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Die universale Kraft der Welle

Jules-Francois S. Lemarcou. Havelsee. Es war der alte, grundgütige Physiklehrer Hermann Lisk, der seine Abiturienten lehrte, dass eine Welle ein grundlegendes Strukturmerkmal der Natur sei. Beinahe alles lasse sich aus einer Wellenform heraus beschreiben.

In der nächsten Stunde, das Fach nannte sich Staatsbürgerkunde, erklärte die „Rote Katja“ Drews denselben Abiturienten, dass die Gesellschaftswissenschaft eine Naturgesellschaft seien, deren Dynamiken mit naturgesetzlichen Methoden zu ergründen und damit zukunftssichere Prognosen zu erstellen wären.

Nun mag man mit den kommunistischen Gesellschaftsideen nicht konform gehen, weil die Kommunisten dem Grundirrtum erlegen sind, dass gesellschaftliche Sein würde das Bewusstsein des Einzelnen vom Ich zum Wir formen und damit ein globaler Kommunismus unausweichlich den Endpunkt menschlicher Entwicklung definieren, an dem dann alles in ewiger Glückseligkeit verharren werde – in einem Punkte hatten beide Lehrer zumindest recht:

Eine gesellschaftliche Entwicklung folgt tatsächlich biodynamischen Gesetzen und auch hier ist eine perpendikuläre oder Wellenbewegung maßgeblich.

Wir erleben das regelmäßig, wenn eine Demokratie kollabiert, weil die ihr innewohnenden Kräfte immer zu einer Elitenbildung führen. Diese regieren den Laden dann nach Gutsherrenmanier und nach feudalistischen Regeln.

Sie beginnen die Demokratie mit immer mehr zu ergebnislosem Schwachsinn degenerierten Scheinwahlen zu kaschieren, deren Arithmetik nicht von dieser Welt und von keinem Normalsterblichen nachzuvollziehen ist. Die Masse wird dessen unweigerlich früher oder später gewahr – bei den Franzosen früher, bei den Deutschen später – und dann beginnen die Rufe nach der starken Persönlichkeit lauter zu werden, die den morschen Staatskahn wieder flott macht.

Kommt so einer an die Macht, packt der auf der Bühne auch plakativ und öffentlichkeitswirksam zu und finanziert das Ganze hinter dem Vorhang mit aberwitzigen Anleihen auf die Zukunft. Wer hat’s vorexerziert? Richtig! Die deutschen Nazis – die bereits 1935 den Reichshaushalt zur Geheimen Staatssache erklärten, weil das Reich um diese Zeit bereits de facto pleite war und sich die internationalen Anleihemärkte als sehr zugeknöpft erwiesen.

Der Diktator aber hängt an der Macht und beseitigt so peu a peu die letzten demokratischen Fesseln, die einst entwickelt wurden, um seinesgleichen zu kontrollieren und im Zaum zu halten. Die Repressionen gegen oppositionelle Kräfte nehmen zu, die Flüsterwitze auch – und dann fängt das Volk wieder von der guten alten Zeit an zu schwafeln, in der noch alles erlaubt war und in der man noch ungestraft seine Meinung kundtun konnte, ohne dafür frühmorgendlichen Besuch von der Geheimpolizei zu bekommen.

Ach – die Demokratie! Sicher, ein Lotterladen war’s ja. Aber doch soooooo schön! Freiheit und Demokratie sind doch wahre Gottesgeschenke – aber die Menschen sind in aller Regel nun einmal nicht dazu geschaffen, Dinge zu schätzen, die ihnen geschenkt wurden.

Etwas anders sieht es mit dem aus, wofür man hart kämpfen musste, wofür man mit Blut und Schweiß und Tränen bezahlt hat. Daran hängt man schon eher. Das will man bewahren. Aber eben nur, wenn man selbst den Preis für diese Errungenschaft errichten musste. Schon die nächste Generation erbt das Erkämpfte und wieder ist es – nichts wert! Da haben wir sie – Hermann Lisks universale Welle.

In der vergangenen Legislaturperiode war das sehr gut zu beobachten: Die Grünen, die einst als basisdemokratische Friedens-Partei angetreten waren, haben sich zu einer protofaschistischen Kader- und Kriegspartei gewandelt, die bereits mit dem ersten Tage ihrer Machtteilhabe begannen, die Gesellschaft zu entdemokratisieren. Die aus der DDR bekannte Bevormundung durch die tonangebende Partei resultierte aus der einfachen Denkweise, dass es nur zwei Ansichten geben könne: Die richtige, zukunftsweisende – also die der Grünen und die falsche. Letztere müsse man ausmerzen, denn sie verkörpere die Vergangenheit, den Untergang, die Apokalypse, personifiziert durch die berüchtigten „weißen, alten Männer“.

Mit dem zunehmenden Verfall der Demokratie, der sich am Tage der Niederschrift dieses Aufsatzes in den vorgezogenen Neuwahlen zum Deutschen Bundestag manifestiert, beginnen sich in Deutschland mit dieser in seiner Nachkriegsgeschichte erstmaligen Bankrotterklärung einer Regierung die italienischen Verhältnisse der Siebziger und Achtziger zu wiederholen.

Das Wahlvolk stolpert wie eine betrunkene Hammelherde von Talkshow zu Gesprächsrunde, lässt sich die Ohren mit substanzlosem Gesülze vollseiern, von dem selbst die überwiegend doofe Masse bereits realisiert hat, dass es genau das ist: nämlich substanzloses Gesülze mit einer Halbwertzeit, die über die Wahlen selten auch nur um Tagesfrist hinausreicht.

Eine wacklige Koalition entsteht, die unter großem Druck zusammengeschustert ist und deren unüberwindliche Differenzen sofort aufplatzen wie die Pestbeulen, sobald Entscheidungen anstehen, über die kein Konsens zu erzielen ist. Torpedierung durch die Oppositionskräfte – Vertrauensfrage, Auflösung des Bundestages – Neuwahlen – währenddessen geht die Wirtschaft weiter auf Talfahrt, die Leute werden arbeitslos, das Geld wird knapp, die Verelendungsspirale beginnt sich zu drehen – die Rufe nach dem starken Mann werden lauter.

Der Ton wird aggressiver – die verschiedenen Ethnien gehen aufeinander los – es geht um die letzten Ressourcen. Die anstehenden Verteilungskämpfe durchziehen das gesellschaftliche Geflecht sowohl vertikal als auch horizontal.

Dazu kommt, dass auch das Geschenk der Bildung – die übrigens Deutschlands einzige nennenswerte Rohstoffressource darstellt – für die nachwachsende Generation an Attraktivität verliert. Doof sein ist chic. Faul sein auch. Bildung wird erst dann wieder erstrebenswert, wenn der Hungernde, der gerade den Kitt aus den Fenstern frisst, mit seinem Resthirn die verbleibenden Chancen durchkalkuliert: Kriminell werden – die Chancen auf ein frühes Ende des Lebens oder des zumindest einigermaßen selbstbestimmten Daseins steigen exponentiell – oder über Bildung noch ein erträgliches und auskömmliches Plätzchen im System ergattern, einen Platz im Rettungsboot sozusagen.

Für die Neuankömmlinge in Deutschland, landläufig auch Immigranten genannt, gibt es noch eine andre Motivation. Sie tragen die Heimat, die sie aus welchen Gründen auch immer verließen, oft noch tief im Herzen. Eigentlich wollen sie diese Heimat wiederhaben – zumindest, was die in ihr gelebten Traditionen betrifft. Also nehmen sie sich ein paar Generationen Zeit, setzen viele Kinder in die Welt, trichtern denen mit Nachdruck die nötige Bildung ein – Interventionen des Jugendamtes oder anderer staatlicher Organe müssen sie immer weniger befürchten, je größer und gewaltbereiter der Clan ist – und dann schicken sie diese Kinder auf die Reise durch die Institutionen.

Wenn der mittlere Beamtenapparat genügend durchsetzt ist, kann man so peu a peu mit dem Umbau der Gesellschaft beginnen. Russland ist groß und der Zar ist weit – wollen mal sehen, wie schleppend man eine Regierungsverordnung durchführen kann! Wie sagte doch einst ein Mitarbeiter des havelländischen Jobcenters: „Die eine Sache sind die Gesetzte, die andere ist, was wir tun!“ Recht, so mein Sohn.

Irgendwann hat auch diese stille Rebellion ein Ende, wenn die gedrillten Kinder mittlerweile die Positionen von gesetzeschreibenden Staatssekretären und Ministern erreicht haben. Dann ergehen Erlasse in der gewünschten Form an den bereits mutierten Staatsapparat und schon wir haben ein prächtiges Almohaden-, oder Almoraviden-Kalifat 2.0.

Die Welle also … Allerdings wird die Wellenlänge zu-, die Frequenz der Systemwechsel reziprok dazu abnehmen. Die sich rasend entwickelnde Künstliche Intelligenz und die elektronischen Überwachungsmechanismen machen einen Sturm auf die Bastille in Zukunft sinnlos. Wer’s nicht glaubt, der blicke nach China!

Zu hoffen, dass sich religiöse Systeme dem technischen Fortschritt veweigern, weil dieser mit den Grundzügen der staatstragenden Religion nicht vereinbar sei, wäre töricht. Kein noch so fanatischer Dogmatismus würde sich den Segnungen technischer Mittel verweigern, wenn diese nur effektiv helfen, das eigene Volk und den äußeren Feind in Schach zu halten - selbst, wenn sie der Teufel persönlich frei Haus lieferte. Es geht primär um die Macht und jegliche Religion ist nur ein Domestik der Macht unter vielen, wie andere Systeme zum Machterwerb und -erhalt auch. Mit anderen Worten: Die Religion dient der Macht - niemals umgekehrt.

Aberwitzige Versuche, dieses Grundgesetz auf den Kopf zu stellen, scheitern in der Regel in Windeseile: Die Münsteraner Täuferbewegung oder das Florentiner Experiment des Genossen Savonarola liefern die praktische Unterfütterung zu dieser These.

Wo die Welle dann aufbranden und zurück donnern wird, welche gesellschaftlichen Widersprüche und Verwerfungen dann wie gelöst werden – vor solchen Prognosen würde sich selbst Karl Marx heutzutage bekreuzigen. Wir wissen das auch nicht. Vielleicht hülfe die Chaostheorie an dieser Stelle weiter. Mit Fraktalen lässt sich auch eine Menge anfangen. Doch wie gesagt, das übersteigt auch unseren Horizont.

Im Prinzip ist es auch egal. Das Leben geht weiter – wenn nicht unseres als Menschheit, dann das der anderen Kreaturen.

Die einzige treffende Voraussage formulierte einst die BBC London: „Die Zukunft wird wild!“ und derjenige wird sich am längsten über Wasser halten, der die Wellen zu lesen und optimal zu reiten versteht. Aber am Ende ersaufen sie alle! Das ist das ungemein Tröstliche an der Sache.

30. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2003
13.02.2025