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Hin und weg

Was kosmische Schwarze Löcher und die ODEG gemeinsam haben

Was den Ereignishorizont eines Schwarzen Loches passiert und was im Eisenbahnabteil liegen bleibt, das ist verloren für alle Zeiten. Bei den Schwerkraftmonstern jedoch ist die Physik verantwortlich - bei der ODEG aber Verlustmanagement mit viel Luft nach oben.

Don M. Barbagrigia. Gudhjem / Bornholm. Hand auf’s Herz: Haben Sie schon mal etwas im Eisenbahnwaggon liegengelassen? Viele von Ihnen, verehrte Leser, werden jetzt wehen Herzens mit dem Kopf nicken. Manchmal war’s ein Regenschirm, den man brauchte, als man zustieg. Am Ankunftsort aber lachte die Sonne – der Regenschirm war vergessen und erst, als die Wolken sich wieder drohend zusammenballten … Menschenskind, wo hatte ich den denn das letzte mal, warte … verdammt, ach nöööö! Weg isser! Das Laptop, das zum Glück wieder auftauchte, nachdem man etwa drei Pfund an von der Stirne perlendem Angstschweiß verloren hatte, die Aktentasche mit den Papieren … das war einen Rennerei! … und das schöne Geld … und der Ärger, weil das Anschluss-Billett im Koffer lag.

Also – wir wissen alle, worum es geht.

Den Kollegen Hübner hatte es auch erwischt, in einem doppelstöckigen Zug der ODEG, der Ostdeutschen Eisenbahn-Gesellschaft, die ihren Regionalexpress bis Werder (Havel) auf den Geleisen des alten Reichsbahn-Sputnik zwischen Magdeburg und Frankfurt/Oder, Stalin- oder Eisenhüttenstadt oder Cottbus pendeln lässt. Diese Relation wurde mal von der Deutschen Bahn abgeritten – der Herr behüte uns!

Hübnern sitzt also oben, in der ersten Klasse, nicht, weil er versnobt wäre, nee, das nicht. Aber er ist ein großer Kerl, braucht mehr Raum um sich herum, kann dort oben mit seinem Rechner arbeiten, sieht mehr von der Landschaft und schont sein Nervenkostüm ob des meist dämlichen und gehaltlosen Gesülzes einiger Holzbank-Passagiere – also doch versnobt.

Egal. Jedenfalls deponierte er seinen blauen Beutel mit dem Futter für den Tag auf dem gegenüberliegenden Sitz, eine Flasche Wasser – ein bisschen Brot, Käse, Wurst – na was man halt so braucht, um zu verhindern, dass einem am Abend das Vaterunser durch die Rippchen bläst.

Der Zug rollt in Werder ein, Hübner greift seinen Aktenkoffer, geht runter, steigt aus und im Buswartehäuschen fällt ihm auf, dass er den Beutel liegen gelassen hat. Blöd. Der schippert mittlerweile am Potsdamer Kaiserbahnhof vorbei und strebt der Stadtmitte der Residenz entgegen.

Macht ja nichts! Wir leben im 21. Jahrhundert! Das Smartphone, ein Android-basiertes Galaxy Note 10+ mit 5G-Internet-Zugang ist zur Hand, die Verlustmeldungsseite der ODEG schnell aufgerufen, das Online-Formular ausgefüllt – dann kann’s ja losgehen.

Sehen wir uns mal Hübners Kopfkino an: Er sendet das Formular ab, die ODEG – Zentrale in Berlin-Lichtenberg übermittelt es über Bordtelephon an die nette Frau Conducteuse, die gerade gemeinsam mit dem Eleven das Billett kontrolliert hat – die geht noch einmal durch – wer stiehlt schon aus der Ersten ein Fresspaket? Sie stellt es sicher und ehe die Viktualien verdorben sind, holt sich Hübnern sein Brutelchen ab. Wegen meiner am Schlesischen oder am Anhalter Bahnhof, am Stettiner oder in Ouagadougou, ist doch egal. Hauptsache, der Beutel ist wieder da. Alles gut.

Soweit zu den inneren Filmstudios von Babelsberg. Die harte Realität ist eine andere. Die sieht nämlich so aus: Fünf Versuche, das Formular abzusenden, scheitern jämmerlich. „Fehlermeldung“ und „Versuchen Sie es später noch einmal!“ Wird wohl am Android-System liegen. Zehn Minuten später am Arbeitsplatz: Der Arbeitsrechner, Windows Elf, WLAN: neuerlicher Aufruf der Verlustmaske, Eingabe, Absenden: „Fehlermeldung“ und „Versuchen Sie es später noch einmal!“. Der mitgeführte Laptop, der Gott sei Dank nicht im blauen Beutel, sondern im Diplomatenkoffer war: Windows Zehn, WLAN: neuerlicher Aufruf der Verlustmaske, Eingabe, Absenden: „Fehlermeldung“ und „Versuchen Sie es später noch einmal!“

Es ist zum Weichwerden! Aber man hat ja einen Fernsprecher, ach was – derer sogar drei: Festnetz, Diensttelephon Motorola, eigenes Mobiltelefon – das Galaxy. Nutzt alles nichts! Bei der ODEG hebt keiner ab, nirgendwo, nicht in Lichtenberg, nicht in der Prignitz, nicht in Magadan, nicht in Kuala Lumpur, oder wo die sonst noch ein Büro haben, nicht bei der Pressesprecherin, nicht bei deren Stellvertreterin, der bildschönen Frau Mielke. Nirgends.

Mehr Nummern findet man nicht. Derweil nähert sich der blaue Beutel gewiss seiner Enddestination. Man könnte sich vorstellen, dass dort ein Schnellreinigungstrupp durch die Waggons eilt – ah, ein Beutel … Was wohl drin sein wird. Ähccch, bloß Fressalien, weg damit! Das ist die wahrscheinlichste Theorie, Ockhams Schermesser. Wer aus der Ersten – wo im Allgemeinen das begütertere Volk sitzt – reißt sich einen Stoffbeutel mit Stullen unter den Nagel? Eher nicht, oder?

Wie dem auch sei. Als Hübner endlich jemanden im Service-Center Lichtenberg an den Apparat bekommt, eine freundliche Dame übrigens, nimmt die den Verlust händisch auf. Nach etlichen Tagen erreicht den geplagten Journalisten dann per Mail die Nachricht, dass man den Beutel leider nicht gefunden habe.

Nix – Bordtelefon, nix 21. Jahrhundert … auf der schwäb’schen Eisenbahne … Nu stell Dir mal vor, Hübner hätte den Beutel mit raus genommen und den Koffer im Abteil stehen gelassen! Das wär’s gewesen.

Notrufnummer, Durchwahl im Notfall in den Zug? Frau Kondukteurin, bitte, seien Sie doch mal so nett …! Vergiss es! Du bist hier in Deutschland, einer einstigen wirtschaftlichen und technologischen Führungsnation – aber das ist fünfzig Jahre her.

Die ODEG, deren größter Fan übrigens Hübners 5jähriger Sohn Wolfi ist, der für seine Idole sogar ein Bild malte in der Hoffnung, dieses auf den Kinderbilletts wiederzufinden, die ODEG also hilft uns nach Kräften daran zu erinnern, dass diese besagte Blütezeit Nachkriegsdeutschlands eben seit spätestens 25 Jahren definitv vorbei ist.

Das ist zwar sehr aufmerksam und nett von diesen Eisenbahnern, nichtsdestotrotz jedoch unnötig. Einen Beutel kann man vergessen – den unaufhaltsamen Niedergang Deutschlands samt seiner Infrastruktur jedoch kaum. Dazu wird man allerorten und rund um die Uhr mit der Nase drauf gestoßen.

Selbst bei einem Unternehmen, das mal in Konkurrenz zur abgelebten Deutschen Bahn angetreten ist – einem Unternehmen, dass man bereits wegen Rufschädigung verklagen kann, wenn es sich de facto zu Recht darauf beruft, zur Hälfte ein Kind der Deutschen Reichsbahn zu sein.

Das Personal liegt in seiner Zugewandtheit und Freundlichkeit zweifelsohne vorne, die Züge sind angenehmer – aber ein zeitgemäßes Verlustmanagement kann auch die ODEG nicht bieten. Wenigstens die vorgenannte bildhübsche stellvertretende Pressesprecherin hatte Hübnern zurückgerufen, nachdem dieser mit rotem Kopf und weißen Dampfjets, die seinen beiden Radartüten entschossen, den Anrufbeantworter der armen Dame angeblafft hatte. Also so scheißegal, wie der Konkurrenz die Fahrgäste zu sein scheinen, sind diese der ODEG denn offensichtlich doch nicht. Hoffen wir es mal und drücken differentialdiagnostische Überlegungen diskret in den Skat von geneigter Dezenz.

Summa summarum folgt also: Nehm’ Se Ihre Gedanken zusammen und wenn das nicht geht, verzichten Sie auf die Schiene. Hätte Hübner sich an diesem Tage für sein überdimensioniertes Automobil entschieden, so hätte er zwar weder der Umwelt noch der ODEG einen Gefallen getan – er hätte jedoch keine Zwangsdiät einlegen müssen. Tja, aber leider werden immer nur die Schlauen vor dem Schaden klug. Aus diesem Grunde ist Herr Fjølfross noch immer Schriftleiter des Preußischen Landboten und nicht der vergessliche Hübner, auch wenn der mal in einem wirkungsmächtigeren Verlag den Posten des Chefredakteurs verantwortete.

Und … kleiner 5jähriger Wolfibär, bewahre dir deine Illusionen, die du dir in deiner Kindheit noch leisten kannst. Dein für die ODEG gemaltes Bild schafft es so wenig auf die Kinderbilletts, wie es deine in dem ODEG Zug RE 1 vergessene Plüschkatze zu dir oder Papis Bemmen zu ihm oder ein technologisch den Möglichkeiten der Zeit angemessener Service zur ODEG schafft. Wenn du so etwas suchst, kauf Dir ein Billett für den Orientexpress von Paris nach Konstantinopel oder für den Ghan quer durch das Heimatland deiner Mami. Dann weißt du, was möglich ist und dann weißt du, wie es um deine absaufende Heimat bestellt ist.

30. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2003
22.02.2025