Baaks

zurück zur Stammseite "BÜCHER"

Die Rebellion

von Joseph Roth

die Geschichte des Andreas Pum

1924

ISBN 3-462-02588-0
Verlag Kiepenheuer & Witsch

K. K. Bajun
Die Rede! Es ist die Rede. Die Rede, die der tote Kriegskrüppel Andreas Pum seinem Gott entgegenschleudert – vor diesem letzten Gericht.
Was sprachliche Gewalt vermag, welch ungeheure Explosivität in gekonnt gesetzten Worten steckt – hier erleben wir es und es geht unter die Haut.
Der, der geladen wurde, klagt an. Er klagt seinen Richter an. Den Richter, der für all das Elend verantwortlich ist, was das eine und einzige Leben des Kriegsinvaliden Andreas Pum unwiederbringlich und vor der Zeit zerstört hat.
Nur seines? Mitnichten. Das hier ist eine Generalabrechnung. Eine Anklage der zu Unrecht geschundenen Menschen gegen ihren Schöpfer. Und sie greift nach dem Herzen.
Hier begegnen wir einem modernen Hiob. Doch dieser moderne Hiob, der voller Glauben war, wie sein alttestamentarisches Vorbild, dieser Hiob wird zu guter Letzt nicht plakativ belohnt für seine Standfestigkeit und Glaubenstreue. Dieser Hiob der Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts kehrt sich ab von diesem Gott und dessen Schöpfung, auf deren Rechtmäßigkeit und Legitimität er sein ganzes, gequältes Leben aufgebaut hatte. Er klagt an. Und er pfeift auf die Antwort des HERREN aus dem Wettersturm. Denn diese hatte er schon während seines armseligen Lebens erhalten von seinem Schöpfer, ganz wie dessen Prophet es vorausgesagt hat. Denn so steht es in Jesaja 65.24 geschrieben: Und es soll geschehen: ehe sie rufen, will ICH antworten; wenn sie noch reden, will ICH hören.

Ja, der Invalide Andreas Pum war ein frommer Mann. Zunächst einmal ein einfacher Mann. Einer der durch nichts hervorstach aus dem Heer der Namenlosen. Einer der sich widerspruchslos fügte in die Ordnung, die ihn einen der Zahllosen von „unten“ sein ließ im Gegensatz zu denen Wenigen von „oben“. Der arme Mann Andreas Pum stellte diese Ordnung nicht in Frage. Die Obrigkeit regelte, befahl, aus Gründen, die dem gemeinen Volke verschlossen waren – und dieses hatte zu gehorchen. Also gehorchte er. Ließ sich in den Krieg führen. In einen Krieg, dem das einfache Naturell des Andreas Pum nichts abgewinnen konnte. Und den der Soldat Andreas Pum mit dem Verlust seines Beines bezahlte. Der Dank des Vaterlandes bestand in einer Lizenz zum Drehorgelspielen.

Wir wollen dem Verlauf der Handlung nichts vorwegnehmen. Dennoch, die Dramatik, die Herr Roth im Verlauf seines Romans entwickelt, höhnt den jämmerlichen Zuspitzungen der Kriminalliteratur, die zum Spannungsaufbau eimerweise Blut vergießen muß.

Der Kriegskrüppel Andreas Pum kann nicht gewinnen. Nicht in dieser Gesellschaft und wohl auch in keiner anderen. Das Glück, das er sucht, gewährt ihm nur einen Augenblick lang eine Ahnung, die so flüchtig vorbeihuscht, wie ein aufgewirbeltes Blatt im Herbstwind. Er, der ganz unten ist, hätte vielleicht eine Chance gehabt, auf niedrigstem Niveau sein kümmerliches Dasein zu fristen. Wenn er denn die Schnauze gehalten hätte. Zu allem Ja und Amen gesagt hätte. Über die Demütigungen und verletzenden, ja ehrenrührigen Beleidigungen geschwiegen hätte. Aber der Mensch in dem armen Manne Andreas Pum, der war auch noch da. Und der wollte Mensch sein. Er wollte nicht eben viel. Nur Mensch – das wollte er sein!
Hatte er nicht viel gegeben? Sein Bein, seine Unversehrtheit, seine besten Mannesjahre? Die anderen, die ihn ins Feld sandten – ja, die tanzten auf zwei Beinen auf rauschenden Bällen durch riesige, festliche Säle. Er neidete es ihnen nicht. Er war ihnen nicht gram. Er war kein Bolschewik, kein Rebell, kein Umstürzler und Laterneneinschmeißer. Alles, was er wollte, war, daß diese Menschen ihm den schuldigen Respekt zollten: Ein anerkennendes Nicken, Ein zur-Seite-rücken auf dem Plafond der Elektrischen; vielleicht auch, daß ein Vater mit seinem Kinde vor seiner, Andreas Pums Drehorgel stehenblieb und dem Sproß auf Andreas Pum weisend sagen würde: „Das ist ein braver Mann! Der hat immer seine Pflicht getan!“
War das zuviel? Sicher nicht. Aber ein geringer Anlaß machte ihm selbst dieses bißchen Anerkennung zunichte. Und wenn das Leben des Andreas Pum schon bis zu diesem Zeitpunkt ein unerträglich hartes gewesen sein mochte – in diesem Augenblick wandelte es sich in eine kalte, seelenlose und brutale Hölle, bar jeden Mitleides, bar jeden Mitgefühls.

Der Dank des Vaterlandes bestand hinfort nur noch aus Verfolgung und Schikanen seitens der Obrigkeit, auf die der arme Mann Andreas Pum einst so vertraut hatte. Nicht, daß das so geplant gewesen wäre. Gott bewahre! Dahinter steckte menschenverachtende Ignoranz, bürokratische Indolenz und Machtgehabe, die nichts weiter zu tun hatte, als ihre Macht an einem wehrlosen Krüppel auszutoben.

Die ihn quälten, die ihn einsperrten, die ihm im Gefängnis der Vorschriften halber verboten, die Vögel an seinem Zellenfenster zu füttern – das waren keine Teufel! Das waren Menschen! Menschen waren es! Menschen wie er! Geschöpfe dieses einen Gottes. Dieses Gottes Abrahams, Isaacs und Jacobs. Und dieser Gott sah zu! Er sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. (1.Gen. 31)

War es das? War das alles sehr gut? Was ist geworden aus den ewigen Verheißungen der Propheten und Menschheitserlöser? Woher nahmen Menschen, die doch nach Aussage der Bibel die Krone der Schöpfung sein sollten und diese Schöpfung in Verantwortung geliehen bekamen von ihrem Gotte, das Recht, anderen Menschen Leid zuzufügen? Sie erst in Kriege zu senden und dann, wenn sie das Pech hatten zu überleben, zu behandeln wie Dreck? Woher nahm Kain das Recht, seinen Bruder Abel zu erschlagen?

Dieses oder ähnliches wird dem armen Manne Andreas Pum durch den Kopf gegangen sein, als er sich völlig zu Unrecht mißhandelt sah. Er, der vorher nicht im Traume widersprochen hätte, der nichts in Zweifel zog, was die gegebene Ordnung für ihn vorsah. Er begann zu raisonnieren. Und zu widersprechen. Sich aufzulehnen. Seinen Anspruch auf das ihm zustehende Quentchen Würde und Gerechtigkeit einzufordern. Doch das durfte er nicht. Das stand ihm nicht zu. Er war nur ein Mensch-Vieh!
Sein Erbteil war das Dulden und Leiden, auf die vage Option hin, daß es ihm dermaleinst in einer anderen Welt gelohnt würde.

Die Lektüre des Buches macht zornig. Sie wühlt auf im Innersten. Sie erweckt im Leser den Wunsch, das Schwert Gottes zu ziehen gegen all die Kaine dieser Welt, die immer noch und immer wieder auf Kosten ihres Bruders Abel leben um ihn hernach zu erschlagen. Und erschlagen kann man einen Menschen nicht nur mit der Streitaxt. Man kann ihn weitaus effektiver umbringen mit Gleichgültigkeit und Ignoranz und Dummheit.

Das ist es, was uns der brillante Essayist und Romancier Herr Joseph Roth zu sagen hat. Wir verneigen uns vor diesem Manne und dem großen, dem würdigen Denkmal, das er mit seinem scharfen Verstand, seiner einfühlsamen Beobachtungsgabe und seiner so unglaublich sensiblen Wortwahl denen errichtete, die sonst nichts weiter hatten auf dieser Welt, als ihre Einsamkeit und ihr Elend.

Vielleicht liegt ein wenig Wiedergutmachung in der Tatsache, daß der Gott, der letztendlich für die Schaffung dieses ungezählten Leides verantwortlich ist, doch hier und da eine Stimme erweckt, die dieses infame Unrecht beim Namen nennt. Die dieses Unrecht in die Welt hinaus und gen Himmel schreit, so laut, daß es wenig hülfe, sich die Ohren zuzustopfen. So laut, daß es wuchtiger dröhnt, als die Große Glocke von Erfurt. Und daß man stehenbleiben muß – unfähig, sich zu entziehen.

Herr Roth verfügte über eine solche Stimme, gerade so, wie Herr Tucholsky. Und wir – wir haben zugehört.

B 1. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2003