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Dr. med. Hiob Praetorius

von Curt Goetz


-ein Bühnenstück-

K. K. Bajun
Man sagt, Herrn Albert Einsteins Relativitätstheorie, die ja bekanntlich die Epoche der Newtonschen Physik abschloß um einer neuen Weltsicht Platz zu schaffen, wäre von nur geringem Umfang gewesen, was die gedruckten Bögen betraf.
Nun, mit dem uns vorliegenden, bei Philipp Reclam Jun. zu Stuttgart verlegten Büchlein von Herrn Goetz verhält es sich nicht viel anders. Auf 72 Seiten im Reclam-Format stößt Herr Goetz zum Grundübel vor, welches das Geschlecht des Nackten Affen bedroht, seit die Ureltern vom verbotenen Apfel fraßen.
Der Autor läßt seinen Haupthelden, einen Chirurgen und Gynäkologen, eine ungleich weiterreichendere Entdeckung machen, als sie der Mediziner und Bakteriologe Robert Koch zu Berlin mit der Entdeckung des Tuberkels vorlegen konnte. Aber die Sache hat einen Haken: Während Herr Koch dem Erreger der völkermordenden Tuberkulose mit seinem Mikroskop auf den Leib, respektive das Soma zu rücken verstand, und gleichsam die Grundlegung für dessen suffiziente Bekämpfung schuf, reichte dem Dr.med. Hiob Prätorius zur Entdeckung der „Mikrobe der menschlichen Dummheit“ das bloße Auge, gepaart mit einem fähigen Verstand. Nur das Antiserum, das Antidot, das Vaccin gegen diese fürchterlichste aller Krankheiten war damit noch nicht gefunden. Denn dieses Antiserum liegt im freien Willen eines jeden einzelnen Menschen begründet. Entscheidet er sich für oder gegen ein von der Mikrobe determiniertes Verhalten?
Und darin dürfen wir uns einig sein: Die Mikrobe der menschlichen Dummheit tötet pro Jahr und Tag mehr Menschen, als es der Schwarze Tod des Mittelalters während des ganzen grausamen 14. Jahrhunderts vermochte. Vom Krieg der Völker bis hinunter auf die Familienebene – Menschen, die ihren Ansprüchen nicht mehr anders Geltung zu verschaffen wissen, werden gewalttätig in Wort und Tat. Und ihr Aggressionstrieb, der die paradoxesten Formen annehmen kann, richtet sich unterschiedslos gegen jede Mitkreatur, den göttlichen Auftrag aus 1Gen.28 völlig fehlinterpretierend. Die Mikrobe der menschlichen Dummheit bewirkt also unter anderem, daß der von ihr befallene Mensch der Aufforderung Gottes, sich die Welt untertan zu machen, dahingehend deutet, sie schonungslos auszubeuten und Schindluder mit ihr zu treiben, statt sie zu bewahren.
Menschliche Dummheit bedeutet Vorurteil, Ignoranz, Dummheit per se, Eigennutz und Selbstsucht und was dergleichen einem glücklichen Dasein abholde Eigenschaften mehr sind.
Sicher – über das Wesen der menschlichen Dummheit haben schon antike Philosophen nachgedacht. Alle auf ein harmonisches Zusammenleben zielenden Utopien der Menschheit mußten jedoch an ihr scheitern. Denn diese Mikrobe ist der pathologische, entartete Abkömmling des kerngesunden Evolutionsgewebes und somit dem Nackten Affen immanent. Er kann im Allgemeinen – und bis auf ganz wenige Ausnahmen - nicht anders, als auf lange Hinsicht dem Diktat dieser Mikrobe zu gehorchen. (Die Ausnahmen sind die, die es gelernt haben, ihrem Inneren Schweinehund zu befehlen…)
Und um Mißverständnissen vorzubeugen – es handelt sich bei dieser Mikrobe nicht um eine biologische Struktur vom Typus einer Bakterie oder eines Virenstammes, welche man letztendlich für das menschliche Fehlverhalten verantwortlich machen könnte. Schutzimpfung – und fertig! Nee, so einfach liegen die Dinge hier nicht.
Curt Goetzens Dr.Prätorius nun läßt es sich angelegen sein, dieser Mikrobe nachzuspüren, ein Heilmittel gegen sie zu finden. Ein mutiges, wenngleich im großen Maße aussichtsloses Unterfangen. Ein Patentrezept läßt sich nur immer für das einzelne Individuum entwickeln – das dann aber auch willens sein müßte, diesen Vorgaben zu folgen. Wir erwähnten es schon.
Aber genug der ernsten Rede!
Herr Goetz läßt einleitend den weltberühmten Meister der Deduktion Mr. Sherlock Holmes und dessen unsterblichen Adlatus Dr.med.Watson zu Worte kommen. Wir erinnern uns dieser Figuren der Weltliteratur, die von Sir Arthur Conan Doyle publiziert wurde. (Warum wir nicht „erfunden“ sagen? Weil Conan Doyle die Idee seinem vormals besten Freunde samt Ehefrau geklaut hatte, worauf sich das saubere Pärchen mutmaßlich sehr beeilte, den zweimal Betrogenen um die Ecke zu bringen, wo ihn der schmerzliche Verlust hinfort nicht mehr anfechten sollte. Man redet halt nicht mehr drüber – der Erfolg des Mr.Holmes soll doch nicht von einer so unerquicklichen Geschichte überschattet werden, nicht wahr?)
Doch davon unberührt befaßt sich also unser obgemeldeter Mr.Holmes mit einem tragischen Automobilunglück, bei dem Dr.Prätorius samt Ehefrau zu Tode kam. Gleich am Anfang schon? Na ja, wir haben es wohl im weiteren Verlauf der Geschichte mit einer Art Rückblende zu tun.
Nach einer amüsanten Kostprobe der unnachahmlichen Deduktionsgabe des Sherlock Holmes erfahren wir, daß noch eine dritte Person bei dem Unfall zugegen war: Prätorius’ altes Faktotum Shunderson, der uns nun in die Mitte der Geschichte um den legendären Frauenarzt entführt. (Keine Bange, intelligenter Leser dieser bescheidenen Ausführungen – wir besprechen hier keinen dieser unsäglichen Frauenarztromane im Groschenheftformat, sonder dessen erklärten Antipoden.)
Gleich zu Anfang, in einer Vorlesung, die er im Anatomiehörsaal für einen verspäteten Kollegen hält, gibt uns Prätorius eine Kostprobe seiner inneren Wesenseinstellung:
Er macht seine Studenten mit der Mikrobe der menschlichen Dummheit bekannt, ein Vorgehen, das zur unbedingten Pflicht einer jeden Antrittsvorlesung gehören sollte. Und er bekennt sich zu dem größten Ziel, das sich die Menschheit überhaupt zu setzen in der Lage ist: der Entwicklung eines Serums gegen diese „entsetzlichste aller ansteckenden Krankheiten“.
Wie er selbst und für sich versucht, diesem Vorhaben näherzukommen, erfahren wir schon im nächsten Aufzug. Wir begegnen in Prätorius einem Arzt, wie man ihn sich idealerweise wünscht. Kein distanzierter, aufgeblasener Möchtegern-Halbgott, dessen Handschlag und Begrüßungsformel schon eine hohle Farce von einem abgedroschenen Automatismus darstellen; kein Popanz, der fürchtet, ein Zuviel an Information an seinen Patienten würde ihn, den Arzt, seiner Machtbasis berauben und ihm von seiner Erhabenheit nehmen. Hier ist einer, der kompetent ist und sich trotzdem – oder gerade deshalb (?) – nicht zu schade ist, sich auf die Ebene seiner Patienten zu begeben. Nein, er biedert sich nicht an. Hat er gar nicht nötig. Er fühlt sich in die ihm anvertrauten Menschen hinein. Prätorius nimmt den Schwerkranken mit leichter Hand die Angst selbst vor dem Tod. Mit leichter Hand? Ja, sein Bemühen um die ihm Anvertrauten hat so gar nichts gemein mit dem weinerlichen, widerlichen, aufgesetzten Getue jenes üblen Fernseh-Pastors Fliege, den – wäre es dem eh schon geplagten Herren der Finsternis zuzumuten- der Teufel holen sollte!
Prätorius begreift den Tod, den barmherzigen Erlöser des Einzelnen, den nicht kanonisierten Archangelus Dei, als Teil des Lebens, nicht als Feind. Doch bevor sich der Besuch dieses Erzengels ansagt, fordert das Leben seine Rechte. Und die wichtigste Aufgabe im Leben ist das Lachen, das Glücklichsein. Darum muß es uns zu tun sein – wenn möglich bis zur letzten Minute! Natürlich muß er als Arzt mit dem Bruder Tod ringen. Aber es kann immer nur um einen Aufschub gehen – des’ ist er sich wohl bewußt. In der Zwischenzeit muß gelebt werden, um jeden Preis. Eine in dummem Zank und Hader vertane Minute ist ein Verbrechen wider sich selbst und gegen andere.
Wir haben also festgestellt, daß der Bruder Tod nicht der Erzfeind des Dr.med. Hiob Prätorius ist. Wer dann? Nun, wir sagten es schon: die Mikrobe der menschlichen Dummheit. Und wie es sich für einen ordentlichen Feind gehört: er greift an. In Prätorius’ Fall avanciert die Mikrobe in Gestalt eines „Ehrenrates“ hochgestellter Kollegen, die über den Vorwurf zu befinden haben, Prätorius habe sich in seinen Anfangsjahren in einem kleinen englischen Dorf als Kurpfuscher betätigt. Hintergrund dessen ist der Umstand, daß der damals schon promovierte Mediziner einen Schuhladen betrieb und – ohne auf seinen eigentlichen Beruf oder akademischen Grad in irgendeiner Form hinzuweisen, die ortsansässige Bevölkerung medizinisch versorgte. Ein klarer Bruch von Standesrecht! Eigentlich idiotisch, zumal Prätorius ja über die entsprechende erworbene Qualifikation verfügte. Aber so ist das mit der Mikrobe nun mal: Allzuoft klammert sie sich mangels echter Substanz an hohle und überkommene Rituale und Traditionen, die außer einer sinnentleerten Konservierung des Bestehenden keine weitere Aufgabe zu erfüllen haben.
Doch auch in diesem Aufzug brilliert Prätorius mit seinem eleganten und beißenden Humor: Sei es nicht besser, so fragt er, er sei waschechter Arzt und gebe sich als Schuster aus, als dem Beispiel vieler seiner Kollegen zu folgen, „die den Eindruck zu erwecken versuchen, sie seien Mediziner und keine Sch….“
Etwas weiter unten nimmt sich Herr Goetz dankenswerterweise eines der dramatischsten Auswüchse der menschlichen Dummheit an – wenn nämlich un- oder halbgebildete Menschen etwas in den „falschen Hals kriegen“, was in aller Regel nicht dazu führt, daß sie sich schlau machen, bevor sie sich über ein Mißverständnis echauffieren, sondern erst einmal einen Krieg vom Zaune brechen. Die „Kußmaul“ – Episode vor dem Ehrenrat spricht Bände über dieses Thema. Es ist davon auszugehen, daß ein jeder schon einmal von den Folgen dieser ganz speziellen Spielart menschlicher Dummheit betroffen wurde. Um so weniger verständlich ist die endemische Verbreitung dieses Symptoms, es sei denn, die wenigsten lernten aus diesen Erfahrungen und applizierten, worunter sie noch eben selber litten, stante pede ihrem Nächsten. Und das wäre dann wieder eine nicht zu übersehende Manifestation der Mikrobe.
An dieser Stelle erscheint es uns ratsam, einen kleinen Absatz aus dem Buch zu zitieren, nämlich die Rede des Professors Nack, eines Freundes von Prätorius. Es geht hier in allererster Linie um die Ansprüche, die ein guter Arzt an sich selber haben sollte, wie wir sie oben schon erwähnten. Darüber hinaus ist die Formulierung dieser Rede so gehalten, daß sie dem Kant’schen Kategorischen Imperativ gleich Allgemeingut zu werden verdiente:
…Denn nicht die Verletzung der Würde des Arztes ist es im Grunde, meine Herren, die man dem Kollegen zum Vorwurf macht, nein, meine Herren, was man ihm nicht verzeiht, ist, daß er mit Mitteln arbeitet, die nicht in Apotheken erhältlich, mit Methoden, die streberhaft nicht erlernbar sind, sondern persönliche Fähigkeiten voraussetzen, von denen man wohl Proben, aber keine Prüfungen ablegen kann! Wir kennen das Steckenpferd unseres Kollegen! Er bildet sich nicht ein, die Theorie von der Aufheiterung des Patienten erfunden zu haben, von der Notwendigkeit der Stärkung seines Lebenswillens, aber er geht darin vielleicht weiter als die meisten von uns, gestützt auf die Erfahrung, die er als Wunderdoktor machen durfte. Und wie Kußmaul die Magenpumpe, so versucht er die Einführung des Humors in die ärztliche Praxis. Humor, meine Herren, ist nicht erlernbar. Neben Geist und Witz setzt er vor allem ein großes Maß von Herzensgüte voraus. Von Geduld, Nachsicht und Menschenliebe. Deshalb ist er so selten. Und aus diesem Grunde hatte es Kußmaul leichter, weil er nur eine Magenpumpe einführte….
Präsident: Sie hätten Künstler werden sollen, Herr Kollege Prätorius, und nicht Arzt!
Prätorius: Ein Arzt, der kein Künstler ist, ist auch kein Arzt!

Na, das saß, was? Aber es hat nichts gebracht. Leute wie Prätorius muß man mit der Lupe suchen. Die Szene dominieren alleweil die bornierten Hohlköpfe und blasierten Selbstdarsteller. Sehr zum Schaden der Patienten – aber die Mehrzahl derer ist auch nicht viel besser.
Zum Schluß erfahren wir die Ursache des Todes von Prätorius und seiner Frau, die wir an dieser Stelle nicht vorwegnehmen wollen. Es wäre unfair. Besteht sie doch in einer dieser vielen absonderlichen, kleinen, scheinbaren Absurditäten, die sich wie ein roter Faden durch das ganze Werk ziehen, die jedoch klug durchdacht gar keine sind, sondern die Wahrheit, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit!
Wenn Watson zum Beispiel in den letzten Zeilen fragt: „…Womit haben diese beiden reizenden Menschen diesen Tod verdient?“, so antwortet ihm Holmes völlig zutreffend: „Nur diesen Tod. Oder kann man reizenden Menschen Besseres wünschen, als daß sie lustig zur Grube fahren mögen?“
Wer dieses Buch, diesen Satz liest und nicht versteht, dem – es tut uns in der Seele leid – ist nicht mehr zu helfen. Der kann sich über das Glück freuen, hirnlos zur Welt gekommen zu sein. Denn dieser Umstand verschleiert gnädig sein geistiges Unvermögen und enthebt ihn somit des quälenden Zweifels, der doch jeden denkenden Menschen befällt, wenn er seiner Existenz eine gewisse Sinnentleertheit attestieren muß. Die anderen aber, die verstehen, die werden Veränderung an sich erfahren. Die werden aus dem Stück oder seiner Lektüre gereifter herausgehen und sich und der Welt hinfort häufiger mit einem Lächeln begegnen.

B 1. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2003