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Die Legende von Paul und Paula
-ein Film der DEFA-

M. L. Hübner
Wenn Sie von Dresden kommend nach Berlin hineinfahren, übers Adlergestell und unterhalb des "Treptowers" vorbei über die Spree, dann führt sie Ihr Weg fast unmittelbar vorbei - am Lichtenberger Paul-und-Paula-Ufer. Das nämlich flankiert unterhalb des Ostkreuzes den Rummelsburger See. Ist schon doll, eine Straße den Namen zweier Filmfiguren zu geben, oder kennen Sie in London eine James-Bond-Lane, in Brüssel eine Rue Maigret, in Paris eine Avenue Les-trois-Musquetiers? Was muß das für ein Film gewesen sein, daß man dreißig Jahre später einen offiziellen Verkehrsweg amtlich nach ihm benennt?
Nun, im Abstand von ebenjenen drei Jahrzehnten sah ich ihn. Woran ich mich noch gut erinnern kann, ist der Wirbel, den er damals verursachte. Die Plakate an der Jahrtausendbrücke zu Brandenburg an der Havel; das verstohlene, schwärmerische Lächeln der knapp achtzehnjährigen Schwester, die den Streifen schon im gerammelt vollen Kino "Concerthaus" in der Steinstraße sehen durfte. "Mensch, die haben die richtig nackig gezeigt, und wie sie es..., na ja, hör da mal weg, dazu bist doch noch zu jung!"
Das machte neugierig! Nackige! Das mußte man sich mal vorstellen! Wir lebten in der DDR und schrieben das Jahr 1973. Der Genosse Ulbricht, wertkonservativ bis in die Knochen, war kaum unter der Erde, der ehemalige FDJ-Häuptling Erich Honecker hatte soeben das Ruder der Staatslenkung übernommen. Ein frischer Wind schien durch alle Bereiche des Lebens zu wehen. Ein halbes Jahrzehnt später nur entstanden Jugendfilme wie "Sieben Sommersprossen", in dem eine vierzehnjährige Kareen Schröder und ein fünfzehnjähriger Harald Rathmann Erotik pur knistern ließen, wie die Funken eines Lagerfeuers. Und, meine lieben Landsleute aus Trizonesien: Vielleicht waren diese Filme, die schon sehr die Skepsis der bis unter den Vatermörder zugeknöpften DDR-Oberen erregten, nicht ganz von der Freizügigkeit, wie der westdeutsche Schulmädchen-Report oder die "bumsfidele Gräfin". Aber das hier hatte Klasse, Niveau, Tiefgang. Hier ging es nicht ums Rammeln. Hier wurden Geschichten erzählt, die mit so ausgewogener Pikanterie gewürzt waren, daß man ganz berauscht das Kino verließ. Standbilder? Gab es keine. Doch, gab es doch! Im Kopf des Zuschauers nämlich. Noch lange, nachdem der Abspann gelaufen war.
Aber Hand aufs Herz! Kann ein Film deshalb eine so ungeheure Popularität gewinnen, nur weil er bei seinen Protagonisten erstmalig die Hüllen fallen läßt? Äh! Da steckt mehr dahinter.
Wir erleben hier ein Liveporträt des Lebens im Ostberlin der frühen Siebziger. Es ist die Zeit der Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin. (Muß ein wahrer Horrortrip für die Stasi gewesen sein, diese vielen unkontrollierten Westkontakte, Alimenteverpflichtungen, die in Devisen zu zahlen waren - diese Jugend!)
Worum geht es denn nun eigentlich in diesem Film?
Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Gleich zu Beginn empfiehlt sich der Streifen als zeitgenössisches Dokument. Eine Sequenz, die sich wie ein roter Faden durch den ganzen Film zieht. Ein leergezogenes Haus der Gründerzeit wird gesprengt - irgendwo in Mitte oder Friedrichshain, daneben sieht man die nagelneuen Arbeiterschlafregale, 10 - und mehr- Geschosser, die damals als heißbegehrtes Sinnbild des Modernen galten. Statt dem Klo eine halbe Treppe tiefer, Kohleheizung im vierten Stock und ewig kalten, hohen Buden mit Schimmel in den Wänden gab es hier Aufzüge, Zentralheizung, Etagenmüllschlucker, Innenklos und Wannenbäder. Hell und freundlich waren sie. Fester Beton gewährte auch den Hängeelementen der Einbauküche festen Halt. Diese schicken, neuen Wohnungen waren zunächst mal den linientreuen Leistungsträgern des sozialistischen Aufbaus vorbehalten, während die Besitzer der Produktionsmittel, die Arbeiterklasse oft noch immer in den alten Löchern der Vorkriegszeit hausten. Diese Buchten, deren Kriegsschäden selbst zu Anfang der Siebziger nur notdürftig, wenn überhaupt, geflickt waren, wurden zumindest in der Innenstadt als Sinnbild des Alten, Überwundenen, des in den letzten Zügen hechelnden, aggressiven Bürgertums vernachlässigt und dann - für die neue, großzügige und namenlos öde Stadtgestaltung des Sozialismus in Schutt und Asche gelegt.
Und in diesem Vergehen und Werden lebt Paul (Winfried Glatzeder), ein junger Intellektueller, der sich auf einem Rummelplatz in eine charakterlose Schönheit verliebt, diese ehelicht, mit ihr ein Kind in die Welt setzt. Während seines dreijährigen Wehrdienstes - erst nach dem Studium(?) - hält sich dieses Früchtchen von Rummelbraut anderweitig sexuell schadlos. War ja nicht anders zu erwarten. Heute weiß man, wie die DDR-Zensur aufgestöhnt haben muß: "Aber Genossen, so was kann man doch nicht zeigen! Mensch, da geht doch keiner mehr drei Jahre zur Fahne! Und überhaupt: Ihr sollt sozialistische Moral auf die Kinoleinwand bringen - und nicht deren ketzerische Antithese! Die Bräute unserer jungen Genossen Unteroffiziere sind natürlich alle stolz auf ihre Gatten und Verlobten im Ehrenkleid der Arbeiterklasse und halten deren Familienglück in Ehren." Das war die verträumte Wunschvorstellung der Alten Garde. Die Wirklichkeit sah anders aus. Der Film zeigt die Wirklichkeit. Das ist schon eigentlich das Sensationelle. Ein anderes berühmtes DEFA-Werk, das so etwas gewagt hatte, "Die Spur der Steine" mit Manfred Krug ein paar Jahre früher, ist noch aus just diesem Grunde auf dem Index gelandet.
Gar nicht weit weg wohnt die Paula (Angelika Domröse) zusammen mit ihrer kleinen Tochter. Die junge Frau ist dreiundzwanzig Jahre alt, lebenslustig und lebenshungrig. Sie arbeitet in der Flaschenannahme einer Großverkaufsstelle und an der Kasse als Verkäuferin.
Eine ganz normale, allerdings außergewöhnlich hübsche Frau aus der staatstragenden Arbeiterklasse.
Einen Wartburg - Tourist fahrender Verehrer macht ihr den Hof: der "Reifenfritze" und Selfmademan Saft (Fred Delmare). Der wird als typischer Vertreter des Mittelstandes gut porträtiert. Jeder, der im Reiche des Mangels aufgewachsen ist, wird ihn wiederkennen, diesen Handwerker, der an jede Bückware herankommt, ohne Aluchips, ohne Anstehen, nur eben durch präkommunistische Tauschgeschäfte, schachern, feilschen, Beziehungen ausspielen. Fatal an diesem Porträt allerdings ist der fade Beigeschmack der bösen Erinnerung, die gerade im deutschen Raum beim Anblick dieses Reifenbudenbesitzers achtundzwanzig Jahre nach dem Untergang des Hitlerreiches aufkommt. Mit Fred Delmare hat man zwar einen exquisiten Schauspieler verpflichtet, seine Statur und sein Auftreten, seine Beziehungsgeschäfte, sein Organisieren hinter den Kulissen - das alles jedoch riecht so sehr nach Veit Harlans Charakterzeichnungen a la "Jud Süß", daß es einem schon in der Nase zu stinken beginnt, wie fauler Fisch und ranzige Butter. Eigentlich fehlt nur noch, daß man dem Reifenfritzen Saft statt seines Kittels einen Kaftan, statt des Hutes eine Kippa und statt der Schuhe Langschäfter angezogen hätte. Auch die Kommunisten pflegten also ihre notorischen Aversionen gegen die kleinbürgerlichen Elemente, diese unseligen Relikte des untergegangenen Kapitalismus.
Auch Paula verliebt sich - nee, nicht in den etwas älteren aber grundsoliden Reifenfritzen, sondern zunächst einmal auch in einen vom Rummel. So einen verkrachten Cellisten mit blondem Afrolook. Der sie auch umgehend schwängert. Während sie aber von seinem Kinde in einer Klinik entbunden wurde, befaßt sich der lockerlose Musiker derweil schon wieder mit Formen, die dem seines Cellos gar nicht mal unähnlich sind - im Gegensatz zu diesem aber aus Fleisch und Blut bestehen und mehr stöhnende Töne von sich geben. Sie erwischt ihn in Flagranti bei seinem "Saiten - Sprung" und schmeißt ihn der Dissonanzen wegen aus der Wohnung. So, nu isse allein. Und philosophiert abends im Bette vor sich hin, begleitet von einer Flasche KiWhi, Kirschwhisky - dem berüchtigten Weiberschnaps. Der wärmt und tröstet zwar auch ganz gut, aber ihr ist eigentlich nach mehr zumute. Zumal die Wände der Berliner Albauten recht hellhörig sind und neben ihr allabendlich etwas Hausmusik betrieben wird. Duette quasi, der aufregenderen Art. Und so geht sie noch mal auf Achse, in einen Liveschuppen, in dem die Puhdys ihre berühmten Lieder aufführen.
In dieser Diskothek gibt Rolf Ludwig, der begnadete Vorleser und Schauspieler ein kurzes Intermezzo. Das stört aber nicht weiter, denn hier nun endlich lernt se ihren Paule kennen, ja, den Paulemann von nebenan. Der hat mittlerweile auch so ziemlich die Nase voll von seiner Angetrauten und deren Rummeleltern, die sich - wen verblüfft es? - auch noch als kriminelle Steuerbetrüger entpuppen. Fahrendes Volk halt. Wieder so ein kleiner, giftiger Seitenhieb. Die Zigeuner wird's nicht gerade freuen.
Nur - scheiden lassen darf er sich halt nicht. Die sozialistische Moral geht davon aus, daß die Familie die kleinste Zelle der Gesellschaft ist. Wenn die nicht mehr intakt ist, bröckelt das Fundament. Also Genossen, gebt ein Vorbild! Und wenn's nur eine sauber getünchte Fassade ist. Egal. Der Schein ist alles.
Also werden wir Zeuge einer Affaire. Einer sehr leidenschaftlichen Affaire. Und einer, die weit hinaus ragt über die üblichen drögen, blut- und gehaltlosen Beziehungskisten, mit denen uns die Television der Gegenwart bis zum Erbrechen anödet.
Diese Lyrik spart auch dramatische Momente nicht aus. Paula, die im Spannungsfeld ihrer Liebe zwischen Sehnsucht und erzwungenem Verzicht, zwischen Traum und Realität zerrieben wird, beginnt, in ihrem eigenen Saft zu schmoren. Sie ist überfordert mit den berechtigten Ansprüchen ihrer Kinder, die sie ja nun mal in die Welt gesetzt hat. Eine Mutter fällt zurück in das Stadium des jungen Mädchens, das von seinen eigenen Problemen gefesselt ist und überfahren zu werden droht. Da werden Kinder schnell lästig. Da werden Kinder schnell abgeschoben. Keine Rede mehr vom gemeinsamen Ausflug in den Tierpark. Hier, ein paar Groschen, geht ins Kino! Das fängt gleich an. Ja, diese Situation verdient es zum überdenkenswerten Klischee erhoben zu werden. Wieviel tragisches Potential liegt in der Unreife von Müttern begründet, deren Körper ihnen das Kinderkriegen schon lange gestatten, deren unfertige Gemüter aber regelmäßig vor den Proben des Alltags versagen!
Na also! Die Blagen sind raus. Wenigstens ein wenig Ruhe. Nein, alles fordert seinen Preis: Der vier Jahre alte Steppke von "Löwenmähne" wird auf dem Nachhauseweg von einem Automobil überfahren. Selbstvorwürfe, Selbstanklagen, Selbstzweifel. Isolation, suchen, nicht finden können.
Die ganze filmische Komposition erinnert sehr an Zelluloid gewordene Lyrik.
Nur das Ende dieser Liebe mutet in seiner melodramatischen Komponente etwas bemüht an. Paula, die mehrmals und eindringlich von einer gütigen Vaterfigur in Gestalt ihres professoralen Geburtshelfers vor einer dritten Schwangerschaft gewarnt wurde, entschließt sich angesichts der Aussichtslosigkeit ihrer Liebe zu einer besonderen Art des Selbstmords. Sie läßt sich von ihrem Paule - Romeo ein drittes Kind ansetzen, bei dessen Geburt sie denn auch, wie prophezeit - stirbt. Angedeutet wird diese Tatsache durch eine Sequenz, in der Paula den Blicken des Betrachters in einem U-Bahn Zugang entschwindet. Gekonnt! Euridyke auf dem Weg in die Unterwelt. Die letzte Szene ist dann an Unwirklichkeit nicht mehr zu übertreffen. Wir sehen einen Paul im morgendlichen Bette liegen, umringt von der Tochter seiner großen Liebe, seinem eigenen Sohn aus der zerrütteten Ehe und dem gemeinsamen Kinde von Paula und ihm. So rührend diese Szene auch sein mag, hier sprengen die Erzähler die Grenzen dichterischer Freiheit und katapultieren und ins Märchenland. Dorthin, wo deutsche Jugendämter und Familiengerichte keine Verfügungsgewalt haben, und sollten sie sich doch in dieses Reich verirren, umgehend die gerechte Strafe für ihr gottloses Treiben erhalten.
Alles in allem wird dieser Film zu Recht unter die ganz Großen der deutschen Filmkunst gerechnet. Kein Kitsch, auch wenn's manchmal so aussieht. Kein vulgärer Voyeurismus, sondern prickelnde Erotik und authentische Gefühle, immer wieder durchmischt mit feinsinnigem und manchmal etwas behäbigem Humor. Bis an die Grenzen des damals Möglichen gesellschaftskritisch, beinhaltet er nicht nur sehr gute Unterhaltung, sondern auch Botschaften. Botschaften, die viele DDR-Bürger damals schon nachdenklich gemacht haben werden. Nachdenklich, über das immer verlogenere Gehabe des Systems, das doch die Wahrheit für sich gepachtet zu haben beanspruchte. Es wetterleuchtet durch, warum die Funktionäre eine öffentliche Werbung für den Film unterdrückten. Verbieten konnten sie ihn schon nicht mehr. Und heute, wo der ganze Budenzauber vorbei ist, heute gibt's ihn als DVD. Ein Angebot, von dem wir empfehlen Gebrauch zu machen.

B 1. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2004