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Der Baron auf den Bäumen
von Italo Calvino
K. K. Bajun
„Am 15. Juni 1767 beschließt
Baron Cosimo Piovasco di Rondo aus Ombrosa, die Erde zu verlassen, um
auf den Bäumen zu leben. Er erhebt sich von der Familientafel,
klettert hinauf auf eine Steineiche und wird den Boden nie mehr betreten…“
So stellt sich ein Buch
vor, dessen Thema zwar etwas skurril anmutet, aber dennoch auf den ersten
Blick neugierig macht. Und so habe ich es anfänglich gelesen, um
es dann mit jeder gewonnenen Seite mehr und mehr zu verschlingen, ja lustvoll
auszuschlürfen. Ein anderer Baron, der von Münchhausen, hätte
am abendlichen Kaminfeuer sein Publikum nicht besser unterhalten können.
Im Gegensatz zu dessen Erzählungen aber besteht Calvinos kleines
Opus aus einer in sich geschlossenen Geschichte. Nämlich der Geschichte
eines jungen Mannes, der in seinem 13.Lebensjahr aus Trotz einen Baum
besteigt, um bis zu seinem Lebensende keinen Fuß mehr auf die Erde
zu setzen.
Nicht, daß er auf diesem einen Baum geblieben wäre. Nein, er
erschließt sich einen völlig neuen Lebensraum. Abseits von
den Normen seiner Gesellschaft, verlegt er seinen Alltag über die
Köpfe derer, die die ihn drückenden Normen und Regeln erst schufen.
Hier oben, in seinem Reich, wird er zum unangefochtenen Autokraten.
Geschrieben wurde dieses ungewöhnliche Buch von einem Philosophen,
auch wenn dieser Literatur studierte und als Journalist und Verlagslektor
arbeitete. Und hier bekommt Philosophie einen ganz ungewöhnlichen,
neuartigen Ausdruck verliehen, der vielleicht seit Diogenes’ Zeiten
so neuartig nun auch wieder nicht ist. Die Konsequenz, mit der Herr Calvino
seinen Protagonisten den eingeschlagenen Lebensweg durchhalten und verfechten
läßt, ist bestechend. Amüsiert und nachdenklich zugleich
liest man sich durch eine mediterrane Welt des 18. Jahrhunderts, die von
den Stürmen und Umbrüchen dieser Epoche bis hinein in diesen
entlegenen Winkel am Meer gefolgt wird.
Der kauzige Baron beschränkt sich nicht etwa darauf, einsam von Ast
zu Ast zu springen. Am gesellschaftlichen Leben nimmt er regen Anteil,
verliebt sich gar, organisiert Widerstand gegen Waldbrände und ausländische
Invasionsarmeen, verrichtet in den Weinbergen gärtnerische Arbeiten,
zettelt Steuerrevolten an, bildet sich und korrespondiert mit den führenden
Köpfen Europas, interessiert sich für alles und jedes, partizipiert
an allem und jedem.
Regelrechte Baumstraßen stehen ihm zur Verfügung, deren er
sich scheinbar mühelos bedient um bis in entlegene Orte zu gelangen.
So zu einer Nachbarstadt, in der gleich ihm aufgrund einer idiotischen,
bürokratischen Verordnung eine kleine Gesellschaft exilierter spanischer
Granden und Hidalgos mitsamt ihrem Anhang, Frauen und Kindern auf den
Bäumen lebt. Nach dem Wechsel der politischen Konstellation in deren
Heimat jedoch wird es dieser Gemeinschaft möglich, ihr ungewöhnliches
Exil zu verlassen. Ihn jedoch, den Baron Piovasco di Rondo, versuchen
sie vergeblich zu überzeugen, gleich ihnen von den Bäumen herabzusteigen
und ihrer Einladung nach Spanien zu folgen. So bleibt ihm denn bis auf
wenige gelegentliche Besuche nur wieder die selbst gewählte Eremitage.
Hier nun führt uns der Autor auf einen Streifzug durch die Botanik
seiner Heimat. Ein wahres Kaleidoskop von Bäumen läßt
er rund um Ombrosa wachsen. Als Laie staunt und wundert man sich über
diese Vielfalt und ich muß gestehen, seit ich dieses Büchlein
genossen habe, gehe ich zwar noch immer unwissenden, dafür aber aufmerksameren
Auges durch unsere Parks und Wälder, schenke unseren stummen, großen
Mitkreaturen und ihren Blätterdächern mehr Beachtung. Denn die
verdienen sie. Auch das ist eine unterschwellige Botschaft, die uns dieser
wahrhaftige Narr mitteilt, der das gewöhnliche „Erdenleben“
aus eigenem Entschluß „unter“ sich gelassen hat.
Herr Calvino schafft in seinem fulminanten Werk von annähernd dreihundert
Seiten einen perspektivischen Wechsel philosophischer Betrachtungen, sprühend,
sprudelnd, flüssig. Er verläßt auf sehr unkonventionelle
Weise die eingetretenen Pfade herkömmlicher, ja, nachgerade erdgebundener
Philosophie. „Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der
Blickrichtung“, sagt Antoine de SaintExupery. Man kann nicht behaupten,
daß nach der Lektüre dieses sehr anspruchsvollen kleinen Bändchens
gehobener Unterhaltung alle Unklarheiten beseitigt wären. Eine Anregung
zum Verlassen ausgefahrener Geleise hingegen wird dem aufmerksamen Leser
in jedem Falle geboten.
Verblüffend, auf welche Ideen Herr Calvino seinen Protagonisten kommen
läßt, um seinen exorbitanten Lebensraum zu erobern. Nichts,
aber auch gar nichts läßt er aus. Selbst die Notwendigkeiten
intimster Verrichtungen werden nicht ausgespart, sondern en detail geschildert.
So glaubhaft, so authentisch, daß man, obzwar das Zwinkern in den
Augen des Erzählers gewahr werdend, dennoch versucht ist, die Geschichte
für bare Münze abzukaufen. Hier begegnet uns wahre Meisterschaft
der literarischen Kunst.
Also, wenn ich sie mir so besehe, die Baumriesen in unserem weitläufigen
Park, da wäre er wohl trotz aller Kletterkünste nicht weit gekommen,
der Herr Baron. Wohl sieht es von ferne so aus, als verliefen sich die
Zweige in wahrhaft chaotischem Geflecht, wo sie sich aber dann doch wirklich
einmal im Winde wiegend berühren, da würde wohl ein Eichhörnchen
von einem zum anderen Baume wechseln können. Doch ob sie einen Zentner
aushielten? Oder gar mehr? Nie und nimmer.
Absurde Paradoxa wirbeln lächelnd und mit wahrer Unschuldsmine durch
die Zeilen. Banales, selbst Tragisches wirkt erheiternd, ohne zum Slapstick
zu degenerieren. Es ist nichts lächerlich – und doch muß
man lächeln.
Nichtsdestotrotz haftet dieser Geschichte etwas Zauberhaftes an. Man sollte
sie gelesen haben, wenn man denn seine Freizeit einer intelligent und
witzig erzählten Novelle widmen möchte.
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