LTI
von Prof.Victor Klemperer
1881-1960
K. K. Bajun
Drei Buchstaben nur: LTI. Und
doch ein bedeutendes Werk eines bedeutenden Mannes, das der Reclamverlag
dankenswerterweise schon einer Leserschaft in der ehemaligen D.D.R.
zugute kommen ließ.
Alleine schon das Erscheinen dieses Büchleins in einem totalitären
Staat wie der D.D.R., der noch dazu einer der beiden Nachfolgestaaten
des Dritten Reiches war, entbehrt nicht einer gewissen Süffisanz.
Einem Beobachter dieses Phänomens bieten sich nur zwei Erklärungen
an: Entweder muß in den Reihen der ostdeutschen Zensurbehörde
zu diesem Zeitpunkt die völlige Geistesfinsternis geherrscht und
die Zensoren einer Publikation in Absence und Umnachtung zugestimmt
haben, oder in diesen Räumen hatte sich die Spitze des Widerstandes
gegen die Diktatur der Arbeiterklasse formiert, die späte Rache
nahm für die Verurteilung von Janka, Harich, Herrnstadt und die
Schikanen gegen Havemann und Heym.
Denn die drei Buchstaben bedeuten „Lingua Tertia Imperii“.
Das ist: Die Sprache des Dritten Reiches.
Und so oft der Autor Bezug nahm auf den „Völkischen Beobachter“,
das Zentralorgan der NSDAP, so konnte man mangels Zugang zu diesem Blatte
billig das „Neue Deutschland“, Zentralorgan der SED, neben
das Büchlein legen. Die Sprache war die Selbe – es war die
diktatureminente LTI.
In ihr analysiert der Sprachwissenschaftler und hervorragende Lateiner
und Romanist Professor Viktor Klemperer eine systemspezifische Sprache
und ihre Adaption seitens der Bevölkerung.
Sprache ist nicht nur ein Werkzeug. In den falschen Händen ist
sie eine Waffe. Mit feinem Gespür hatte Herr Klemperer die Veränderungen
in der deutschen Alltagssprache erkannt, die mit der Etablierung nationalsozialistischer
Macht einherging.
Er hatte allen Grund zu dieser Sensibilität. Denn Herr Klemperer
war Jude. Und als solcher war er all den fürchterlichen Repressalien
ausgesetzt, mit denen Nazis die Juden quälten. Der Vernichtung
konnte er nur haarscharf dadurch entgehen, daß er mit einer „Arierin“
verheiratet war. Diese tapfere und treue Frau trotzte erfolgreich allem
auf sie ausgeübten Druck und ließ sich nicht von ihrem Manne
scheiden, was für diesen den sicheren Tod in einem Vernichtungslager
zur Folge gehabt hätte.
So zogen Herr und Frau Klemperer in das Dresdner „Judenhaus“,
in dem sie unter unwürdigsten Bedingungen lebten. Für sie
bekam das Wort vom Tausendjährigen Reich sicher einen ganz anderen
Beigeschmack. Denn die Zeit im „Judenhaus“ mag ihnen wahrhaft
tausend Jahre gewesen sein.
Zu harter körperlicher Arbeit herangezogen, versuchte der Schöngeist
und Gelehrte Viktor Klemperer sich nicht einer wie auch immer gearteten
Lethargie zu ergeben, die unvermeidlich zu einem Verfall seiner geistigen
Kräfte geführt hätte. So begann er seine Tagebücher
anzulegen, in denen er penibel die Arbeit eines Chronisten leistete.
Eine Arbeit, die seine ohnehin schon prekäre Situation am Rande
des Abgrunds um einiges gefährlicher machte. Wenn die Gestapo seine
Notizen in die Hände bekommen hätte, ihm wäre nicht mehr
zu helfen gewesen.
Ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten, in einer von volkswirtschaftlichen
Engpässen gezeichneten Zeit als Jude an Arbeitsmaterial zu gelangen,
selbst wenn dieses nur aus Papier und Bleistift bestand.
Ganz nebenbei notierte er wachen Auges und Gehörs die Stilblüten
der LTI, die sich mit der Zeit immer skurriler ausnahmen und dennoch
vom gemeinen Volk bereitwilligst und unreflektiert adaptiert wurden.
Das einfache und gemeine Volk, das sich in der Masse am wohlsten führt
und gerne dem hinterher rennt, den alle anderen auch als Leithammel
akzeptiert haben, bedient sich vorzugsweise der Sprache und Termini,
die gerade durch Zeitgeschmack oder Allgemeingebrauch geheiligt wurden.
Damit wird den anderen und nicht zuletzt sich selbst eine Gruppenzugehörigkeit
demonstriert, die dem einzelnen Individuum der Gattung „Nackter
Affe“ als überlebenswichtig erscheint.
Diese Erkenntnis verstanden die Nationalsozialisten meisterhaft ihren
Zwecken dienstbar zu machen, allen voran der Akrobat des Wortes, Dr.
Joseph Goebbels. Sie eroberten Hirn und Herz des deutschen Michels,
ohne das dieser sich dessen auch nur im geringsten bewußt wurde.
Die Stimmen der wenigen Warner verhallten weitestgehend ungehört.
Ihre Bücher wurden an jenem denkwürdigen Tage vor der Berliner
Universität verbrannt, an dem sich der Deutsche Geist zu einem
Ungeist verkehrte. So weit man der Autoren habhaft werden konnte, wurden
diese eingesperrt, mundtot gemacht, ausradiert.
Die stumpfe Masse indessen schluckte mit Begeisterung die neue Perfidie
und blökte gedankenlos den Schwachsinn nach, der ihr nunmehr pausenlos
und überregional mit allen zur Verfügung stehenden Medien
eingetrichtert wurde.
Sprache kann zum Gift werden, wenn sie in die falschen Hände gelangt.
Sie war in die falschen Hände gefallen. Der Wahnsinn bekam Methode
und brach sich furchtbar Bahn.
Wie oft berichtet Herr Klemperer, daß sich selbst liebe, nette
und sogar unter Gefahr hilfsbereite Menschen mit einer sancta simplicitas
der vorgegebenen Sprachregelung bedienten. Es erschütterte ihn
zum Teil bis ins Mark.
Die Wehrlosigkeit der Menschen, die im Dritten Reich zu Lemmingen mutierten,
die unaufhaltsam einem gräßlichen Abgrund entgegenströmten,
lag zu einem überwiegenden Teil in ihrer Primitivität begründet,
in ihrer geistigen Trägheit, in ihrem Desinteresse und in ihrer
Ignoranz. Eben in diesem von menschlicher Dummheit diktiertem Verhalten
liegt die enorme Warnung, das blutige Memento für die Zukunft.
Dennoch ist zu befürchten, daß selbst aus dieser größten
menschlichen Katastrophe aller Zeiten keine nachhaltigen Konsequenzen
in der charakterlichen Grundausstattung des Gros der Nachgeborenen erkennbar
sei. Die unheimliche Macht der Bild-Zeitung würde sich in Dampf
und Nebel auflösen, wenn das Volk von sich aus Werke wie die LTI
zur Pflichtlektüre erwählte, verstünde, danach lebte.
Sie tun’s nicht. Was sie interessiert, ist Glücksrad, „Wer
wird Millionär?“, Fliege und Richterin Barbara Salesch und
jede Menge sinn- und hirnloser Talkshows. Mit einem solchen Menschenmaterial
kann man alles machen. Adolf Hitler und seine Getreuen haben den entsprechenden
Beweis blutig erbracht.
Linguisten und Philologen gab es auch vorher schon. Herrn Klemperers
Verdienst ist es unter anderem, nicht allein die Sprache auf ihre Wurzeln
und inneren Zusammenhänge hin zu analysieren, sondern sie gleichsam
mit Röntgenaugen zu durchleuchten und für jeden verständlich
die einer deliberierten Wortwahl und –schöpfung zugrunde
liegenden Ziele darzustellen. Jedes einzelne Kapitel, jedes Thema ist
selbst für Leser mit geringerem intellektuellem Anspruch nachvollziehbar.
Die lebendige Sprache eines Könners, fesselnd und unterhaltsam.
Manchmal ist man versucht, über den gemütlichen Plauderton
des Erzählers Klemperer die fürchterlichen Umstände zu
vergessen, unter denen das Buch entstand; den Ernst des Themas zu verdrängen,
der dem Buch zugrunde liegt.
Natürlich werden es jüngere Leser, die in den sogenannten
westlichen Demokratien aufwuchsen, im Algemeinen ungleich schwerer haben,
die Sensibilitäten zu erfühlen, mit denen sich Herr Klemperer
dem Gegenstand seiner Betrachtungen annährt. Die prononcierten
Zwischentöne, das „Zwischen-den-Zeilen-lesen“, das
die ältere Generation und die gedienten „Ossis“ noch
so exzellent beherrschen. Wer in heilsverkündenden Diktaturen aufwuchs,
bringt in aller Regel den entsprechenden Erfahrungshorizont mit sich.
Die angesprochenen Sprachbeispiele sind so oder ähnlich aus dem
eigenen Erleben vertraut. Situationen, die heute als regelrecht skurril
anmuten, sind vielen von uns noch sehr gut erinnerlich. Man weiß,
hier ist einer, der saugt sich nichts aus dem Finger. Die Lektüre
entwickelt photographischen Charakter.
Damit ist der Klarheit in Herrn Klemperers Ausführungen keinesfalls
Abbruch getan. Was wir zwischen den Zeilen herauslesen, ist das unsagbare
Elend, das Menschen über andere Menschen im Namen der Macht gebracht
haben.
Gleich zum Anfang des
Buches erläutert Herr Klemperer die Entstehung des Titels. Dabei
erfahren wir beiläufig von der Abkürzungswut, die diktaturhörigen
Sprachen so oft zueigen ist. Nicht wahr, da gab es den Kolchos und den
Komsomol in der Sowjetunion (kollektiwnoje chosiaistwo = Kollektivwirtschaft;
kommunistitscheskije sowjetskije molodjoschij = Kommunistische Jugend)
und noch heut rollen über unsere Autobahnen die Lastkraftwagen
der Sowtransawto (sowjetskije transitnuije awtomobily), der ehemaligen
sowjetischen Staatsspedition.
Die D.D.R. hing der Abkürzungswut nicht minder an. Und wenn es
in der Nazizeit von SS und SA wimmelte, NSFK und NSKK, KdF und HJ, so
konterte die D.D.R mit GST und FDJ, FDGB und LPG. Diese kleine Auswahl
eines schier unerschöpflichen Vorrates an Abbreviaturen mag stellvertretend
an dieser Stelle genügen. Mit feinem Humor nahm Herr Klemperer
diese Unsitte auf, die der geistigen Bequemlichkeit der Massen entspringt
und – da Diktaturen auch gern zu martialischen Ausdrucksformen
neigen, die ruhig auch fremden Ursprunges sein können – verfiel
er auf den ungewöhnlichen Buchtitel. Anrührende Ohnmacht,
mit der sich ein Feingeist gegen die Herrschaft der Dummheit zu wehren
versucht.
Übrigens kann eine Abkürzung, so sie denn das ausgesprochene
Wort erst einmal erfolgreich verdrängt hat, durchaus perfide Dienste
leisten. Denn aus der Abkürzung geht der ursprüngliche Sinn
des Wortes oft nicht mehr unmittelbar hervor. Wer hat in der D.D.R.
noch an eine Deutsche Demokratische Republik gedacht, wo doch
alles Deutsche auf dem Index stand? Und war nicht selbst die herrschende
Partei die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands? Das
muß den Mitgliedern der SED doch spätestens seit den siebziger
Jahren peinlich gewesen sein!
Doch das nur am Rande.
Es ist hier auch nicht der Ort, die 36 in sich schlüssigen und
geschliffen formulierten Kapitel einzeln aufzuführen und deren
Inhalt vorwegzunehmen. Auch sollte eine Kritik nicht länger ausfallen
als das einzelne Werk. Aufgabe einer Buchbesprechung muß es sein,
auf das Werk neugierig zu machen, es nach Möglichkeit zu fördern,
wenn man es denn vorteilhaft beurteilt.
Herrn Klemperers LTI ließ uns zu der Ansicht gelangen, daß
hier ein Schlüsselwerk nicht nur der deutschen Sprache sondern
auch des Zugangs des einzelnen Menschen zu sich selbst verfaßt
wurde. Und das in Koinzidenz mit dem alten Merksspruch:
Achte auf Deine Gedanken –
Sie werden zu Worten.
Achte auf Deine Worte –
Sie werden zu Taten.
Achte auf Deine Taten –
Sie werden zu Deinem Charakter.
Achte auf deinen Charakter –
Er wird Dein Schicksal.
Die profunde Evidenz,
die diesen Zeilen innewohnt, hat Herr Klemperer am Beispiel des Nationalsozialismus
nachgewiesen und dieser hat mit seinem letztendlichen Scheitern die
unumstößliche Wahrheit dieser logischen Kette gesiegelt.
Es wäre zu wünschen, daß zumindest Menschen mit den
Allüren und dem Potential zur Macht diese Warnung akzeptieren und
nicht immer wieder auf dem Rücken vieler Millionen Menschen einen
Heilsweg suchen, der die Konsequenzen zu umgehen verspricht. Es gibt
ihn nicht. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Oder in der
Synagoge.