Baaks

zurück zur Stammseite "BÜCHER"

Ahasver

Stefan Heym

K. K. Bajun
Das Buch, mein Exemplar, trägt eine Widmung. Ein kleiner Autograph von Stefan Heym. Mir gewährt in seiner Wohnstube im Rabindranath-Tagore-Weg zu Berlin-Grünau am 18. Julei 1989. Zu diesem Zeitpunkt brodelte die D.D.R. schon. Und ich, ein junger Student der Medizin, schritt achtlos an dem Polizisten vorbei, der den Eingang zum Anwesen Herrn Heyms bewachte und wohl dem Zerberus gleich potentielle Besucher des mißliebigen und von der Staatsmacht geächteten Schriftstellers abschrecken sollte. Eine sehr aparte Dame öffnete, fragte nach dem Begehr und ich erklärte freudestrahlend, ich, der ich über keinerlei Beziehungen verfügte, hätte ein Exemplar des „Ahasver“ ergattern können und bäte nun den Herrn Schriftsteller, mir sein Werk signieren zu wollen. Autogramme bedeuteten mir sonst nichts. Dieses schon!

Warum diese kurze Einführung? Des überragenden, ehrlichen, mutigen und brillanten Schriftstellers wegen, den man getrost zu den bedeutendsten deutschen Autoren des letzten Jahrhunderts zählen darf? Oder dieses Buches wegen?
Ja, es ist mir kostbar. Und es führt die Reihe in meiner Bibliothek an, in der meine wertvollsten Bücher stehen. Der „Ahasver“ des Stefan Heym! Dieses Buch ist fast ein Wunder. In jeder Beziehung.
Was macht ein Buch zum Wunder? Daß es etwas nachhaltig bewirkt im Leser. Daß es nachhallt. Daß es verändert. Daß es zum Bestand des alltäglichen Lebens wird. Daß seine Sujets, obschon in mehreren verschiedenen Zeit- und Handlungsebenen angesiedelt, doch so harmonisch zueinanderfinden. Dinge, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander gemein haben, beziehen sich, verbunden durch versteckte Fäden, eins aufs andere.
In theologischer Hinsicht ist der „Ahasver“ eine Ketzerei quer durch alle abendländischen Konfessionen – herrlich! Wie sie aufheulen werden, die Mucker und Rechtgläubigen aller Couleur! Herr Heym schont nicht die braven Katholiken mit ihren fest gefügten Denkschemata, die nur Gut und Böse kennen – hie Gott, da Teufel – und den großen Reformator zu Wittenberg porträtiert er in allzumenschlichem Gewande und spart nicht an Darstellungen, die, obschon authentisch, von den wenigsten Protestanten goutiert werden dürften. So, wenn er den jungen Kandidaten Paulus von Eitzen in der Wittenberger Schloßkirche seine Examenspredigt über die verstockten Jüden halten läßt, sehr zum Wohlgefallen des Doktor Luther.
Aber am meisten wird sich der kommunistische Staatsapparat der D.D.R. über Herrn Heyms „Ahasver“ echauffiert haben: Dessen Vertreter, die er gleichsam in Beziehung setzt zu ihren frommen und derhalben verleugneten Altvorderen auf den Stühlen der Macht, überzieht er mit einem feinen Hohn, der sie gnadenlos der Lächerlichkeit preisgibt. Und – ich kenne sie – wären sie nicht so gefährlich gewesen in ihrem Bestreben, die Menschheit gesellschaftswissenschaftlich zu erlösen, man hätte ihrer lachen mögen. So albern stellte sich mitunter ihre Reglementier- und Überwachungswut dar, ihre dämlichen und öden Parolen, ihre paranoide Angst, die Kontrolle zu verlieren über den Neuen Menschen.
Denn das von ihnen beherrschte Volk – und das wußten sie seit langem schon – bestand aus allzu vielen unsicheren Kantonisten. Selbst der Direktor des erzkommunistisch ausgerichteten (leider fiktiven) Institutes für wissenschaftlichen Atheismus, Professor Siegfried Beifuß, 108 Berlin-Mitte, Behrensstraße 39a, erweist sich nach längerem Briefwechsel mit Professor Jochanaan Leuchtentrager von der imperialistischen Hebrew- University zu Jerusalem als solcher Wackelkandidat.
Und schon um dieses Schriftwechsels willen lohnt es sich, das Buch zu lesen. Denn der israelische Korrespondent des ostdeutschen Gelehrten gibt sich dem wachen Auge des Lesers als ganz spezieller Briefpartner zu erkennen: Übersetzt man nämlich den Namen „Leuchtentrager“ ins Lateinische, so wird man auf einmal mit einem Herrn Lucifer konfrontiert.
Wie delikat, wenn wir verfolgen, wie Herr Beifuß – oder sollen wir im Namen der Regierung der D.D.R. rufen: ...bei Fuß! – mit dem Teufel dessen Nichtexistenz vom Standpunkt des wissenschaftlichen und kommunistischen Materialismus her disputiert, ohne die geringste Ahnung davon zu haben, wer im Antwortschreiben mit bestechender Eloquenz Argumente anführt, die den überzeugten Sohn der Arbeiterklasse peu a peu und mit jedem neuen Brief ein wenig mehr verunsichern!
Wir lesen auf einer anderen Handlungsebene von dem Theologiestudenten und späteren Superintendenten von Schleswig, Paulus von Eitzen, dessen Charakter als Prototyp des innerlich hohlen und vertrockneten Beamten eines Establishments gezeichnet wird. Dieser Verwaltungsbeamte, der eigentlich einer den Menschen dienenden Institution obwalten soll, verkehrt die der Kirche zugrunde liegende Idee von Humanität und Nächstenliebe durch seine Hohl- und Dummheit ins Gegenteil. Nicht der Himmel auf Erden entsteht im Herzogtum Schleswig unter seiner Rigide, sondern den Menschen eine neue, ganz irdische Hölle.
Und wieder werden Menschen unterdrückt, so sie sich denn nicht einfügen wollen. Andersdenkende werden wieder verfolgt, genau wie ehedem, bevor die Wittenberger Nachtigall die innerkirchliche Revolution einträllerte.
Und genau dort liegt nach unserem Ermessen auch der wahre Aussagegehalt, das literarische Novum von Herrn Heyms „Ahasver“: Die Menschen werden irgendwann einmal mit einer schier unerträglichen Situation unzufrieden, kippen unter großen Opfern das System, etablieren etwas neues, was sich dann bei genauerem Besehen als eins-zu-eins-Kopie des Alten unter einem neuen Farbanstrich erweist. Denn die Menschen als solche bleiben ewig dieselben: Einmal an die Macht gelangt, ändern die meisten flugs ihre vorigen Intentionen. Und dann geht es eben nicht mehr um die Menschheitserlösung, sondern um profanen Machterhalt. Natürlich legitimiert vom großen Ziel und dieses immer vor Augen. Zumindest wird's dem blöden Volk so verkauft und manche aus der Alten Garde mögen gar selbst noch davon überzeugt sein.

Im großen und ganzen also deprimierend. Und der Herr Leuchtentrager, der uns durch das Buch hindurch in vielerlei Gestalt begleitet, lacht darüber sein höhnisches Lachen. Hat er’s nicht von Anfang an gewußt, daß etwas nicht stimmt mit diesem Haufen Lehm, den der HERR nach seinem Ebenbilde zu kneten vorgab? Wurde er, Leuchtentrager, der Erste unter den Erzengeln Gottes, nicht gestürzt am siebenten Tage um die dritte Stunde, weil er sich weigerte, diese höchst unvollkommene Kreation anzubeten? Er kennt sie in und auswendig. Und er kennt den Alten, der das alles eingerührt hat. Und den das alles herzlich wenig interessiert. Zwar hat der seinen eigenen Sohn ans Kreuz gegeben. Aber dieser Sohn muß ebenfalls irgendwann die Erfahrung machen, daß sein Opfertod so ziemlich umsonst gewesen ist. Denn als er seinen Vater im Himmel endlich gefunden hat, sieht er diesen, wie er das Buch des Lebens in den Sand kritzelt. Und ein Wind wird kommen und es wegblasen. Ja, genau! Darin besteht der Sinn des Lebens. Gott zuckt die Schultern, Jesus ist zum ersten Male leidenschaftlich zornig und der Teufel – lacht. Dieses Stück sollten sie mal in Oberammergau zum Besten geben!
Aber da ist noch einer. Die Hauptperson des Ganzen. Der Ahasver. Richtig! Der Schuster von der Via Dolorosa zu Jerusalem, der den kreuzbeladenen Jesus scheinbar hartherzig von seiner Türe wies, als dieser ermattet bat, an seiner Schwelle ein wenig ausruhen zu dürfen. „Pack dich!“ hat er gesagt. Und ist dafür vom Rabbi (Jesus) verflucht worden: Während er, der Menschensohn, gehe wie ihm geheißen, solle er, Ahasver, bleiben bis daß er, der Menschensohn, am Ende aller Tage wiederkehre. Und da hatten wir ihn – den Ewigen Juden. Verurteilt zu rastloser Wanderschaft, zu endlosem Umherziehen durch die Länder und Zeiten. Verurteilt, immer wieder das Elend der Menschen mit ansehen zu müssen, die er doch nicht minder liebt, als der Jesus. Den er übrigens auch von Herzen geliebt hatte. Mit dem er vertraut war. Denn der Ahasver ist nicht irgendeiner. Kein gewöhnlicher Schuster aus der Altstadt Jerusalems. Er stammt genau wie sein Freund und Bekannter Leuchtentrager aus der transzendentalen Region derer, die vor dem Menschen geschaffen wurden. Nicht aus Lehm und Dreck – nein, aus Feuer und dem Hauch des Unendlichen.
Und dieser Ahasver möchte helfen, verändern, das Unterste zuoberst kehren, die fehlerhafte Schöpfung korrigieren, die Löcher stopfen, durch die der Sand rieselt. Ein Revolutionär ist er. Einer, der sich nicht aufs höhnische Lachen beschränkt. Einer, der den Kampf sucht gegen das Unrecht und die Unterdrückung. Einer, der denen beisteht und Mut macht, die beschlossen haben, sich zu wehren, statt ewig zu dulden und dem Lamm Gottes hinterzublöken.
Denn: Leiden ist kein Verdienst. Anpacken, kämpfen, ändern! Das ist die Parole. Ein jeder könnte es, nach seinen Kräften. Nicht hinter dem Ofen hocken bleiben! Das will er, der Ahasver. Er will mobilisieren. Überall, wo sich Menschen ihrer Haut wehren. Ob in Byzanz, im Deutschen Bauernkrieg oder im verzweifelten Ghetto zu Warschau – die Lage kann nicht aussichtslos genug sein. Nicht Fallen - nur Aufgeben ist eine Schande.
Wenn wir den „Ahasver“ lesen, so erleben wir ähnliches wie bei Joseph Hellers legendärem „Catch 22“: Während uns das Lachen ankommt, stehen uns die Tränen in den Augen: Es mag noch so komisch sein, wenn ein Ostberliner Grenzsoldat einen lächerlich anmutenden Vorfallsbericht an seine Vorgesetzten abgibt und aufgrund dessen wegen mutmaßlicher Trunkenheit eingebuchtet wird. Aber diese Leute gab es. Und sie hätten auf uns geschossen, wie sie auf Peter Fechter und Chris Gueffroy geschossen haben, wenn wir Anstalten gemacht hätten, ohne den Segen der kommunistischen Obrigkeit von Berlin nach Berlin oder von Deutschland nach Deutschland zu gelangen.
Herr Heym stellt die tatsächliche Skurrilität und anachronistische Beschaffenheit des Ministeriums für Staatssicherheit bloß. Und wir lachen über deren Interna. Aber wer je mit diesen Leuten realiter zu tun hatte, dem möchte das Lachen im Halse stecken bleiben. Und genau an diesem Punkte befinden wir uns mitten im Spannungsfeld, das aus der Ambivalenz erwächst, die diesem Buche seinem Wesen nach zu eigen ist. Ein ausgewiesener Meister des Wortes hat tiefgründigst und nach profunder Recherche den literarischen Finger auf das wahre Leben gelegt. Mit einer solchen Fertigkeit, daß wir beim Lesen unwillkürlich denken: Nur so und nicht anders haben sich die Dinge abgespielt. Das bedeutet, die Sichtweise eines Lesers beeinflussen und lenken. Zum Guten verwandt, fürwahr eine hohe Kunst!
Wir konnten hier nur einige wenige Aspekte einer Preciose unter den Büchern beleuchten. Ähnlich wie ein Reisekatalog, der die Schönheit der angepriesenen Landschaft nur in wenigen Bildern und Hinweisen andeuten darf. Entdecken muß dann jeder für sich. Aber ich versichere: ein aufgeschlossener Leser mit einer gewissen Affinität zur Vergangenheit Deutschlands, zum Wesen seiner Mitmenschen, zu unverkrampftem Umgang mit heiligen Kühen aus Religion und Geschichte - ach was! zu wahrhaft bedeutender Literatur - wird seine ungetrübte Freude haben an diesem Werk eines großen Erzählers.
Der im übrigen nicht ganz umsonst gelitten hatte unter denen, die ihn am liebsten zum Schweigen gebracht hätten. Denn nachdem jene auf dem Kehricht der Geschichte landeten, die ihnen doch nach ihrem Bedünken nun für alle Zeit gehören sollte, wurde er, Stefan Heym, der erste Alterspräsident eines neuen gesamtdeutschen Bundestages. Und hielt die Eröffnungsansprache. Ich denke, der Ahasver wird sie gehört haben. Und wird gelächelt haben. Denn einer der Seinen hatte gesiegt!

B 1. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2003