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Parzival Sonderartikel B. St. Fjöllfross Wenn die
Sprache auf die großen Epen des Abendlandes kommt, die sich mit
dem Menschen auf der Suche nach Gott, dem Innersten der Welt und
eigentlich nach sich selbst befassen, dann wird der halbwegs gebildete
Mensch des deutschen Sprachraumes mit großer Wahrscheinlichkeit
zuallererst den Faust des Johann Wolfgang von Goethe bemühen. Sicher
nicht zu Unrecht. Der Faust ist ein geniales Werk. Außer Zweifel.
In bis daher nicht gekannter Art und Umfang lotet Goethe die Abgründe
der suchenden, der ringenden menschlichen Seele aus und beschreibt
das Getriebe der Welt. Es gibt kaum ein schriftliches Zeugnis, das
ihm gleichkäme. Aber ich sage bewußt: kaum! Denn ein anderes Werk
verdient es tausendmal, mit dem Faust in einem Atemzuge genannt
zu werden: Der Parzival des Herrn Wolfram von Eschenbach. Gerade
so wie auch der Wikinger Leif der Glückliche, Sohn Eriks des Roten
fünfhundert Jahre vor Kolumbus die Neue Welt betrat, so pflügte
ein halbes Jahrtausend früher die Feder eines nicht minder genialen
und weltweisen Schriftstellers denselben Boden. Und ich wage zu
behaupten, Herrn Wolframs Kiel zog weitaus sublimere Furchen. Während
Goethe in wohlgesetzten Versen und Hexametern die Dinge auf den
Punkt brachte, schuf Herr Wolfram etwas Einzigartiges: Er erzählt
in seinem Buche von der Gralsburg Montsalväsch und es dämmert wohl
nur wenigen, daß sie diese Gralsburg in den Händen halten - in Gestalt
ebenjenes Buches. So wie sich Montsalväsch durch undurchdringlichen
Nebel selbst dem Wanderer entzieht, der dicht unterhalb seiner Mauern
läuft, so verkleidet sich auch Herrn Wolframs "Parzival" für den
Unberufenen in die Gestalt eines langatmigen Ritterromans, der jedoch
weitaus farbiger einherkommt, als alles andere, was zu dieser Zeit
im Schwange war. Von der Wucht der Sprache her und dem Ziel der
Handlung scheint der Parzival unmittelbar dem "Gilgamesch" zu folgen,
dem ältesten vollständig überlieferten Epos der Menschheit, das
die Taten des Halbgottes und ersten Königs von Uruk im Zweistromland
besingt.
Doch im "Parzival" steckt weitaus mehr: Dieses Buch ist eine hundertschalige
Zwiebel, der Stoff vielschichtig verpackt und unter der sicht- und
lesbaren Oberfläche mit einander verquickt und verbunden wie das
Myzel einer Pilzkolonie unter dem Waldboden. Scheinbar räumlich
und zeitlich weit voneinander entfernte Geschehnisse sind in direktestem
Bezug aufeinander abgestimmt, weisen auf einander, tiefste Symbolik
- nur den Wissenden und Denkenden vertraut - durchdringt die Handlung.
Während der Anspruch des Faust schon im Prolog deutlich formuliert
und dem Leser quasi der mit Weisheit gefüllte Löffel in den Mund
geschoben wird, kokettiert der "Parzival" mit seinem schlichten
Gewand. Gerad wie ein Bettelmönch, dem niemand ansieht, daß er die
höchsten Weihen des Geistes erhalten hat. Der Faust hingegen folgt
einer geraden, konsequenten Linie. Gravitätisch, autoritär scheint
er zu sagen: "Lies mich, lern mich - und wenn Du die nötige Reife
erlangt hast, dann versteh mich!" Nicht so der "Parzival". Er fordert
scheinbar nichts von seinem Leser. Er plätschert dahin. Aber wenn
der lebendige Geist angebissen hat, dann zieht er die Rute mit einem
Schwung an - dann fordert er alles, dann zwingt er. Und man muß
ihm folgen - denn er beherbergt den Gral! Nichts weniger. Tief im
"Parzival" ist er verborgen. Hinter hundert Schalen, hinter hundert
Vorhängen, hinter dem dichten Nebel von Montsalväsch.
Was der Gral ist? Dem einen dies, dem anderen jenes, so antwortet
Herr Wolfram. Und er hat recht: Ob er der Stein aus der Krone des
Leuchtentragers (gemeint ist der Teufel oder Lucifer = Leuchtentrager)
ist oder der Heilige Kelch, mit welchem das Blut Christi am Kreuze
aufgefangen wurde, ist völlig unerheblich. Er ist das selbst und
aus sich heraus leuchtende Licht, welches dem gequälten, suchenden
Menschen durch die Dunkelheit scheint. Die Dunkelheit der gefangenen
und von Zweifeln gepeinigten Seele. Er ist der wahrhaft kostbarste
Schatz der Christenheit:
Das Kreuz ist Mythos - der Gral aber ist wahr!!! Der folgende
Aufsatz wendet sich an Leser, die mit dem Stoff und der Handlung
des "Parzival" in der Fassung des Herrn Wolfram von Eschenbach weitestgehend
vertraut sind. Personen und Einzelsituationen aus diesem Werk, die
hier besprochen oder angeführt werden, müssen als bekannt vorausgesetzt
werden. Es handelt sich hierbei nicht um eine Besprechung des Werkes
oder seiner etwaigen historischen Hintergründe, sondern um eine
persönliche Annäherung an dieses gewaltige Epos, das meines Erachtens
einen persönlichen Heilsplan für das Seelenheil eines jeden suchenden
Menschen beinhalten könnte. Ein Werk, das, wenn es denn nur verstanden
werden würde, den Menschen zu weitaus mehr Innerem Frieden verhelfen
könnte, als das Heerscharen von Psychologen vermöchten. Aber ich
fürchte, das bleibt eine Illusion. Auch der Zen-Buddhismus und andere
Pfade der Erleuchtung bieten seit Jahrhunderten gangbare Wege aus
dem Leiden vieler an und werden doch nur von wenigen wahrgenommen,
angenommen, umgesetzt. Lichtenberg, der brillante Geist, formulierte
das in etwa so: "Was nützt dem Menschen sein Augenpaar, wenn es
kaum jemand zum Sehen gebrauchen will." Man kann das gleiche vom
menschlichen Verstand sagen.
Es ist der Kontext fast aller dieser Heilslehren, daß der Ursprung
des Leidens in unerfüllten Sehnsüchten steckt, in Leidenschaften,
denen sich der Mensch unterwirft, statt ihrer Herr zu werden, und
die ihn treiben und hetzen, bis er die Orientierung verliert, sich
gleichsam selbst verlierend in einem Chaos von Gefühlen und Irrationalitäten.
Um diesem Chaos zu begegnen, es zu parieren, ihm zu entkommen, ist
es notwendig, die Kunst des Loslassens zu erlernen. Man darf sich
nicht mehr von seinen Begehrlichkeiten tyrannisieren lassen, von
seinen Träumen oder Wünschen. Gelassenheit und Loslassen - beide
Worte nutzen den selben Stamm. Und das sicher nicht zufällig. Einem
Menschen, der in der Tradition des christlichen Abendlandes aufwuchs,
dürften diese Ideen nicht fremd sein - werden sie doch durch das
mönchische Ideal ebenfalls zum Ausdruck gebracht. Nur wollten die
christlichen Mönche die Welt, in die sie hineingeboren wurden, gleich
völlig loslassen und richteten ihre Sinne, insofern sie ihr Gelübde
ernst nahmen, auf ein spekulatives Jenseits. Ich bin kein Apologet
dieses Denkens: man muß sich nicht gleich von der Welt abkehren;
es reicht, wenn man den eigenen Inneren Schweinehund unter seine
Kontrolle bekommt.
Alle seriösen philosophischen Systeme und Religionen, die diesen
Weg propagieren, sind sich darin einig, daß es sich um einen sehr
steilen und steinigen Weg handelt. Es bedarf des unbedingten Wollens,
ihn tagtäglich neu zu erkämpfen. Ein Nachlassen auf diesem Wege bedeutet
erbarmungslos ein Zurücktreiben. Es ist einem Schwimmer vergleichbar,
der in einen Strom gesprungen das Schwimmen einstellt. Das Wasser
reißt ihn mit sich fort und spült ihn ins Meer. Alle diese Erfahrungen
mußte Parzival erleben und vor allem, erleiden, ehe das Bewußtsein
für die Vergeblichkeit aller Bemühungen in ihm reifte, die das Erzwingen
des Glückes zum Inhalt haben. Man kann um den Gral kämpfen, ertrotzen
läßt er sich nicht. Als er nach Jahren des Umherirrens zu diesem
teuer erkauften Schluß kam, als er seinen Hohen Anspruch aufgab,
als er Verzicht zu leisten bereit war, da erschien sein Name auf
dem Gral und die Gralsbotin Kundrie führte ihn zu der edelsten Krone
der Menschheit - der Krone des Gralskönigs, des Fischerkönigs. Parzival
konnte seinen fluchbeladenen Oheim erlösen, er konnte ihn auslösen,
er konnte endlich sich und andere von Schuld befreien, anstatt neue
Schuld anzuhäufen. Das ist eines der großen Mysterien, die der Gral
spendet und das, was er versinnbildlicht.
Es mag in den Augen geschulter paulinischer Theologen ketzerisch
und verwerflich klingen: Aber diese Leistung erscheint mir als das
zweite Große Angebot Gottes an seine durch die Mikrobe der menschlichen
Dummheit gepeinigte Kreatur zur Erlösung. Vielleicht eine Art Drittes
Testament. Diesmal ist es nicht des Herren Sohn, sondern ein armer
Narr, wenn gleich von hoher Geburt, der durch eigenes Leid den Weg
weist. Dieser arme Narr eben war der zukünftige und letzte bekannte
Gralskönig Parzival.
Viel ist über ihn geschrieben worden, auch schon lange vor Herrn
Wolfram von Eschenbachs epochalem Werk. Chretien de Troyes beispielsweise
hat die Gestalt des Parzival bearbeitet, die aus dem walisischen
Raum zu stammen scheint. Perlesvaus hat er geheißen und Parceval.
Und viele weitere Namen trug er. Es wird auch viel gerätselt über
die Bedeutung dieses nicht alltäglichen Namens. Die mir schlüssigste
Erklärung besagt, daß es sich um das altfranzösische "per ce val"
- "durch-das-Tal" handelt - einen "sprechenden Namen" also. Wir
kennen solche "sprechenden Namen" aus der eigenen Sprache. Denken
wir nur an Klaus Störtebeker, dessen Name impliziert, daß es sich
bei diesem Likedeeler-Chef um einen trinkfesten Mann gehandelt haben
muß. Im Falle Parzivals ist die namentliche Entsprechung hervorragend
gewählt, denn als menschliche Archetype durchwandert er sämtliche
Abgründe und tiefe Täler der menschlichen Seele und des ihm aufbefohlenen
Leides, bis er wieder, als gereifter Mann die lichten Höhen des
Glückes erreicht.
Einen Chymischen Zweig soll die Geschichte um ihn haben und auch
einen christlichen. Mönche haben die alte walisisch-heidnische Geschichte
ihrem Heilsplan angepaßt und sie teilweise entfremdet und umgedichtet.
Aber darum soll es an diesem Ort nicht gehen. Dieser Abhandlung
zugrunde liegt einzig und allein der Parzival Herrn Wolframs. Und
bitte - liebe Wagnerianer - schaut weg, überlest es! Mein Parzival
ist der Eure nicht!
Mein Parzival ist der Prinz von Wales und Norgals, Sohn der Königin
Herzeloide und König Gahmurets von Anjou. Mein Parzival ist der
arme Tropf, der Spring-Ins-Feld, der freundlich in diese Welt hineinsah,
ohne Arg, ohne Bosheit, der von ihr verhöhnt und verlacht wurde
und der Seinen Gott suchte und dessen Gral. Und Gott in diesem Gral.
Was der Gral ist und wie er aussieht? Da gehen die Ansichten auseinander.
Es wird zu seinen geschicktesten Tarnungen gehören, daß
über seine Gestalt so viele Meinungen herrschen, wie es Leute
gibt, die sich mit ihm befassen. Ich aber sage, er ist die tiefste
Wahrheit, die Versöhnung mit dem Leben und vor allem mit dem Tod
- er IST die Versöhnung mit Gott.
Ich erwähnte es schon: Viel gescheites und weniger gescheites
ist über diesen Mann geschrieben worden. Ich habe nicht vor, dem
ganzen Schrifttum ein weiteres Pamphlet hinzuzufügen, das sich mit
dem eventuell wahren Kern, den mystischen Hintergründen, dem historischen
Kontext, die tiefenpsychologische Analyse und was weiß ich für gelehrten
Sachen befaßt. Alle diese Dinge haben sicher ihre Berechtigung und
ich habe ihnen viel entnommen - auch, was meinen persönlichen Zugang
zu Parzival betrifft. Aber es war mein Leben, hauptsächlich mein
eigenes geschundenes Leben, was mich in ihm den Bruder und Leidensgefährten
sehen ließ. Vermessen, nicht wahr? Einen Gralskönig, einen Erwählten
Bruder zu nennen. Ich weiß! Und trotzdem tue ich es. An dieser Stelle
werde ich mich diesem Manne, diesem Ritter, diesem wahren Menschen
nähern, so wie er von Herrn Wolfram auf mich armseligen Geist überkommen
ist.
Parzival zog als Narr hinaus. Getrieben von dem Wunsch ein Leben
zu erkunden, wie es außerhalb der Einöde von Soltane existierte,
in die seine Mutter nach König Gahmurets Tod sich zurückgezogen
hatte. Hauptsächlich tat sie das, um ihren Sohn gerade vor diesem
Leben zu schützen. Welch hoffnungsloses Unterfangen! Es brach über
Parzival, der von Gut und Böse keine Ahnung hatte, glitzernd und
glänzend herein, in Gestalt dreier Ritter, deren Geschäfte sie nach
Soltane geführt hatten. Etwas derartiges war dem Jungen nie zuvor
begegnet. Er hielt sie für Gott, was diese jedoch in ritterlicher
Bescheidenheit von sich wiesen. Gleichviel. Er wollte werden, was
diese waren und so gaben ihm die Ritter den Rat, sich an König Artus
zu wenden, der allein ihn zum Ritter machen könne. Schweren Herzens
willigte die Mutter in sein Begehr ein und entließ ihn, angetan
mit dem Kostüm eines Narren. Sie hatte gehofft, das Narrenkleid
würde ihren Sohn vor der Verfolgung der Welt schützen, die zu erwartenden
Verhöhnungen würden ihn zu ihr zurücktreiben. Narrenrock und Schellenkappe
aber schützen niemanden. Sie sollten es tun, aber die Wirklichkeit
sieht oft anders aus. Der Narr ist ausgegrenzter und verletzlicher
als der Henker.
Und so gab ihm die Exil-Königin noch einige mütterliche Ratschläge
mit auf dem Weg, die höfisch -höflichem Betragen entsprachen, für
den jungen Fanten aber keinen rechten Sinn ergaben, weil diese Verhaltensnormen
in seiner Abgeschiedenheit bislang überhaupt keine Entsprechung
hatten. Als liebender Sohn jedoch versprach er sich an die mütterlichen
Weisungen zu halten. Es ist unter anderem Anliegen dieses Aufsatzes,
zu beleuchten, welch fatale Konsequenzen ein solches blindes Ordinieren
unreflektierter Vorgaben hat.
Es ist nur wenigen gegeben, "auff eynes fremden Mannes Arsch durchs
Feuer zu reutten...", wie ein altes deutsches Sprichwort sagt. Das
heißt, nur wenige verstehen sich darauf, allein durch Beobachtung
die Erfahrung anderer Menschen zu verarbeiten, zu abstrahieren,
in eigene Verhaltenscodizes einzubauen und umzusetzen. Die meisten
Menschen sind dazu verdammt, leidvolle Erfahrungen selbst zu machen,
mit eigenem Blut und eigenen Tränen für diese Erfahrungen zu bezahlen,
ohne im mindesten die Chance zu haben, die wohlgemeinten Ratschlägen
der Warner und Mahner adäquat zu verwenden. Tun sie es dennoch,
so kommen dabei oftmals so skurrile Situationen heraus, wie sie
Herr Wolfram den Parzival durchleben ließ. Sie sind an entsprechender
Stelle nachzulesen, da ich hier auf eine Gesamtdarstellung des Werkes
und seines Inhaltes weitestgehend verzichten möchte.
Diese skurrilen Situationen waren keineswegs durch die Bank weg
komisch - weder für Parzival, noch diejenigen, die das Unglück hatten,
in den Handlungskreis miteinbezogen zu werden, freiwillig oder unfreiwillig:
Für Jeschute, die unglückliche Frau des Herzogs Orilus beispielsweise
bedeutete der flüchtige, unvorbereitete und unvorhergesehene Kontakt
mit dem jungen Parzival Jahre der Schmach, Isolation und Demütigung,
des Verzichtes und der Trauer. Für den Vetter Parzivals, König Ither
bedeutete das Zusammentreffen mit seinem unerkannten Cousin gar
den Tod. Und Ither war einer der strahlendsten Ritter der Tafelrunde.
Parzivals Oheim, der von einem grauenhaften Fluch gequälte Gralskönig,
mußte weitere qualvolle Jahre auf die Erlösung warten, die ihm hautnah
schien - hätte Parzival die eine, die menschliche Frage gestellt,
die das Herz eines mitleidenden Menschen erfühlt: "Was quält Dich,
Oheim?" Aber so weit war Parzival noch lange nicht. Er war gefangen
in aufobtruierten Denk- und Verhaltensmustern, deren Herkunft und
Sinngehalt ihm noch ganz und gar verschlossen waren.
Was war die Schuld Parzivals? Die Schuld, die andere mit ihrem Lebensglück
bzw. gleich ganz mit ihrem Leben bezahlen mußten, ehe denn Parzival
selbst als Getriebener mit unendlichem Leid an das Abtragen dieser
ominösen Schuld ging.
Es ist schwer hier von Schuld zu reden. Parzival hat Zeit seines
Lebens nie auf Böses gesonnen, nie anderen willentlich oder wissentlich
Schaden zugefügt, keine Ränke oder Intrigen gesponnen - ganz im
Gegenteil: er versuchte vom ersten Augenblick die an ihn gestellten
Forderungen zu erfüllen, (so gut er sie verstand); sich angepaßt
und adäquat zu verhalten.
Und da eben liegt die Crux! Er verstand wohl den Wortlaut dieser
Forderungen, nicht aber deren Sinn. Woher auch? Die Einöde von Soltane,
in der er aufwuchs, sollte bewußt alle Konfliktsituationen von ihm
fernhalten, mit denen ein Mensch natürlicherweise konfrontiert wird,
wenn er denn in einem normalen Umfeld aufwächst. Herzeloide wollte
ihren Sohn vor dem "schädlichen" Einfluß bewahren, der ihrer Erfahrung
nach von einer Gesellschaft von Menschen zwangsläufig auf Heranwachsende
ausgeübt wird. Sie wollte Parzival in einem ihrer Ansicht nach "natürlichen"
Zustand aufziehen, um ihn so vor den Nachstellungen der Bosheit,
der Ignoranz, der Dummheit zu bewahren.
Das ist in etwa der selbe Trugschluß, der Millionen Hausfrauen alltäglich
treibt, ihre Wohnung steril und porentief rein zu halten, um die
Kinder vor dem Einfluß der als gefährlich begriffenen Bakterien
zu schützen. Diese Kinder werden nicht in der Lage sein, ein vernünftiges,
gut funktionierendes Immunsystem zu entwickeln und erkranken zumeist
hernach doppelt schwer.
So fehlte dem ansonsten sprühenden und behenden Geist Parzivals
schlichtweg das auf Erfahrung beruhende Vermögen, die Reaktionen
seiner Mitmenschen, als er denn auf sie traf, richtig einzuordnen,
zu bewerten und in deren Beantwortung er selbst zu bleiben. Er verleugnete
bewußt seine brillanten Anlagen zu Gunsten nicht hinterfragter und
daher nicht verstandener Phrasen und Verhaltensnormen. Wenn überhaupt,
dann ist genau darin seine Schuld zu suchen: Der vorgeschobene "Befehlsnotstand",
wie wir heute sagen würden, der die Forderungen menschlichen Verhaltens
in den Hintergrund treten läßt.
Entlastend für Parzival wirkt unbedingt der Umstand, daß er zu keiner
Zeit gegen besseres Wissen handelte. Und daß er bereitwillig und
ohne zu Zögern begann, den Ursachen des Leides nachzugehen, das
er mit seinem Verhalten über sich und andere gebracht hatte. Jedoch
- und das galt auch für den Prinzen von Wales und Norgals, Dummheit
schützt vor Strafe nicht.
Was ich im nachfolgenden schreibe, wird sicher nur wenigen verständlich
sein. Sei es drum! Herrn Wolframs Gralsgeschichte ist im Unterschied
zu anderen gleichgearteten Epen kein Ritter- oder Abenteuerroman
schlechthin. Nur bescheidenere Geister werden ihn ausschließlich
zur Unterhaltung nutzen und zu seinem eigentlichen Wert, seiner
vordergründigen Aussage keinen Zugang finden. Dieses Opus beschreibt
mit unerhörter Wucht und von mehr als faustischer Qualität die Suche
des strebenden Menschen nach sich selbst, nach Gott und - wenn wir
beides mit einem Begriff vereinigen wollen - nach dem Gral. Weder
die Kuh auf dem Feld noch der in den Tag hinein lebende Mensch werden
je begreifen oder sich auch nur im mindesten dafür interessieren,
was der Gral ist, und welch immense Bedeutung ihm für die suchende
Seele zukommt. Bestenfalls wird man sensationslüstern einige Abhandlungen
vertilgen, die den Gral auf eine Schale, einen Abendmahlskelch,
einen verschollenen Templerschatz oder gar einen rituellen keltischen
Kessel reduzieren. Einen der größten Besitztümer der Christenheit...und
so weiter. Bla, bla, bla. (Diesen Anspruch erfüllt wohl nur
die Bergpredigt jenes armen Wanderrabbis zu Jerusalem und die ist
in jeder gutsortierten Buchhandlung für ein paar Groschen erhältlich.
Nur wird die Inanspruchnahme dieses Schatzes selten wahrgenommen.)
Und auch die vorgenannte Literatur zielt letzten Endes nur darauf
ab, den Gral zu materialisieren und damit zu einem Handelsobjekt
zu degradieren, der durchaus bei Sotheby's verhökert werden könnte.
Das ist er nicht!
Er ist das Sinnbild des suchenden Menschen nach sich, nach seiner
inneren Mitte, dem Ruhepol der Seele - dem Frieden mit sich selbst.
Dieser Gral ist unveräußerlich. Sich ihm zu nähern erfordert einen
brutalen, lebenslangen Kampf, dessen Ausgang höchst ungewiß ist.
Zum Gral werden nur wenige berufen, lehrt uns Herr Wolfram. Aber
wer das Glück und gleichzeitig das Unglück hatte, ihn auch nur von
ferne zu sehen, ist ihm unrettbar verfallen. Dieser Mensch ist der
höchsten Freuden fähig, ist aber gleichzeitig umringt von einer
Mauer des Inneren Leidens - eines Leidens, das ihn unablässig vorwärts
treibt.
Herr Wolfram beschreibt die Gralsburg Montsalväsch (Berg der Erlösung)
als in einem undurchdringlichen Nebel liegend, unberufenen Passanten
selbst auf ein paar Schritt Entfernung nicht erkennbar. Das ist
eine Metapher! Es ist sinnlos, hinter dieser Beschreibung den Montsegur
der Katharer vermuten zu wollen, nur weil es um diese letzte Festung
herum vielleicht öfter mal diesig ist. Wer solche abstrusen Ideen
entwickelt, hat entweder das Wesen des Grals nicht begriffen, oder
aber er ist auf Beutelschneiderei aus, oder beides zusammen. Es
bedeutet nichts anderes, als daß schon Herr Wolfram erkannte, daß
nur ein geringer Teil der Menschheit zu dem in der Lage ist, wozu
der weitaus größte Teil seiner Anlage entsprechend befähigt wäre:
Nämlich die Welt und das sie Umgebende mit dem geistigen Auge, dem
Verstand und der Seele zu durchdringen. Aber sie tun's nicht - weil
sie nicht wollen! Es ist ihre Ignoranz, die sie verhindert - nicht
ihre fehlende oder unterentwickelte Veranlagung! Und diese Ignoranz
ist es, was Herr Wolfram mit dem Nebel umschreibt. Das Gros der
Menschheit interessiert sich fast ausschließlich für die Befriedigung
der existentiellen Bedürfnisse und unterscheidet sich in diesem
Punkte durchaus nicht vom Vieh - nur eben, daß letzteres der menschlichen
Bosheit ermangelt. Auf dem Weg zum Fußballstadion, in dem ihnen
die Schau eines Ersatzkrieges geboten wird, zertrampeln die Horden
rasenlatschend die Butterblume am Wegesrande, ohne sich im mindesten
oder auch nur einen Augenblick der Einmaligkeit dieser Pflanze,
dieser Kreatur Gottes bewußt zu sein. Das ist der Nebel, der die
Burg Montsalväsch umhüllt - diese "unbedeutende" Butterblume ist
der undurchdringliche Nebel!!!
Es gäbe zuviel davon, als daß man einer einzelnen Butterblume einen
solchen Respekt zollen sollte? Wieviel sind sechs Milliarden Menschen?
Bannte man sie alle auf eine Photographie - was unterschiede sie
dann aus der Ferne betrachtet von den Butterblumen und den sie umgebenden
Grashalmen? Diese Einstellung, die dazu führt, die Demut vor Gott
und seiner Schöpfung zu verlieren bzw. gar nicht zu kennen, macht
das Land krank und öde. Das ist eine der Lehren, die wir aus der
Geschichte von Parzivals Vorgänger auf dem Gralsthron, seines Oheims
König Anfortas, ziehen. Das öde Land. Ist es nicht eine Beschreibung
des Inneren Zustand eines Menschen, der mit sich uneins ist und
sich gleichsam dann auf sein Umfeld überträgt? Ist denn die Umgebung
eines Menschen nicht ein Spiegelbild seiner Seele? Kann eine noch
so malerische Umgebung von einem an der Seele kranken Menschen als
malerisch empfunden werden, oder paßt er nicht vielmehr, was er
sieht, seinem Zustande an? Und kann im Umkehrschluß nicht ein Mensch,
der in sich stabil ist, nicht noch der widrigsten Umgebung etwas
Gutes abgewinnen? Selbst ein grauer, kalter, verregneter Herbstwald
strahlt eine immense Majestät aus, wird sie vom Auge eines solchen
stabilen, in sich ruhenden Menschen eingefangen. Das beweisen uns
die Bilder des russischen Malers Iwan Schischkin. Dem Melancholiker
aber tut selbst der blaue Himmel weh!
Was aber bedeutet, mit sich nicht im Reinen, uneins zu sein? In
vielen Fällen liegt dem die Diskrepanz zugrunde, die entsteht, wenn
wir nicht mit dem zufrieden sein können, was uns geboten wird und
das Vorhandene am Zollstock unserer Wünsche und Erwartungen messen.
Das Leiden tut sich auf, wenn wir das Glück erzwingen wollen und
merken, daß es sich unserem Zugriff entwindet wie ein schlüpfriger
Aal. Und selbst wenn wir dann geschafft haben, was uns der Inbegriff
unseres Glückes deuchte, so stellen wir oftmals fest, daß der dafür
gezahlte Preis so enorm hoch war, daß rechte Hochstimmung nicht
aufkommen will. Das Glück ist ein sehr launisches Weib, was einem
am ehesten nachläuft, wenn man ihm die kalte Schulter zeigt.
Eben diese Erfahrung ist es, die Parzival so teuer erkaufen mußte.
ER, der sich selbst um der anderen willen verbog, der sein eigenes
Empfinden hinter das falsch verstandene Regelwerk menschlichen Zusammenlebens
zurückstellte, bekam entgegen seinen Erwartungen eine böse Quittung
ausgestellt. Natürlich ist Anpassung gefordert, wenn man in einem
Kreise von verschieden gearteten Menschen bestehen will. Aber Anpassung
um jeden Preis, unter Aufgabe der eigenen Identität bedeutet Gesichtsverlust,
am Ende Persönlichkeitsverlust, Verlust all dessen, um dessen Gewinn
man doch eigentlich bemüht war.
Die Höflichkeit darf sich nicht hinter Normen und Floskeln verstecken
- sie muß aus dem Herzen kommen. Aber dieses Herz gilt es zunächst
einmal zu entdecken. Wer immer es nicht bei sich zu finden vermag,
wird Zeit seines Lebens nur eine hohle Hülse sein. Austauschbar,
verzichtbar. Und ein Mensch wird erst in dem Augenblick wertvoll,
in dem er sich überhaupt nur auf die Suche nach diesem Herzen macht.
In der morgenländischen Heimat von Parzivals farbigem Halbbruder
Feirefiz pflegt man zu sagen: Allah prüft die Herzen der Menschen.
Und wehe dem, bei dem es nichts zu prüfen gibt! Das sind die verlorenen
Seelen, an denen der Allmächtige seine Kunst verschwendet hat.
Daher wage ich ohne profunde theologische Vorbildung zu sagen: Als
Parzival in seiner größten Seelennot seinem Gotte abschwor, war
er ihm am nächsten. Und genau darin sehe ich das grundlegende Heilsversprechen,
das dieser gewaltigen Saga zugrunde liegt: Durchaus diesseitig gemeint,
konkret dargestellt, überprüfbar, hebelt es sämtliche Jenseitsversprechungen
und -visionen aller möglichen religiösen Denksysteme mit Leichtigkeit
aus. Es führt den suchenden Menschen auf sicheren Pfaden, wenn er
sich denn leiten läßt, ohne ihn zu betrügen oder auszunutzen.
Es lehrt, daß zuerst die innere Oednis begrünt werden müsse, ehe
denn die äußere Welt ein angenehmes Gesicht zu zeigen beginnt. Und
nicht umgekehrt! Wenn sich die äußeren Umstände unseren Wünschen
fügen, so ist dies selten ein Fundament dauerhaften Glückes. Bestenfalls
eines kurzlebigen Hochgefühls. Vielmehr tritt oft ein Zustand der
Gewöhnung ein, der den von Fortuna Geküßten um so tiefer stürzen
läßt, wenn sich das wetterwendische Weib namens Glück wieder von
ihm wendet. Man beachte diesbezüglich die soziologischen Arbeiten
zur Entwicklung von Leuten, die unverhofft über einen großen Lottogewinn
"stolperten". Dem Rausch folgte nur allzuoft brutale Ernüchterung
und bald fand man diese Bedauernswerten in einem Tal tiefer Verzweiflung
wieder - den Reichtum durchgebracht (weil nie reell erworben) und
fluchend auf diese "Scheißwelt". Dabei haben sie nur versucht, durch
Korrektur äußerer Umstände und Gegebenheiten - was ihnen mit dem
geschenkten Gelde möglich erschien - ihrem Verständnis von Glück
Entsprechung zu verschaffen. Mangels Masse konnte aber ihr "Inneres
Potential" nicht im gleichen Maße mitwachsen. Und so endete das
hoffnungsvoll begonnene Experiment am lichten Morgen in der Gosse.
Man könnte auch sagen, sie waren ihrem Gewinn nicht gewachsen. Es
wäre vom Herren der Welt am Ende vielleicht gnädiger gewesen, hätte
er diese unglücklichen Kreaturen mit einem "Inneren Lottogewinn"
überschüttet, einer Art Erleuchtung oder einem Geistesblitz, statt
sie mit einem Haufen Geld zu versehen. Von dieser Erleuchtung hätten
sie ein Leben lang zehren können: Ein solcher Gewinn ist beinahe
unvergänglich. Parzival hat sich diesen Schatz hart erkämpft.
Er hat es tun müssen. Denn auch ihm wurde die Gnade unverhofften
Glückes zuteil, als er dem Oheim, dem Fischerkönig zum ersten mal
begegnete. Der wies ihm den Weg zur Gralsburg, deren Herr er ja
war und der "Lottogewinn" lag vor Parzival ausgebreitet. Er hätte
nur noch zugreifen müssen. Und genau wie unser obengenannter Prolet
mit dem Sechser verspielte Parzival mit einer einzigen Fehlentscheidung
Jahre seines Lebens.
Ich halte nicht viel von Konjunktiva. Aber an dieser Stelle ist
wohl eine Ausnahme angebracht: Was wäre gewesen, wenn Parzival in
Montsalväsch nicht verschämt das Maul gehalten hätte, wie es scheinbar
höfische Sitte erforderte? Wenn er nicht aus dem Drange des mitfühlenden
Herzens, das den bitteren Becher des eigenen erfahrenen Leides bis
zum Überdruß hatte leeren müssen, gefragt hätte, sondern aus Neugier
oder gar Sensationslust? Der tumbe Fant Parzival wäre der nächste
Gralskönig geworden und hätte die bedeutungsschwerste Krone der
Christenheit getragen. Ein weltfremder, unreifer Gauch auf dem Thron
des Abendlandes, der das Maß und die Richtschnur der Moral des Abendlandes
darstellte! Die Katastrophe, die Anfortas mit seinem verwerflichen
Handeln eingeleitet hatte und unter der er schon so lange und so
unerträglich litt, wäre perfekt gewesen. Sie hätte das Land endgültig
in den Ruin getrieben.
Man könnte fast sagen, der Gral verweigerte sich Parzival, verweigerte
sich einem weiteren unreifen Hüter.
Für uns bedeutet das nichts weniger, als daß wir nicht verpaßten
Gelegenheiten hinterher trauern, sondern sie vielmehr als wertvolle
Bausteine in unsere Biographien mit einbauen sollten.
Goethe drückte den selben Sachverhalt ähnlich aus, als er sagte:
Was von Deinen Vätern Du ererbt, erwirb es, um es zu besitzen!
Wer etwas erwerben will, um es zu besitzen, der muß den Gegenstand
seines Begehrs kennen. Er muß ihn wertschätzen, sonst entrinnt er
ihm wie Sand zwischen den Fingern. Das war die Schule, die Parzival
auferlegt wurde, als das Tor von Montsalväsch hinter ihm zuschlug
- ein ähnliches durchleben tagtäglich einige andere Menschen auch.
Viele dieser verpaßten Chancen hatten einmaligen Charakter
und bieten sich nie wieder. Auch hier ist es müßig, ihnen hinterher
zu greinen. Hat man schon einmal Zeit vertan, als man sie versäumte,
so vertut man mit dem sinnlosen Gejammer ein zweites Mal kostbare
Momente. Und dieser Schaden summiert sich zu dem ersten unnützerweise
dazu. Also heißt es klüger werden und weitersuchen.
Aber kamen wir nicht zu dem Schluß, daß gerade das Suchen dem Erreichen
des Zieles abträglich ist? Und jetzt weitersuchen? Das schließt
sich doch gegenseitig aus! Wie geht das zusammen? Es paßt! Dem Anschein
zum Trotz! Ja mehr noch, es bedingt sich sogar wechselseitig wie
das Chaos und die Ordnung, die ja ebenfalls beide gegensätzlicher
Natur scheinen und nichtsdestotrotz die elementaren Bestandteile
der selben Schöpfung sind. (Wobei jedwede Ordnung nur ein sterbliche
Tochter des allmächtigen, äonenumfassenden Chaos ist und dieses
hinwiderum seinerseits dem Nichts entstammt, zu dem es am Ende aller
Zeiten wieder zurückkehren wird.)
Wenn wir beides vergleichsweise zueinander in Beziehung setzen,
so läßt sich vorsichtig formulieren, daß wir die Suche dem Prinzip
der Ordnung und den Weg der Gelassenheit dem des Chaos' zugesellen
können. (Cave! Mit dem Chaos ist nicht der Zustand gemeint, den
wir so oft in den Behausungen der Mitmenschen oder deren Hirnen
antreffen. Wir sprechen an dieser Stelle von der Welt der Fraktale,
der ungerichteten und ziellosen Brownschen Molekularbewegung, der
verschwommenen Elektronenpositionen, der Paulischen Unschärfe, die
alle zu einem führen - zu statischen und klar definierbaren Naturgesetzen.
Irgendwo dazwischen muß die Wohnung Gottes liegen.) Um bildlich
zu sprechen: Keine zwei Kiefern, keine zwei Schneeflocken auf dieser
Welt sehen gleich aus - und doch erkennen wir jeden einzelnen Kiefernbaum
auf den ersten Blick als solchen an unveränderlichen Merkmalen,
die den überwiegenden(?) Anteil des Erscheinungsbildes des Gegenstandes
bilden.
Nein, es ist alles eine Frage der Balance, des Ausgleichs. Das angestrebte
Gleichgewicht zwischen einander widerstrebenden und gegensätzlichen
Kräften ist überhaupt der Dreh- und Angelpunkt der Welt,
der Zustand der höchsten Entropie, wie die Thermodynamiker
sagen, des größtmöglichen Chaos'. Eben des Chaos',
das für die Dauer des Bestehens des Alls von der Ordnung gestört
wird, die sich verzweifelt gegen die übermächtige Mutter
zu behaupten sucht.
Wir können aber auch getrost von einer Gratwanderung sprechen.
Diese Gratwanderung, der jede lebendige Kreatur unterworfen ist
und die oftmals den Unterschied bedeutet zwischen Sein und Nichtsein,
ist es auch, die uns zwingt, den Weg zwischen Suchen und Nichtsuchen
zu finden. Und wenn wir nur wenige Zoll abweichen von dieser ideellen
Linie, dann werden wir stürzen: In das Dickicht der Verwirrungen,
der Desorientierung, der Einsamkeit.
In diesem Sinne erscheint der Teil der Bergpredigt, der diejenigen
selig preist, die da arm sind im Geiste, in einem neuen Lichte -
auch wenn es so sicher nicht gemeint war. Aber manchmal beneide
auch ich die Menschen, die blind auf dem Inneren Auge, ihre Lebensbahn
instinktiv abschreiten und der Ungeheuer nicht gewahr werden, die
am Wegesrand lauern. Zwischen Scylla und Charybdis segeln wird eben
nicht dadurch erbaulicher, daß man um die Natur der beiden
Chimären weiß. Die Gefahr hingegen bleibt dieselbe. Sollte
sie den unbedarften Reisenden jedoch ereilen, so bleibt ihm wenigstens
noch das Gefühl, das Unglück den Launen des Schicksals
oder dem unerfindlichen Ratschluß Gottes zuzuschreiben. Und
wenn man es recht bedenkt und mit dem Auge des Thermodynamikers
betrachtet: so verkehrt liegen die Blinden damit gar nicht...
Ich persönlich erwärme mich für die Angebote, die
das Tao-de-jing bietet: 30 Speichen umkränzen die Nabe. Dort,
wo nichts ist, liegt der Sinn des Rades. Das Fenster höhlt
die Wand des Hauses. Dort, wo nichts ist, liegt der Sinn des Fensters.
Scheinbare Paradoxa bilden das Rückgrat dieser wunderbaren
Welt. Sie verleihen ihr mehr Zauber, als alle Feen und Magier zusammen.
Wenn ich nun diese Lehren auf unseren Parzival übertrage, so
erkenne ich, daß die vollkommene Leere, die Wunsch- und Bedürfnislosigkeit
den perfekten Weg des Suchens darstellt. Eben das sagt auch der
Zen-Buddhismus und der auf ihm beruhende kalte, steinige und leere
Weg des Tees (Cha-do), den uns große Meister wie Zen-no-Rikyu
gewiesen haben. Ich vermute, das große christliche Mystiker
und Denker wie Meister Eckehard, Benedikt von Nursia und Bernhard
von Clairvaux dasselbe zum Ausdruck brachten. Nur haben die sich
teilweise so artikuliert, daß der Inhalt dem Normalsterblichen
verschlossen bleibt.
Wenn ich das sage, so ist mir bewußt, daß die Gefahr
groß ist, mißverstanden zu werden: Das Anstreben der
Inneren Leere bedeutet keinesfalls, noch träger und unbewußter
dahin zu vegetieren als die Stubenfliegen und die Rinder auf der
Weide. Das Gegenteil ist der Fall. Störende Grübelei wird
entfernt um Platz zu schaffen für ein klares und kaltes Bewußtsein.
Ein wunderschönes mittelalterliches chinesisches Gedicht, der
Kido, beschreibt das Ziel dieses Weges präzise. Es soll diesen
Schriftsatz beschließen:
Die Blätter sind
vom Baum gefallen,
Plaue an der Havel, den 12. Mai 2003
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