im Eingangsbereich des Rathauses vor der Versammlung
aller wehrfähigen Männer abgehalten wurde.
Über dem Kopf des gestrengen Richters, im Turme selbst, verwahrte
der Rat feuerfest und einbruchssicher seine Legitimationsdokumente. Darüber
tickte schon im Mittelalter eine Uhr. Denn der hochmögende Rat der
Altstadt Brandenburg war der Herr über die Zeit innerhalb der Stadtmauern.
Geht man dem angrenzenden Ordonnanzhaus unters Dachgebälk, dann eröffnet
sich dem Betrachter ähnlich Staunenswertes. Wir Laien würden
in der genialen Konstruktion einen Dachstuhl erkennen. Herr Holst nannte
ihn eine selbst von allen Nachfolgern während der Renaissance und
dem Barock – ja bis in unsere Tage unerreichte Spitzenleistung der
gotischen Zimmermannskunst. Was die Alten da schufen, läßt
uns in Ehrfurcht verharren. Die gewaltigen Stämme wiegten sich noch
im Sommer 1482 im Winde. Im Winter 1482/1483 wurden sie dann gefällt,
zugehauen, auf der Havel nach Brandenburg geflößt und verarbeitet.
Und sie tun seit über einem halben Jahrtausend ihren Dienst…Das
muß touristisch erschlossen werden! Das muß man den Leuten
einfach zeigen! Brandenburg wurde in den letzten Jahrhunderten viel genommen.
Was uns blieb – das laßt uns auf Hochglanz polieren und ausstellen!
Wir haben es satt, in der Ecke der Zweitligisten unter den Städten
Ostelbiens herumzukrepeln. Wir sind die Dreistadt Brandenburg an der Havel,
die Chur- und Hauptstadt der Mark, der slawische Fürstensitz, die
Domstadt, die Hansestadt, der Schöppenstuhl, die Rolandstadt, wir
sind das Kronjuwel auf dem Haupte der Mark! Wir, Brandenburg! Laßt
uns endlich aufstehen und zeigen, wer wir sind! Sehen wir zu, daß
wir nicht nur stolz auf die Leistungen der Mütter und Väter
sind – sondern diese auch auf uns voller Stolz herabsehen können.
Das ist unsere erste Bürgerpflicht!
Unter diesem großartigen Dachgebälk hatte Professor Wilhelm
Fraenger in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Amtssitz. Der
Große Fraenger – er war Brandenburger Stadtrat für Volksbildung
und gründete die Volkshochschule. Der Mann, der das weltweit beachtetste
Werk über Hieronymus Bosch schrieb, der Hercules Seghers vor dem
Vergessen bewahrte, dieser hochgebildete Mann hatte sein Dienstzimmer
unter dem uralten Dach des Ordonnanzhauses. Warum hängt noch keine
Gedenktafel neben der Eingangstüre?
Die Damen und der Herr Architekt wagten eine vorsichtige Prognose, die
uns das Jahr 2007 für eine Fertigstellung der Umbaumaßnahmen
in Aussicht stellt. Wir sind gespannt, wir sind neugierig, wir werden
all die Maßnahmen journalistisch begleiten. Das ist versprochen.
Wir sind glücklich über das Engagement, das auf eine schrittweise
Rückbesinnung der Stadt auf ihre einstige Bedeutung schließen
läßt.
Wir werden noch glücklicher sein, wenn der Preußische Landbote
seine Gäste in den neu entstandenen Festsaal der Bürgerschaft
des Altstädtischen Rathauses führen und sagen kann: „Nun
wißt ihr, warum wir hier und nirgendwo anders leben wollen.“
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