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Ethos in der Medizin...

Sonderartikel
An die Ärzteschaft

Im Gedenken an Herrn Professor Dr. Erwin Payr
* 17. Februar 1871 Innsbruck† 6. April 1946 Leipzig
Herr Professor Dr. Erwin Payr
Herr Professor Dr. Erwin Payr, Chirurg

 

Die nachfolgenden Worte gehören zu den schriftlichen Schätzen, die wir besitzen. Wir stellen sie in den Preußsichen Landboten ein, damit sie einer größeren Öffentlichkeit zugänglich werden. Vor allem eine zunehmende Anzahl von Vertretern der Weißen Zunft möge sich erinnern, welche Werte einst dem ärztlichen Ethos zugrunde lagen, bevor der Allmächtige Dollar seinen Siegeszug auf dem Gebiet der Versorgungsmedizin antrat....

Imposant an diesem Dokument ist unter anderem der hervorragende Sprachgebrauch. Der Text ermangelt vollständig den "dinglischen" Sprachvergewaltigungen, die oft nur davon zeugen, daß der Anglizismen-Benutzer unfähig ist, sich in der einen wie der anderen Sprache seinem prätendierten geistigen Vermögen entsprechend auszudrücken. 

Für Interessierte: Der Autor des nachfolgenden Memorandums ist Professor Dr. Erwin Payr, der Lehrer Otto Kleinschmidts.
Im Auftrag des Preußischen Landboten, B.St.Fjöllfross, Chefredakteur des Preußischen Landboten

 

 

GEH. MED.-RAT PROF. DR. PAYR                                                LEIPZIG C1, DEN .......................................193....     

DIREKTOR DER CHIRURG. KLINIK       MOZARTSTR. 7

                                                                                                                                TEL. 325 50

 

                            Lieber   Herr

                            Die nachfolgenden Zeilen sollen Sie über die wichtigsten Grundsätze und Richtlinien Ihrer künftigen Tätigkeit in unserer Klinik unterrichten.

                               Drei Leitsätze sind es, welche ich als Lehrer jüngerer Chirurgen als Richtlinien in den Vordergrund stellen muß: Wahrheitsliebe, unbedingte Zuverlässigkeit der Arbeit und reinliche Anzeigestellung. Jeder muß lernen, jeder macht Fehler. Einen begangenen Fehler verschleiern, halte ich für das Ergebnis eines Charakterfehlers. Gerade deshalb ist das Gelöbnis unbedingter Wahrheit die Vorbedingung meines Vertrauens. Aus einem begangenen Fehler lernt man, ihn künftig zu vermeiden. Einen eingestandenen Irrtum, ein zugegebenes Versehen oder Versäumnis habe ich noch nie einem meiner Mitarbeiter ernstlich verübelt, wohl aber kann ich Versuche, solches zu verschleiern, nicht verzeihen.

                                Gewissenhafte Pflichterfüllung im Dienste ist gleichfalls eine unerläßliche Bedingung, um sich mein Vertrauen zu sichern. Das gilt nicht nur für die Tätigkeit am Kranken, sondern auch für die Abfassung der Krankengeschichten.  Sie sind, wie auf jeder vorgedruckt steht, als Urkunde aufzufassen. Sind sie schlecht, schleuderhaft und lückenhaft geführt, so bedeutet das oft einen schweren Schaden für den betreffenden an der Klinik behandelten Menschen in gesundheitlicher als in sozialer Beziehung, ebenso aber schädigt solches die deutsche Wissenschaft, welche bei der Abfassung von Mitteilungen und größeren Abhandlungen auf sorgfältigst geführte Krankengeschichten angewiesen ist. Es soll alles, was irgend von Belang ist, in ihnen zu finden sein. Lieber zu viel als zu wenig. Besonders die Befunde sollen mit größter Genauigkeit verzeichnet sein. Kein Untersuchungsergebnis darf fehlen. Sie sollen übersichtlich und sauber geführt sein. Die Vorgeschichten sind gleichfalls von großem Wert. Wenn ein junger Volontär sie erhebt, so fehlen viele Dinge, welche von größter Bedeutung sein können. An einer guten Anamnese erkennt man einen guten Arzt!

                                Unter reinlicher  Anzeigestellung verstehe ich, daß das Für und Wider einer Operation mit größter Gewissenhaftigkeit abgewogen werden muß. Der Wunsch jüngerer Chirurgen geht begreiflicherweise dahin, möglichst viel zu operieren, um sich die notwendige Technik und damit das Gefühl der Sicherheit anzueignen. Gerade deshalb fällt die Bilanzrechnung nicht immer so aus, wie sie sein sollte.

                                Jeder jüngere Chirurg sollte bei jedem Zweifel, bei jedem Gefühl der Unsicherheit sofort einen älteren Kollegen um Rat fragen, ihn um seine Mitarbeit bitten.

                                 Manche vermögen dies nur schwer, weil es ihre Eitelkeit verletzt, einen Erfahrenen um Rat zu ersuchen. Es geht aber um Gesundheit, Glück und Leben eines Mitmenschen. Das sind so hohe Ziele, daß jedes persönliche anderslautende Empfinden unbedingt zurückgestellt werden muß. Bei jeder chirurgischen Handlung muß man sich die Frage vorlegen, was würdest Du jetzt tun, wenn es sich um einen Dir besonders lieben und teuren Menschen handeln würde?

                                    Die chirurgische Technik als Kunst kann man in sehr vielen Kliniken und Heilanstalten unter der Führung geeigneter Meister erwerben, wenn man dazu die persönliche Veranlagung besitzt.

                                Die Reinheit der Anzeigestellung, die Ethik der peinlichen Führung von Krankengeschichten kann man nicht lernen, wie das Operieren. Das sind Dinge, auf die man vom Führer der Klinik von Anfang an und immer wieder aufmerksam gemacht werden muß, so daß sie schließlich in Fleisch und Blut übergehen, wie die Regeln der Asepsis. Aber ein Fehler gegen die Sauberkeit im Kampf gegen die Bakterien wiegt weniger, als ein solcher gegen die Sauberkeit der Pflichterfüllung

                                        Die  Erfolge, welche meine Schule bisher aufzuweisen hat, verdankt sie meiner Überzeugung nach meinen unablässigen Bemühungen, meine jüngeren Mitarbeiter zu Ärzten mit einem reinen Gewissen zu erziehen. Jede Handlung soll sich so vollziehen, als ob sie unter dem Auge des Direktors oder seiner unmittelbaren Stellvertreter sich abspielen würde. Das Gefühl: "Das war nicht in Ordnung, aber glücklicherweise hat es niemand bemerkt" soll es in meiner Klinik nicht geben!

                                        Seien Sie gut und warm mitfühlend, freundlich gegen die Kranken, auch wenn sich unerfreuliche Charaktere unter ihnen finden, ein kranker Mensch ist für uns Ärzte kein Charakterproblem, sondern ein Objekt für treueste Pflichterfüllung.

                                        Kameradschaftlichkeit gegenüber Ihren Mitarbeitern, Ruhe, Sicherheit und Gerechtigkeit gegenüber dem klinischen Personal sind gleichfalls Einstellungen und Aufgaben, welche Ihnen das Leben und Arbeiten in dem Gemeinwesen einer chirurgischen Arbeitsstätte erleichtern werden. Bei der Größe des Ärztestandes ist es selbstverständlich, daß nicht alle Herren menschlich gut zueinander angestimmt sein können. Zank und Hader an einer Klinik schädigen nur den Betrieb, den Kranken, die wissenschaftliche Leistung und letzten Endes die streitbaren Geister selbst.

                                            Im allgemeinen ist der Ton an meiner Klinik in den 25 Jahren, welche ich Ordinarius  bin, immer ein kameradschaftlicher gewesen. Unbedingter Gehorsam gegenüber dem Vorgesetzten ist eine selbstverständliche Pflicht.

                                               Damit begrüße ich Sie als neuen Mitarbeiter und wünsche Ihnen eine Sie selbst befriedigende Arbeits- und Lernzeit in unserem Hause, welchem auch Sie durch Ihre Tätigkeit hoffentlich möglichst viel geben werden, als

                                                    Ihr aufrichtig ergebener     

© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2003