Die Rättin
Günter Grass
K. K. Bajun
mit freundlicher Zustimmung von Herrn Günter
Grass vom 02. Februar 2004
„Das Buch“
– das Genus weist diesen Gegenstand im Deutschen als neutral aus.
Dieser glückliche Umstand ermöglicht es einem Leser gleich
welchen Geschlechtes, zu einem guten Buch eine gleichsam erotische Beziehung
aufzubauen, kann er doch aus der Neutralität „des“
Buches für sich entscheiden, mit welchen – maskulinen oder
femininen – Attributen er es behaftet.
Für mich, den Herren Bajun, vergleicht sich ein gutes Buch mit
einer echten Frau, einer richtigen Dame, die emporragt aus dem Meer
der hirnlosen Weibsbilder: Fordernd und doch kokett, schwer zu erobern!
Doch wenn die Festung unter Mühen genommen ist, Hochgenuß
versprechend und dauerhaften Gewinn.
Das hier besprochene Werk von Herrn Grass impliziert seine hehre Weiblichkeit
nicht nur dem Titel nach, der eine Rattendame zur Protagonistin, zum
Dreh- und Angelpunkt des Geschehens macht. Im Verlauf der Handlung begegnen
wir Anna Bronski, nachmalige Koljaiczek, die jedem Kenner des genialen
Vorläufers aus Herrn Grassens Hand, der „Blechtrommel“,
noch gut als kaschubische Großmutter des von eigenen Gnaden kleinwüchsigen
Oskar Matzerath bekannt ist. Wir erfahren von einem ehemaligen Lastewer,
einem kleinen, aber hochseetauglichen Schiff, das, ausschließlich
mit Frauen besetzt, auf der Ostsee kreuzt, um die versunkene Stadt Vineta
zu finden. Und wir begreifen nach der Lektüre des Buches, daß
uns in dessen Gestalt die trojanische Königstochter Kassandra entgegentritt,
die Unheilvolles aus wohlbedachter Überlegung heraus mahnt und
die dennoch um die Vergeblichkeit ihrer Rufe weiß.
Das Buch eine Prinzessin – kein schlechter Gedanke! Für alle
da und sichtbar, doch nur wenige dürfen ihr die Hand geben und
noch viel wenigeren ist es gestattet, sie zu umarmen, zu küssen,
ihr am Ende gar beizuwohnen.
Herrn Grass nun ist es gelungen, seinem Buch „Die Rättin“
einen solchen Adel zu verleihen, daß es eine Begegnung mit Herrn
Heyms „Ahasver“ oder Hêrn Wolfram von Eschenbachs
„Parzival“ nicht scheuen muß. Es gehört zu den
„Großen des Reiches“ der abendländischen Literatur.
In einem vormaligen Entwurf schrieben wir:
Es ist nicht leicht zu lesen, dieses Buch. Nein, das ist es sicher nicht.
Aber das ist auch gut so. Denn es scheidet die Bastei- und „Bild“-leser
von dem anspruchsvolleren Publikum. Die guten ins Töpfchen, die
schlechten ins Kröpfchen…
Aber vielleicht ist unsere Denkweise verkehrt. Vielleicht sollte ein
Werk wie dieses seine Botschaft auch für Lieschen Müller und
Otto Normalverbraucher verständlich verkünden. Denn diese
Botschaft ist von herausragender Bedeutung.
Sie beinhaltet die Selbstzerstörung des Menschengeschlechtes mittels
dessen eigener, ins Grenzenlose ausgeuferter Dummheit. Der nukleare
Overkill hat stattgefunden, Neutronenbomben haben die Städte der
Menschheit entvölkert. „Verwüstet“ kann man ja
nicht sagen – denn diese perfiden Waffen haben ja die Eigenschaft,
unbelebte Materie weitestgehend zu verschonen. Danzig, der hauptsächliche
Handlungsort, steht also noch. Aber weder Polen noch Deutsche, noch
Juden oder Kaschuben bewohnen mehr diese einstige Perle der Ostsee.
Und an Danzigs tristem Beispiel erinnern wir uns der Prophezeiung des
alttestamentarischen Propheten Jesaja 13. 20-22: …daß
man hinfort nicht mehr da wohne noch jemand da bleibe für und für,
daß auch Nomaden dort keine Zelte aufschlagen, noch Hirten ihre
Herden dort lagern lassen, sondern Wüstentiere werden sich dort
lagern, und ihre Häuser werden voll Eulen sein, Strauße werden
da wohnen, und Feldgeister werden da hüpfen, und wilde Hunde werden
in ihren Palästen heulen und Schakale in den Schlössern der
Lust. Ihre Zeit wird bald kommen, und ihre Tage lassen nicht auf sich
warten…
Nein, es sind keine Eulen, die miteinander sprechen in den Tempeln der
Lust. Günter Grass läßt eine Rättin zu Worte kommen.
Eine Vertreterin des Geschlechtes, mit dem wir so lange nachbarschaftlich
zusammengelebt haben und das wir als Menschen in gnadenlosem Haß
verfolgten, weil wir ihm die Folgen all unserer eigenen Dummheit, Schmutzigkeit
und Undiszipliniertheit angelastet haben. Wir, die wir als Menschheit
nicht das Kreuz hatten, in unsere eigenen kleinen, verkommenen Seelen
zu blicken, waren von Anfang an damit beschäftigt, Sündenböcke
zu erfinden und ihnen die Schuld für unsere Unvollkommenheit anzudichten.
Unsere größte Torheit aber war, daß wir nicht lernen
wollten von diesen Mitgeschöpfen. Von der bedingungslosen Liebe
in den mehrschwänzigen Würfen, von deren großer Solidarität
untereinander, von dem Füreinander-Einstehen, von der Opferbereitschaft
des Einzelnen für das Rudel, von der genialen Arbeitsteilung und
letztendlich von dem grandiosen Überlebenswillen unserer vierpfotigen
Gesellen.
Der Chefkammerjäger der amerikanischen Stadt Boston nannte die
Ratten jüngst den Staatsfeind Nummer Eins. Der tumbe Geselle! Staatsfeind
Nummer Eins ist und bleibt die Mikrobe der menschlichen Dummheit –
und nichts sonst.
Günter Grass rehabilitiert die geschundene Kreatur. Und entwirft
eine Vision, die mich mit der Gegenwart versöhnt. Wenn sich das
Menschengezücht gegenseitig umgebracht haben wird, dann, dann erst
wird es das Reich des Friedens und der Gerechtigkeit geben, nach dem
die Menschheit über Jahrtausende gedürstet und mit so unendlich
viel Mord und Terror gesucht hat.
Wird es das Paradies auf Erden? Sicher nicht. Ab es hört auf, die
Hölle auf Erden zu werden. Das ist doch schon mal was. Nein, der
Leu wird nicht friedlich neben dem Lamm liegen und Menschen werden nicht
durch gut temperierte und insektenfreie, tropische Gärten wandeln
– denn es wird weder das eine, noch die Anderen geben. Nach wie
vor wird gelebt und gestorben – aber es wird nicht mehr sinnlos
gelebt oder sinnlos gestorben. Die Kreatur wird wieder nach dem Willen
ihres Schöpfers leben, ohne ständig mit der psychotischen
Neigung zu kokettieren, diesen stets und ständig zu hinterfragen
und in Frage zu stellen und mit diesem kuriosen Zeitvertreib die einzige,
kostbare und gottgegebene Lebenszeit zu vergeuden.
Wir kennen die Stadt Danzig und wir lieben sie. Wir kennen sie so, wie
sie Herr Grass beschreibt, leider nur noch von unseren alten Stadtplänen
und von Archivaufnahmen. Aber das, was wir von ihr kennen, reicht, um
sie vorbehaltlos zu lieben und es ist uns wurscht, ob Langfuhr Langfuhr
heißt oder Wrczecz, Danzig Danzig oder Gyddanycz oder Gdansk.
Die Menschen, die diese Stadt bewohnen, mögen mehrheitlich polnisch
sprechen, sie sind doch dieselben, die vor dem Kriege die Stadt bewohnten
– nicht besser und nicht schlechter. Und findet ein Archäologe
in Jahrhunderten ihr Gebein – schwerlich wird er sagen können:
„Dies war ein Pole, dies ein Deutscher, dies ein Kaschube.“
Und die Ratten? Weit entfernt davon uns rühmen zu können,
wir verstünden etwas von unseren vierpfotigen und langschwänzigen
Nachbarn, hatten wir doch das Glück, unser Leben über mehr
als zwei Jahre hinweg mit einer bezaubernden Vertreterin dieses Geschlechtes
teilen zu dürfen. Ja, Herr Grass, eine Rattendame kann eine Pädagogin
sein, die eine Universität ersetzt und den Herrn Pestalozzi, Fröbel
und Franke noch etwas vormacht. Und so wissen wir, daß Ihnen die
Rättin, von der Ihnen träumte, die Wahrheit sagte.
Die Ihrige entbehrt so manches Mal eines beißenden Sarkasmus nicht.
Sie höhnt ihres menschlichen Gesprächspartners und des selbstverschuldeten
Unglücks seiner Spezies. Nach all dem Leid, das ihresgleichen von
unsereinem im Laufe der Jahrtausende angetan wurde, empfinden wir mit
ihr, verstehen wir ihren Spott. Denn wer nicht hören will auf die
Vermahnungen der Vernunft, wer trotz aller Warnungen ins offene Messer
rennt, verdient der noch Mitleid? Verdient der etwas anderes als Hohn
über soviel abgrundtiefe Blödheit?
Und Herr Grass ist beileibe nicht der einzige Mahner. Einer der gelesen
und gehört wird, beklatscht und mit dem Nobelpreis geehrt –
und doch nicht für voll genommen. Denn, nähme man ihn für
voll, so würde man die Belehrungen der Rättin ernst nehmen
und das gesellschaftliche Handeln danach ausrichten.
Die fünf oben erwähnten Frauen, die auf ihrem Ewer mit seemännischem
Können und von wissenschaftlicher Neugier getrieben, nach der Stadt
Vineta suchen, die der Sage nach auf dem Grunde der Ostsee ruhen soll,
knüpfen einen Faden zu dem prophetischen Anliegen des Buches. Vineta,
das war eine frühmittelalterliche Handelsmetropole an der pommerschen
Küste, von der uns schon der große Historiker Adam von Bremen
staunenswertes zu berichten wußte. Damals war Vineta unter dem
Namen Jumne bekannt, eine Siedlung wie Haithabu an der Mündung
der Schlei, zu Großem berufen und hätte eine Stadt werden
können, wie Lübeck, Hamburg oder Danzig – hätte
ihr die Geschichte denn eine Chance gegeben. Welche Geschichte? Ist
die Geschichte denn eine Göttin, die nach eigenem Gutdünken
aus ihrem Füllhorn verteilt oder anderen etwas nimmt? Nein, die
Geschichte, von der wir reden, ist eine zutiefst menschliche Geschichte.
Ein Handlungsablauf, von Menschen bestimmt, von Menschen gezeichnet.
Jumne hielt eine Schlüsselposition im Ostseehandel und wurde reich.
Das erweckt immer Neid und Begehrlichkeiten von Seiten der Zukurzgekommenen,
der Nachbarn, der „Feinde“. Jumne wurde durch die benachbarte
Jomsburg geschützt – anfänglich. Wikinger stellten die
Besatzung dieser Veste. Und diese Wikinger waren es, die zunächst
von ihrem lukrativen Posten verführt, dekadent und faul wurden,
anmaßend und intrigant, verweichlicht und zügellos um später
von ihresgleichen bestürmt und erschlagen zu werden. Ganz nebenbei
wurde auch das Handelszentrum Jumne geplündert und nach der oben
zitierten Prophezeiung Jesajas zugerichtet. Natur und Ostsee taten ein
übriges und bald existierte der ehemals blühende Ort nur noch
im kollektiven Gedächtnis als sagenumwobene Stadt auf dem Grunde
der Ostsee – erstickt am eigenen Reichtum, verflucht ob der bezeigten
Unmäßigkeit und gottlosen Eitelkeit.
Man müßte von besonderer Blindheit sein, würde man den
geschlagenen Bogen hin zum Hauptanliegen „Der Rättin“
nicht sehen. Was Vineta im Kleinen – uns blüht es im Großen.
Auf den Rücken der Kulis, Neger und Indios unermeßlich reich
geworden, schwelgen die Völker des Abendlandes in irrwitzigem Reichtum
und werden sich des Elends der ausgebeuteten Nachbarn kaum mehr bewußt.
Statt dessen erfinden sie zum Zeitvertreib so unterhaltsame Spiele wie
Atomschach, dessen Ausgang nur in einem für alle Seiten tödlichen
Remis bestehen kann.
Sicher, die Kontrahenten, die Herr Grass porträtierte, existieren
in der Form nicht mehr. Die Sowjetunion hat sich – nein, nicht
in Wohlgefallen, aber doch zumindest – aufgelöst. Dafür
treten andere nicht minder gefährliche Spieler ans Brett. Sie mögen
sich Koreaner, Chinesen oder radikale Islamisten nennen – Hauptsache,
sie können ein paar Massenvernichtungsmittel beisteuern, dann werden
sie zugelassen zum Spiel „Willst du nicht mein Bruder sein, dann
schlag ich dir den Schädel ein!“ Uncle Sam flucht ein bißchen.
Doch dann nimmt er die Herausforderung an und weiter geht’s –
im Namen der Menschlichkeit dem Abgrund entgegen.
Das alles weiß die Rättin dem Autor zu berichten, der in
einer einsamen Raumkapsel im Orbit die Erde umrundet, fernab vom Tag
des Geschehens und doch nahebei, denn eine Rückkehr für ihn
kann es nun nicht mehr geben.
Immer wieder nennt Herr Grass die Rattendame seine „Rättin,
von der mir träumte.“ Ja, die Grenzen zwischen den Handlungsebenen
auf der einen, und den Traumgebilden sowie den fiktiven Realitäten
auf der anderen Seite scheinen oft zu verschwimmen, ineinander überzugehen,
eines zu werden. Herr Matzerath, unser Oskar aus der „Blechtrommel“,
macht sich auf den Weg nach Danzig zum 107ten Geburtstag seiner Großmutter
Anna Koljaiczek, die nach den Erzählungen der Rättin den Atomschlag
gegen Danzig während ihres Geburtstagsfestes irgendwie überlebt
und die von der Rättin als pseudoreligiöses Objekt der Verehrung
seitens der nachrückenden Rattenpopulation beschrieben wird.
Nun gut, als Metapher wollen wir dies gelten lassen. Realiter wird es
Jahrmillionen brauchen, ehe sich so intelligente, vergesellschaftete
Arten wie Ratten – wenn überhaupt – die tödlichen
Denkweisen des Nackten Raubaffen selig zulegen werden. Ehe sie sich
in machiavellistischer Manier darum mühen werden, die Früchte
der Arbeit vieler in die Hände Einzelner zu bringen, was Reichtum
und Macht und Kontrolle über die Vielen bedeutet. Ehe die Vielen,
angeführt von den Fähigsten unter ihnen sich gegen diesen
Betrug zur Wehr setzen werden und das Unterste zu oberst zu kehren trachten,
was Ströme von Blut fließen läßt. Ehe sich denn
die elitären Rebellen, getragen von der Unterstützung der
Massen ihrerseits in den Besitz der Schalthebel der Macht bringen und
der ganze Zirkus nach den Prinzipien von Orwells „Farm der Tiere“
von vorne losgeht. Daß das jedoch keine zwangsläufige Entwicklung
sein muß, wissen wir aus der Geschichte des Lebens auf diesem
Planeten. Viele Jahrmillionen vor dem Erscheinen des Nackten Raubaffen
haben beispielsweise die Echsen die Erde beherrscht und darauf verzichtet,
Bankgebäude zu bauen und Armeen gegen ihresgleichen ins Feld zu
führen, zu dem Zweck, den Inhalt der Banktresore um den Besitz
des geschlagenen Feindes zu mehren. Weil sie zu dumm dazu gewesen wären?
Äh! Auch Veloziraptoren hatten ordentlich Schmalz im Echsenschädel.
Vielleicht, wenn wir bereit wären, unser anthropozentrisches Weltbild
aufzugeben, vielleicht, wenn wir bereit wären, Bücher wie
„Die Rättin“ von Herrn Grass wieder und wieder zu lesen,
uns bemühen würden, sie zu verstehen und das Verstandene in
die Tat umsetzten, würden wir am Ende begreifen, daß der
Weg, den unsere Spezies eingeschlagen hatte, der falsche,
der pathologische, der kranke war. Dann hätten wir, vage optimistisch
formuliert, einen Ansatz zur Korrektur. Aber haben das nicht die Buddhisten,
die frühen Christen und Muselmänner schon versucht noch und
noch und sind allesamt am Wesen des Nackten Raubaffen gescheitert???
Dennoch, so lange man lebt ist Hoffnung, heißt es in dem Buch
„Kamikaze“. „Die Rättin“ ist ein solcher
Baustein der Hoffnung.
In einer seiner vielschichtigen Handlungsebenen läßt Herr
Grass die Märchenfiguren aus Grimms Märchen gegen die Vernichtung
ihres Waldes rebellieren. In jedem Märchen, sagt man, stecke ein
Kern Wahres. Sehen wir darum zu, daß wir, die wir verstanden haben,
dieser Kern sind und um uns herum einen Mantel weben aus Vernunft oder,
wenn alle Hoffnung verloren ist, aus Stoizismus und Dankbarkeit für
die Stunden, die uns noch bleiben. Wenn uns das gelingt, dann haben
wir in Herrn Grassens Buch ein wahres Geschenk vor uns, dessen wir uns
trotz der unheilverkündenden Grundaussage herzlich freuen dürfen.