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Die Stimme des Herren

von Stanislaw Lem

K. K. Bajun
Das zwanzigste Jahrhundert ließ den großen Jules Verne wieder auferstehen. In Krakau, der alten polnischen Krönungsstadt der Jagillonen. Stanislaw Lem, der utopische Romancier von Weltformat hat uns mit der „Stimme des Herren“ wohl unbestritten sein Meisterwerk vorgelegt.
Das Thema ist schnell erzählt. In Amerika ausgangs des 20. Jahrhunderts wird ein kosmisches Signal aufgefangen, daß nach näherem Besehen keinesfalls natürlichen Ursprungs sein kann. Es wiederholt sich in längeren Abständen periodisch mit exakter Sequenz.
Spezialisten aus allen Fachbereichen der Wissenschaft werden in einem geheimen Regierungsprojekt an ebenfalls geheimem Orte versammelt, um in einer gigantischen und konzertierten Aktion interdisziplinär an der Entschlüsselung dieses Beweises außerirdischer Intelligenz zu arbeiten.
An diesem Gedanken entzündet sich die brillante Erzählkunst Herrn Lems. Und was folgt, ist keinesfalls ein utopischer Dutzendroman der billigen Machart sondern eine fürwahr exzellente Reflexion über das Wesen des Gegenwartsmenschen schlechthin.
Seinen Haupthelden, den Mathematiker Peter E. Hogarth, läßt Herr Lem schonungslos mit der Manie des homo technicus ins Gericht gehen, der sich auf Grund seiner scheinbaren Erfolge auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik für das non plus ultra der Schöpfung hält. Unsere Zivilisation und Lebensauffassung ist die einzig denkbare, vertreten durch die einzig denkbare Demokratie – nämlich die der Amerikaner.
Und jetzt bricht dieses Signal in unsere heile Welt ein und stellt sie auf den Kopf. Nicht die ganze Welt zunächst – nur eben ihre intellektuellen Spitzen, die mit der Entschlüsselung des kosmischen Codes betraut wurden.
Das Projekt scheitert. Natürlich scheitert es. Weil es sich hartnäckig den Drehbüchern Hollywoods entzieht, die für die amerikanische Denkweise Modell standen und allzeit prägend waren. Hier gibt es keine Aliens, die nach der Weltherrschaft streben und sich alle braven Amerikaner untertan machen wollen. Hier versagt das alte Stickmuster: „Hie Gut – da Böse“. Hier wird kein Angriff aus dem All vorbereitet, an dessen Abwehr sich tapfere Leinwandhelden der Demokratie profilieren können. Auf keiner Seite des Buches bekommt ein Hightech-Cowboy die Gelegenheit zu demonstrieren, daß nur er legitimiert ist, die Welt unter seine Kontrolle zu bringen, zu beherrschen und die anderen auszubeuten – also all das zu tun, worin ihm die oft beschworenen Bösewichter aus dem Kosmos Konkurrenz machen wollen.
Hier gibt es nur ein Signal – sonst nichts. Das Projekt, das sich um die Decodierung dieses Signals entwickelt, bekommt die Abkürzung „MAVO“. Das steht für „Masters Voice“ und bedeutet im Deutschen eben “Stimme des Herren“.
In einem herrlich anspruchsvollen „Vorwort“ des Herrn Hogarth zu seinen Aufzeichnungen über 48 (!) Seiten und zwei Kapitel hinweg, läßt sich Herr Lem mit einem wahrhaft funkensprühenden Monolog über die geistigen Schwächen der heutigen Hochzivilisationen aus der Sicht eines nüchternen Naturwissenschaftlers aus. Dieses Vorwort fordert. Es läßt das ganze Werk zum erlauchten Kreis der Bücher gehören, die sich ihre Leser aussuchen. Es ist ein Scharfrichter. Wer versagt, bleibt draußen! Lassen wir Herrn Hogarth selbst zu Wort kommen, indem wir einen kleinen Absatz zum Ende des „Vorwortes“ hin zitieren:
„Dem Leser, der sich bis zu dieser Stelle durchgekämpft hat und immer ungeduldiger darauf wartet, in das Wesen des berühmten Rätsels eingeführt zu werden, weil er sich erhofft, daß ich ihm ebensolche Wonneschauer über den Rücken jagen werde, wie er sie aus Filmen kennt, die ihm das Blut in den Adern erstarren lassen, möchte ich raten, mein Buch wegzulegen, weil er enttäuscht werden wird. Ich schreibe keine Sensationsstory, sondern ich berichte, auf welche Weise unsere Kultur auf kosmische, durchaus nicht auf irdische Universalität geprüft wurde und was dabei herauskam.“
Damit wurde der Nagel auf den Kopf getroffen. Klaffende Wunden, blutverschmierte Wände und listige Kommissare, respektive stahlharte Ranger sucht man hier vergebens. Und wir kennen durchaus kluge Leute, die nach der Hälfte der Lektüren des 1.Kapitels entnervt die Flinte ins Korn warfen. Tja, liebe Freunde – Pech gehabt! Und wer da meint, er könne sich die ersten beiden Kapitel schenken, um gleich zum Kern der Materie vorzustoßen, der irrt gewaltig. Er wird am Rest des Buches kaum Freude haben, denn ihm fehlt ganz offensichtlich das geistige Rüstzeug.
Und außerdem bringt man sich bei solcher Vorgehensweise um so vorzügliche Passagen, wie zum Beispiel diese beiden:
- „Die Literatur hatte seit ihrer Geburt angeblich einen Feind: die Beschränkung des geäußerten Gedankens. Es zeigt sich jedoch, daß die Freiheit des Wortes für den Gedanken noch tödlicher sein kann; verbotene Gedanken kursieren insgeheim, was aber bleibt uns dort, wo eine bedeutungsvolle Tatsache in einer Schwemme von Fälschungen untergeht, und die Stimme der Wahrheit übertönt wird von unsäglichem Getöse und, obwohl sie ungehindert erklingt, nicht gehört werden kann? Denn die Informationstechniken haben bisher einzig dazu geführt, daß man am deutlichsten den vernimmt, der am lautesten brüllt, und brülle er noch so falsch.“
Oh, der Landbote ist sich dieser Problematik aus eigenem, leidvollem Erleben nur zu bewußt. Der Teufel soll sie holen, die Kakophonisten aller Couleur, diese hirnlosen Superstars und die Kanaillen unter den Moderatoren, die mit ihrem volksgewollten Gebrabbel, Gestotter und Gehampel auf Quotenfang gehen und allen Guten Ton in einem Ozean von Dummheit ersaufen lassen.
Dennoch wollen wir unseren wenigen geneigten Lesern eine weitere Kostprobe von Herrn Lems literarischer und geistiger Ausdruckskraft nicht vorenthalten:
- „Die Geschichte der Philosophie ist die Geschichte wiederholter und nicht immer gleich verlaufender Rückzüge. Zuerst versuchte sie, die endgültigen Kategorien der Welt aufzudecken, danach die absoluten Kategorien der Vernunft, wir indessen nahmen, je mehr Wissen wir speicherten, immer deutlicher ihre Hilflosigkeit wahr. Denn jeder Philosoph muß sich als absolutes Modell für die ganze Gattung, mehr noch, für sämtliche vernunftbegabte Wesen betrachten. Aber die Wissenschaft ist ja gerade die Transzendenz von Erfahrung, die die Denkkategorien von gestern zu Staub zermalmt. Gestern stürzte das Absolutum von Raum und Zeit, heute geht sozusagen die ewige Alternative zwischen analytischen und synthetischen Behauptungen – oder zwischen Determinismus und Zufall – in die Brüche. Doch irgendwie ist es noch keinem Philosophen in den Sinn gekommen, daß es, gelinde gesagt, unvorsichtig ist, aus dem eigenen Denksystem Gesetze ableiten zu wollen, die für die gesamte Menschheit vom Eolithikum bis hin zum Erlöschen der Sonnen gültig sein sollen.“

Herr Lem läßt seinen Haupthelden durch den Mund Dritter zuweilen als Genie bezeichnen. Mit dieser großen Kühnheit determiniert der Autor einen hohen Anspruch an die Qualität seines eigenen Werkes. Denn wenn ich ein fiktives, von mir erdachtes Genie zu Worte kommen lassen will, so sollten die Gedanken, die ich meine dergestalt geadelte Figur äußern lasse, nichts weniger als genial sein. Nach unserem Dafürhalten hat sich Herr Lem dieser selbstgewählten Herausforderung gestellt und ist ihr mit Bravour gerecht geworden. Sein Mathematiker, dessen Überlegungen, Argumente und Beiträge wirken in höchstem Maße überzeugend und authentisch.
Doch auch die Charakterbeschreibungen der anderen beteiligten Personen, die Herr Lem darstellt, lassen dieses Buch zu einem echten Lesevergnügen werden. Wir begegnen in diesem Werk einer Literatur, die einem denkenden Leser viel Fläche zur Reflexion und auch zur Selbstreflexion bietet.
Es endet mit dem berühmten Swinburne –Gedicht, das wir schon in unserer Besprechung des Gemäldes „Bildnis eines alten Mannes“ von Salomon Koningk zitierten:

From too much love of living
From hope and fear set free
We thank with brief thanksgiving
Whatever gods may be:
That no man lives forever,
That dead men rise up never;
That even the weariest river
Winds somewhere safe to sea.

(Aus übergroßer Liebe zum Leben,
frei von Hoffnung und Furcht,
danken wir mit einem kurzen Gebet
den Göttern, wer sie auch immer sein mögen:
Daß niemand ewig lebt,
daß Tote nicht wieder auferstehen!
Und das auch der müdeste Fluß
sich irgendwo in den Weiten der See verlieren wird.)

Indem wir uns für sein ausgezeichnetes und sehr lehrreiches Buch bedanken, grüßen wir den großen alten und weisen Seher von Krakau, dessen kluge Stimme uns noch lange erhalten bleiben möge.

 

 

B 1. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2003