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DE BREVITATE
VITAE
Lucius Annaeus Seneca
Scholcher M. Druckepennig
Zwei Jahrtausende ist es her, da
schrieb der große römische Philosoph und Lehrer Lucius Annaeus
Seneca eine kurze Anhandlung in Form eines Briefes an seinen Freund Paulinus.
"De brevitate vitae" nannte er seine mehrseitige Epistel - "über
die Kürze des Lebens" und lesenswert ist sie schon des bestechend
schönen, kristallklaren Lateins wegen, das Seneca zu eigen war.
Nun möchte man angesichts des Titels meinen, Seneca geselle seine
Stimme zu denen Jammerern, die sich über die eilende Zeit beklagen
und daß sie einem keine Möglichkeit lasse, dem eigenen Vergnügen
nachzugehen. Wir kennen den schalen Witz: Das Leben wäre einer Hühnerleiter
vergleichbar, denn es sei kurz und beschissen.
Nein! Nein! Nein! Der Titel trügt. Wenn je eine Titel trog, dann
dieser. Denn das Gegenteil ist der Fall: Seneca bezieht sich auf diese
Menschen und er widerlegt sie - mit geschliffener Logik, mit messerscharfen
Argumenten. Er, der gelernte Jurist und Anwalt plädiert in mitreißenden
Worten für eine Akzeptanz des Vergänglichen und die einzig daraus
zu ziehende, produktive Konsequenz: Das "carpe diem"! Nutze
den Tag, nutze die Stunde! Verschwende sie nicht, denn sie kehrt nicht
wieder! Lebe selbst und rede Dir nicht ein, du habest soviel Unaufschiebbares
zu tun! Das meiste davon ist blanker Selbstbetrug. Eine Täuschung,
dazu aufgelegt, von der inneren Leere und Unausgefülltheit abzulenken.
Als Beispiel wählt Seneca unter anderem das Leben vieler römischer
Patrizier. Leute, deren Reichtum ihnen gestatten würde, ganz ihren
Neigungen zu leben, sich mit Kunst und Wissenschaft zu befassen, Reisen
zu unternehmen, Eindrücke zu sammeln. Kurz, die sich nicht so vordergründig
mit dem Broterwerb herumschlagen müssen. Was machen sie, die Patrone?
Sie sammeln Scharen von "Klienten" um sich, deren Anzahl den
eigenen Status unterstreicht. Sie mischen sich im Forum unter ihresgleichen
und schwätzen viel dummes Zeug. Sie haben entsetzlich viel zu tun
und eigentlich - nichts. Nichts zumindest, was von ernstzunehmender Bedeutung
wäre. Sie krampfen diese Leere regelrecht zu und reden sich gegenseitig
ein, wie immens wichtig doch ihre Taten seien und diesen Blödsinn
ersäufen sie des Abends in rauschenden Orgien. Gerade solche Charaktere
sind es, die dann behaupten, sie hätten nie Zeit.
Im Prinzip haben sie damit auch gar nicht mal so unrecht: Sie haben keine
Zeit im Sinne der possessio, des Besitzens. Sie regieren, verfügen
nicht über ihre Zeit. Sondern die Zeit läßt diese sinnlosen
Kreaturen eine Weile gewähren und spuckt sie dann aus. Und ihr Leben
vergeht völlig spurlos in den Äonen. Als hätten sie nie
gelebt. Was sie ja eigentlich auch nicht haben.
Zu diesen merkt Seneca an, daß er derer viele erlebte, die in der
Stunde des nahenden Todes dieses kapitalen Defizits gewahr geworden seien
und dann mit dem Tode begannen, um ein paar Tage, Wochen und Monate Lebensverlängerung
zu feilschen. Die Ärmsten. Der Tod ist im Allgemeinen ein sehr schlechter
Verhandlungspartner. Setzt meistens seinen Dickkopf durch und schwingt
die Sichel, ob es dem Lebenden nun gerade in den Kram paßt oder
nicht!
"Ach, was ich alles versäumte, ach, was ich alles hätte
anfangen können mit der Zeit, die mir gegeben ward!" Doch zu
spät! Aus und vorbei! Die Stunde ist da und der Ofen ist aus.
Daraus gilt es, so Seneca, die entsprechenden Schlußfolgerungen
zu ziehen, bevor die hora ultima, diese letzte Stunde anbricht.
Wenn man diesen Rat befolgt, wenn man also sein Leben lebt, solange es
währt, bewußt und intensiv - ohne sich in orgiastischen Vergnügungen
zu verlieren, ja, gleichsam zu betäuben, dann kann man damit rechnen,
daß einem der unvermeidliche Abschied von diesem einen Leben nicht
so sauer werden wird. Dann kann man dieses Leben mit aller Seelenruhe
zurückgeben, denn man hatte herausgeholt, was zu holen war. Nichts
versäumt, nichts vertrödelt, nichts verschenkt!
Deshalb lautet der Kernsatz dieses Zeugnisses der Weltliteratur: Vivere
tota vita discendum est, sed quod magis fortasse miraberis, Pauline, tota
vita discendum est mori. (Leben muß man ein ganzes Leben lang lernen.
Was dich aber noch mehr verwundern wird, Paulinus, ein ganzes Leben lang
muß man das Sterben lernen.)
Diese Aussage ist vor Mißverständlichkeit zu bewahren! Es ist
nicht gefordert, Tag und Nacht, bei Regen und bei Sonnenschein, bei völliger
Gesundheit selbst, gebannt auf das Ende zu starren und sich ein Procedere
zurechtzulegen, daß dann im Fall der Fälle sowieso nicht umzusetzen
ist. Denn der Tod ist die wohl existentiellste Erfahrung eines jeden Lebens.
Er wirft buchstäblich alles über den Haufen.
Es kommt darauf an, dem Leben zu jeder Stunde das Schönste abzugewinnen,
was sich aus der gegebenen Situation herausholen läßt. Dann
wird man von ganz allein dem Tode mit der entsprechenden stoischen Verfassung
begegnen können.
Und was ist mit denen, die um ihr tägliches Brot ringen müssen
und sich derhalben gar nicht mit solchen philosophischen Gedanken zu befassen
in der Lage sind? Deren Existenz auf diesem Erdenrund der eines welken
Blattes zu gleichen scheint, ein Wind hebt's auf und es ward nicht mehr
gesehen?
Haben diese Menschen keine Gefühle in Bezug auf das Ende ihres Lebens?
Natürlich haben sie die. Nur, da ihr Tag von einer durchaus sinnvollen
Tätigkeit ausgefüllt ist, nämlich das Überleben zu
sichern, werden sie schon per se vom Müßiggang ferngehalten,
der allein ihnen in der letzten Stunde das Gefühl geben könnte,
das Leben vertrödelt zu haben. Sie können sich höchstens
über verpaßte Chancen ärgern, so es die denn gab. Aber
auch das ist ein Unterfangen ohne Sinn und Verstand. Denn es führt
zu keiner Besserung der Dinge.
Wenn wir nun die Einsicht Senecas auf unsere Moderne, hier in den reichen
Staaten Mitteleuropas, anwenden wollten, wäre das denn so einfach
möglich? Setzte uns die zeitliche und kulturelle Entfernung nicht
Unüberbrückbares vor die Nase?
Absolut nicht. Wir könnten ganz im Gegenteil die gewonnene Erkenntnis
eins zu eins applizieren. Wenn man sich nämlich das Quantum freier
Zeit betrachtet, daß heutigen Tages selbst einfachen Arbeitern zur
Verfügung steht, das heißt, die Menge Zeit, die nicht zur Sicherung
des Lebensunterhaltes benötigt wird, dann ist jeder Arbeitslose in
der deutschen Bundesrepublik ein römischer Patrizier. Klingt gewagt?
Gar provokant? Soll es. Wir vergleichen ja hier nicht den Lebensstandard
- nur eben die Freizeit. Und deren Nutzung. Und hier, hier sind die Parallelen
unverkennbar, nur daß der moderne Zeittotschläger nicht mehr
ins Colosseum zu gehen braucht, er hat seinen Circus Maximus in der Wohnstube
- braucht nur den Fernseher einzuschalten.
Der gräßlichste Ausdruck, den die gegenwärtige Jugend
zur Beschreibung ihrer Zeitverschwendung gebraucht, ist "abhängen".
Man hängt gemeinsam in der Clique ab und macht die Scheiß-Welt
dafür verantwortlich, daß man nicht gebührend unterhalten
wird. Denn das brauchen sie: Unterhaltung, fortwährende Gaudi, Nervenkitzel,
Virtualisierung der pubertären Träume und - die perfekte Illusion,
daß sie sich in Eden befänden. Dem Garten, der, sollte er so
sein, uns denkenden und schaffensfrohen Menschen die Hölle schlechthin
wäre. Hier zählt nämlich nur das in-den-Tag-hineinleben,
das Fehlen jeglicher Arbeit, jeglicher Herausforderung, die etwas anderes
zum Ziele hätte, als dem eigenen Selbstbewußtsein zu schmeicheln.
Wird diesen nie erwachsen werdenden Menschen das aber nicht geboten, dann
werden sie sich ihrer hohlen und völlig sinnentleerten Daseinsweise
bewußt und sie wissen sich keine Antwort als die Flucht in die Aggression
und die Betäubung.
Ob der Gott Abrahams, Isaaks und Jacobs einen solchen Menschen im Sinn
hatte, als er ihn schuf? Wir sind zu gering, das beurteilen zu können.
Glauben wollen wir es nicht. Glauben, reinen Herzens glauben wollen wir,
was uns Seneca lehrte. Der Philosoph, der die Kostbarkeit jeder einzelnen
Lebensminute erkannte und in einer kleinen Epistel von überragender
Bedeutung würdigte.
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