Der Crako und der Gierfraß
Ein preußisch-historischer Kriminalthriller
von Herrn Michael Kirchschlager
K. K. Bajun
Schockschwerenot! Das ist ein
harter Tobak, weiß der Himmel! Von einer gewissen Mimi heißt
es, sie ginge ohne einen Krimi nie ins Bett. Sollte sich das Fräulein
Mimi dazu entschließen, Herrn Kirchschlagers Thriller zur Nacht-Lektüre
auszuwählen, dann möge sie sich vorher vergewissern, ob sie
über ein starkes Nervenkostüm verfügt. Den einen oder
anderen Salto wird ihr Magen schon drehen wollen, wenn die Augen unruhig
über das bedruckte Papier huschen.
Herr Kirchschlager schreibt nicht für die Zartbesaiteten. Das ist
sicher. Dennoch – das Buch ist eine gute und solide Arbeit, die
das Genre würdig vertritt.
Wir hatten bereits das große Vergnügen, die denkwürdige
Reihe der Preußenkrimis Herrn Dr. Tom Wolfs zu besprechen. Die
vorgelegten Werke reflektieren in etwa dieselbe Zeit und dasselbe Thema.
Es stehen sich gegenüber: Herrn Wolfs Zweiter Chefkoch und Geheimkommissär
Friedrichs des Großen, Monsieur H. Langustier und auf der anderen
Seite der Major und Criminalcommissär im Dienste seiner Majestät
Friedrich Wilhelms I., Friedrich von Krosigk, ersonnen von Herrn Kirchschlager.
Wir kommen nicht umhin, einen Vergleich anzustellen und befinden, sowohl
in Betreff auf die Autoren, deren Metier und ihre ins literarische Leben
gerufenen Charaktere: Hier begegnen sich ein Johann Melchior Dinglinger
und Mime der Schmied! Beide handwerklich versierte Gestalter neuer preußischen
Kriminalliteratur – der eine sozusagen ein dem anspruchvollsten
und intellektuellen Humor zugewandter Goldschmied, der andere ein Schwertfeger
und Waffenschmied im Kampf gegen menschliche Dumm- und Bosheit.
Tauchen wir ab in die horriblen Geschehnisse in einer fernen Kuhbläke
des Ermlands, in die hinein Herr Kirchschlager die düsteren Szenen
einer ostpreußischen Variante des „Paktes der Wölfe“
zeichnet:
Quasi eine halbe Generation vor Monsieur Langustier, genauer gesagt
im Spätherbst des Jahres 1730 schickt der Autor seinen Crako (Abkürzung
für Criminalcommissär) Major von Krosigk in die tiefste ostpreußische
Provinz, um dort einer Reihe grauenvoller Morde auf die Spur zu gelangen.
Da es beinahe ausnahmslos junge Mädchen in Vollmondnächten
bestialisch dahinrafft, geht in der abergläubischen Bevölkerung
das Gerücht um, ein Widergänger, Nachzehrer, Untoter, oder
wie wir heute sagen würden: ein Vampir, terrorisierte das Land.
Der Autor eröffnet sein Werk mit einem Paukenschlag, der allein
und für sich schon unter der Leserschaft die Spreu vom Weizen trennen
sollte: Der Prolog schildert auf 11 Seiten die Hinrichtung einer Räuberbande,
wie sie in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts noch
durchaus üblich war. Enthauptung der Frauen, Enthauptung und anschließende
Räderung der Spießgesellen, „Räderung von unten
her“ bei lebendigem Leibe des Anführers und anschließende
Aufrichtung des Rades. Kein Detail bleibt uns erspart. Selbst die Reden
und das Gebaren von Delinquenten und Henkersleuten werden getreulich
wiedergegeben. Unser Blick wird auf das Drumherum der grausigen Zeremonie
gelenkt: Bürger decken ihre Dächer am Markt ab, um das freie
Dachgeschoß an zahlungskräftige Gaffer zu vermieten. Kommentare
des Pöbels in all ihrer unverhohlenen Grausamkeit begleiten die
Todgeweihten. Selbst das Treiben der Krähen und Raben auf dem Schinderplatz
zwingt uns, das ganze Grauen eines menschlichen „Miteinanders“,
oder sollten wir besser sagen: „Gegeneinanders“ in uns aufzunehmen.
Hämmernd, brutal, gebetsmühlenhaft und bei jeder sich bietenden
Gelegenheit verweist der Autor immer wieder auf die eine und einzige
Wahrheit: Daß nämlich das Böse nicht und niemals von
außen kommt, weder in Gestalt von Teufeln, Dämonen oder gar
Wölfen, sondern stets nur dem Menschen selbst immanent ist. Dort
muß man ansetzen und nur dort.
Warum greift Herr Kirchschlager zu solch einer harten Feder? Wen will
er erreichen? Die anencephalen Konsumenten von „Bilder des Todes“?
Sensationsgierige Menschen, die sich am liebsten selbst an dergleichen
Greueln beteiligen würden, diesen Drang jedoch mit Müh und
Not unter einer hauchdünnen Schicht von „Zivilisation“
verborgen halten – sollten diese etwa seinen Leserkreis bereichern?
Nein, ganz gewiß nicht! Betrachtet man das Werk in seinem gesamten
Kontext, so ist Herrn Kirchschlager eher die Motivation eines Anatomen
zu unterstellen. Präzise und gnadenlos legt er die allgegenwärtigen
Abgründe der menschlichen Seele frei und weist unerbittlich auf
das reell Seiende – es mag mit unseren Wunschvorstellungen korrelieren
oder nicht. Denn – Wegsehen hat noch nie geholfen und die auf
der fliehenden Seite haben nie gesiegt.
Wer die fiktive Geschichte Herrn Kirchschlagers für zu drastisch
hält, der gedenke des im Thriller erwähnten Marschalls von
Frankreich und hundertfachen Kindermörders Gilles de Rais, der
Gräfin Barthory, des vielfachen belgischen Mörders und Kinderschänders
Marc Dutroux und so vieler anderer gestörter Bestien, die auch
unsere Gegenwart erschüttern und häufig nur durch die erweiterten
Möglichkeiten unserer modernen Ermittlungsorgane daran verhindert
werden, ihrer Monstrosität in größerem Umfange zu frönen.
Herr Kirchschlager schreibt, was da ist.
Etwas anderes tat Hieronymus Bosch mit seinem Pinsel auch nicht.
Und er schreibt fesselnd. Nach sechs Stunden waren die knapp 200 Seiten
bewältigt. Man legt das Buch nicht so einfach der Hand!
Etwas störend waren leichte, fachliche Ungereimtheiten, wenn sich
beispielsweise ein Ritter des Deutschen Ordens im Jahre des Herrn 1380
mit einem „heidnischen“, slawischen Grundherrn auf pruzzischem
Boden bekriegt. Es mag zu dieser Zeit noch einige Pruzzen gegeben haben,
die heimlich den alten Götten anhingen – aber slawische Edle?
Sie waren zwingend entweder Lehnsmänner des Deutschen Ordens oder
Ludwigs des Großen aus dem Geschlecht der Anjou, der von 1370-1386
über Polen herrschte. Als die Jagiellonen 1386 das Königreich
Polen übernahmen, herrschte schon bis weit nach Karelien hinauf
das Kreuz. Und nur das Kreuz!
Ein kleiner, aber vielleicht läßlicher Rechenfehler ist den
Lektoren ebenfalls entgangen: Die eigentliche Handlung ist im Spätjahr
1730 angesiedelt. Eine in den Text eingebundene Klostergründung
bezieht sich auf das Jahr 1380. Macht nach Adam Riese 350 Jahre Differenz
– keine „über 400 Jahre“, wie denn geschrieben
steht.
Zwei, drei kleinere stilistische Unaufmerksamkeiten trennen das Buch
noch von einem perfekten Erscheinungsbild. Dankenswert aber bleibt zu
nennen: die vorzügliche Behandlung, die der Autor Herrn von Gundling
angedeihen ließ, die unmißverständliche Positionierung
auf der Seite unserer vierpfotigen, wölfischen Mitkreatur und das
deutliche, durch alle Seiten und Absätze schimmernde Bekenntnis
zu wahrer Aufklärung und humanistischen Werten.
Herr Kirchschlager hat sein Werk eben nicht für Voyeure billiger
Horrorschinken geschrieben. Wenn sein Freiherr von Krosigk auch noch
längst nicht die lichten Höhen eines Monsieur Langustier erreichte,
wir empfehlen das Buch ausdrücklich unseren verehrten Lesern, sofern
diese nicht, von falsch verstandener Philanthropie beeinflußt,
eine klare Sicht auf die Realität ablehnen.
Wir begrüßen also in den Reihen unserer gschätzten preußischen
Kommissärs den Freiherrn von Krosigk und wünschen ihm und
seinesgleichen noch viel Erfolg im nimmer enden wollenden Kampf gegen
das Böse und die ihm verbündete Mikrobe der menschlichen Dummheit.