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Carsten Curator
Eine Novelle von Theodor Storm

K. K. Bajun
An der Wende meiner Jahre habe ich sie gelesen, diese aufwühlende Novelle des großen norddeutschen Dichters. Hätte es Sinn gehabt, sie früher zur Hand zu nehmen?
Vielleicht klärt sich diese Frage im Laufe dieses Aufsatzes – wir werden sehen!

Der Inhalt ist schnell erzählt, ich habe ihn bei der Online-Enzyklopädie Wikipedia so hinterlegt:
In einem friesischen Hafenstädtchen lebt in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein kleinbürgerlicher, aus bescheidenen Verhältnissen stammender Mann namens Carsten Carstens mit seiner Schwester im von den Eltern ererbten Haus in besserer Wohnlage. Carstens hatte sich autodidaktisch etwas Bildung erworben und wurde deshalb aufgrund seines lauteren und ehrenhaften Charakters von seinen Mitbürgern oft um eine Art Vermögensverwaltung gebeten. In diesem Zusammenhang wurde ihm der Beiname "Curator" verliehen, der auf Carstens' Tätigkeit Bezug nimmt.
Anläßlich eines Todesfalles, bei dem Carstens wiederum mit der Sichtung und Ordnung der Vermögenslage der unmündigen Erbin betraut wird, entsteht aus dem Pflegschaftsverhältnis eine engere Beziehung, die letztendlich in die Ehe zwischen Carstens und der weitaus jüngeren Juliane mündet. Aus dieser Ehe geht der gemeinsame Sohn Heinrich hervor, der vor allem das liebe, aber leichtfertige und sorglose, unstete Wesen seiner Mutter geerbt hatte. Juliane stirbt indessen im Kindbett und kann somit auf die weitere Erziehung des Sohnes keinen Einfluß nehmen. Mutterstelle vertritt Carstens' Schwester Brigitte, die ein kleines Wollgeschäft für ihren Bruder führt. Heinrich wächst zusammen mit einem Mündel Carstens' auf - dessen Ziehtochter Anna. Diese ist nicht nur von berückender Schönheit, Storm zeichnet sie als liebevoll, treu und selbstlos.
Carstens versucht unentwegt, die Wege seines Sohnes in ein solides Berufsleben mit dem Ziel einer gesicherten Existenz zu ebnen. Heinrich aber setzt das Erreichte immer wieder auf's Spiel, indem er mal anvertraute Gelder beim Glücksspiel veruntreut, mal gewagte Spekulationen abschließt, die sich nach anfänglichen kleinen Erfolgen als verlustreich erweisen. Mehr als einmal muß ihn der Vater unter Hinzuziehung des eigenen Vermögens aus desolater Lage befreien.
Als wieder einmal die Geschäftslage den Sohn an den Rand des Ruins treibt, rettet ihn die Heirat mit Anna, deren nicht unerhebliches Vermögen Carstens bislang verwaltete. Dennoch behält der Alte einen Teil von Annas Guthaben in Wahrnehmung seiner Treuepflicht zur Grundsicherung seiner Schwiegertochter und des Enkelsohnes ein.
Heinrichs liederlicher und riskanter Lebenswandel führen den jungen Mann erneut in den drohenden Bankrott. Sowohl seiner Schwiegertochter als auch seinem Sohn schlägt Carstens die Herausgabe der Sicherheitsreserve ab. Daraufhin flieht Heinrich während einer tosenden Novembersturmflut offensichtlich in den Tod.
Carstens Familienhaus als auch das von Annas Geld erworbene kleine Ladengeschäft am anderen Ortsende kommen unter den Hammer und der jahrzehntelang geachtete Mitbürger Carstens muß mit seiner Schwiegertochter und dem Enkel in die Armeleutegegend des Ortes ziehen um dort seinen Lebensabend zu verbringen. Dort erlebt er, von einer Altersenilität gezeichnet, umsorgt von seiner Schwiegertochter, doch noch ein bescheidenes Glück.
Aufwühlend ist sie, diese Novelle, dieses Spätwerk Storms. Als der Dichter sie niederschrieb, im Jahre 1877, litt er unsäglich unter den Entgleisungen seines Sohnes Hans, der zu Würzburg die Medizin und den übermäßigen Alkoholgenuß studierte. "Es ist keine Sorge mehr, es ist ein Entsetzen, das mir das Blut vergiftet.", schrieb der geplagte Vater zu dieser Zeit, die Affären seines Kronprinzen betreffend.

Es ist mit denen Guten, wie mit denen Lumpen: Ein jeder erntet, was er ausgesät… Ist es immer so, wirklich? In der Wikipedia habe ich das Werk nüchtern versucht auf dieses Weise zu analysieren:
Unter dem Eindruck seines in Würzburg Medizin studierenden, verbummelten und der Trunksucht verfallenen Sohnes Hans, schreibt sich der sechzigjährige Storm 1877 seinen Kummer mit unerhörter literarischer Wucht von der Seele. Daß Hans Storms Lebenswandel einen nicht unerheblichen Einfluß auf das Sujet und die Behandlung des Themas gehabt hat, belegt ein Zitat aus der Feder Storms, Hans betreffend: "Es ist keine Sorge mehr, es ist ein Entsetzen, das mir das Blut vergiftet." In der Schlußszene von "Carsten Curator" beschreibt er denn auch die letzte Konfrontation des alten Vaters mit seinem Heinrich: "Betrunken!" schrie er (der Vater, Anm. Bajun), "du bist betrunken!" Mit dieser Erkenntnis verschließt sich der Vater nunmehr völlig und wortwörtlich gegen den um Hilfe bettelnden Sohn, den er doch abgöttisch liebte.
Die Handlung arbeitet stets und zielgerichtet auf das katastrophale Ende zu, wobei Storm selbst die Natur, sowohl ihre Schönheit als auch den Aspekt ihrer zerstörerischen Gewalt illustrierend zur Hilfe nimmt. Charaktere werden teilweise deutlich überzeichnet, so der als schmierig beschriebene und aufdringliche Makler Jaspers, dem ein diabolischer Zug anhaftet. Dem gegenübergestellt werden die makellosen Figuren Carstens, Brigitte und Anna, die für absolute moralische Solidität stehen. In dieses Spannungsfeld hinein werden Juliane und ihr Sohn Heinrich gestellt, die ungefestigt immer wieder kurzsichtig und rücksichtslos ihren Vorteil suchen und in einem kindlichen Verhaltensschema begriffen jede Form von Selbstdisziplin und Verantwortungsbewußtsein ablehnen.
In konservativer Sicht der Dinge beschreibt Storm den Untergang einer alten, scheinbar in sich gefestigten Welt im Austausch gegen eine schnellebige und riskanten Geschäften zugeneigte, die Menschen einander entfremdende Epoche, wie sie mit der Industrialisierung des neunzehnten Jahrhunderts immer mehr an Präsenz gewann. Immer wieder stellt der Autor den Gegensatz zwischen der verlockenden und mit der Zusicherung von Anonymität verführenden Metropole Hamburg und der soziale Kontrolle aber auch Geborgenheit und Fürsorge verheißenden Inselidylle gegenüber. Letzten Endes läßt er die Ära der Romantik gegen das Haifischbecken des anbrechenden Frühkapitalismus scheitern und bekennt sich damit zu einer realistisch-nüchternen Beurteilung der unvermeidlichen gesellschaftlichen Entwicklung.
Das Hauptthema der romantischen Literatur, die alle Fährnisse und Herausforderungen bezwingende Liebe, wird mit Storms "Carsten Curator" deutlich in Frage gestellt. Zwar läßt er die positiv belegten Personen Carstens und Anna nicht völlig an der Unzulänglichkeit des Heinrich Carstens scheitern, dennoch stellt sich deren unverdienter sozialer Abstieg als ein durch nichts belohnter Opfergang dar, dessen realistische Zeichnung in seiner Trostlosigkeit geradezu erschütternd wirkt.

Wir begegnen hier einer unerbittlichen Variante des Fatums. „… Ich sage dir, ein jeder Mensch bringt sein Leben fertig mit sich auf die Welt; und alle, in die Jahrhunderte hinauf, die nur einen Tropfen zu seinem Blute gaben, haben ihren Teil daran.“ So spricht der alte Carstens zu seiner Schwester.
Während ich Storms wortgewaltige Prosa las, dachte ich ein ums andere Mal an die beiden Tortürme zu Müncheberg und Jüterbog, an deren Mauern jeweils eine Tafel desselben Inhalts prangt: Wer seinen Kindern gibt das Brot und leidet hernach selber Not, den schlage man mit der Keule tot!“ Nun waren aber die Gören, die den Stadträten der beiden märkischen Gemeinden Anlaß zu diesen Denktafeln gaben, mißratenen Rangen. Dieser hier aber, der Heinrich Carstens, war im Grunde ein herzensguter Mensch. Sein einziger Mangel war seine Ungefestigtheit, das völlige Abgehen jeglicher Selbstzucht, die Unstete, die Verführbarkeit. Die bis zum vorletzten Hemde helfen wollende Liebe scheiterte an einem Lieben. Darin liegt eine enorme Tragik verborgen.
Da steht ein alter Mann, der Sohn da vor ihm ist ein Prachtmensch, ganz der Abglanz seiner geliebten und doch so haargleichen Frau, die schon vor so vielen Jahren ins Grab gefahren war. Der Greis klammert sich an jeden Hoffnungsschimmer, jeden Strohhalm, der nur den mindesten Anhalt für die Aussicht auf Besserung bietet. Und wie ein Spieler, kommt der ansonsten so solide Mann erst vom Tische weg, als er schon beinahe am Ende ist. Da ist keine Hoffnung, keine Rettung. Die Titanic muß gegen den schwimmenden Eisriesen und sie muß zugrunde gehen! Als der Alte das begreift, liegt alles längst in Scherben.
Nichts hatte der Sohn aus all seinen fürchterlichen Fehlern gelernt, als nur immerfort den Alten und später sein eigenes Weib immer wieder finanziell anzupumpen und seelisch auszusaugen. Der Tod in jener Sturmflut war dann sein folgerichtiger Erbteil. Denn bezahlt muß sein – im Leben wie im Tode – auf Heller und Pfennig, mit Zins und Zinseszins. Es gibt keine Ausnahme und kein Pardon. Einem jeden wird nach seinen Leistungen, aber auch strenge nach seinen Fehlern und Versäumnissen vom Schicksal zugemessen, was er dem Leben schuldig ist.
Eingang erwähnte ich, daß ich die Novelle an der Schwelle meiner Tage lesen mußte, um zu verstehen. Vieles ist nicht mehr zu ändern, zu revidieren. Den vertanen Möglichkeiten hinterzutrauern, gilt nichts. Auf „hätte, könnte, würde“ borgt der Jüd nix, wie die Rheinländer launig zu sagen pflegen. Nun heißt es also, in kühler und heiterer Gelassenheit den Wechsel zu begleichen. Verstehen aber bedeutet, dieses wirklich umsetzen zu können. Fehlt der Hintergrund, so enthüllt sich in der Geschichte die eigentliche Aussage mitnichten. Eine richtige Frau würde sich auch nicht vor Knaben entkleiden. So gesehen wäre es albern, „Carsten Curator“ zur Schullektüre aufzurufen. Man muß ein Leben gelebt haben, um dem Alten aus Schleswig die Botschaft von den Lippen abzulesen. Wem dies vorher gelänge, der mag sich zu den frühreifen Genien zählen, denen kraft guter Auffassungsgabe sicher manches Elend auf dem Wege erspart bleibt. Die anderen – das ist der große Rest, zum Leide verdammt und oft bleibt nicht einmal zu wissen, warum. Ein Trost aber findet sich dennoch: mancher, der sein Leben lang ein grauer Schatten war, wuchs im Tode noch zu ungeahnter Größe auf. Zu spät? Äh!

Herr Storm hätte sicher viel von dem chinesischen Zen-Mönch Hsu-t'ang-Chih-yu gehalten, den wir Japanophilen unter dem Namen Kido Chigu verehren und welcher mir die Zeilen hinterließ, die sich in mein Herz brannten:


Die Blätter sind vom Baum gefallen,
Die Luft im Herbst ist kalt und klar.
Der an Bildung und Tugend hervorragende Mann
wird den Zen-Tempel verlassen.
Hoffentlich kehrt er bald zurück
und erzählt, was sein Herz bewegt.


So sollten wir das Buch lesen, so sollten wir es beiseite legend in unseren Gedanken bewahren. Die Antwort Kidos auf die alltägliche Tragödie, derer uns Herr Storm ein Muster mit seiner Novelle Carsten Curator gab, ist die einzig Erträgliche.

 
B 3. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2006