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Nürnberg
– das gebrochene Versprechen
- ein Besuch im Saal 600 - Don M. Barbagrigia. Havelsee. Nürnberg – Stadt der Reichsparteitage der NSDAP, Gralsburg des Völkerrechts! Hier, in der Bärenschanzstraße 27 steht der riesige Komplex des Justizpalastes. So weit ist das gar nicht von jener Stadtmauer entfernt, über welche der Raubritter Eppelein von Gailingen mit seinem Ross hinwegsetzte, um sich der drohenden Hinrichtung durch die Nürnberger zu entziehen. „Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn!“, soll er höhnisch gerufen haben. Nun ja, die Nürnberger haben ihn ja im Mai 1381 doch noch bekommen und diesmal hatten sie es tatsächlich nicht so mit dem aufhängen, diesmal zerdroschen sie ihm zu Neumarkt in der Oberpfalz mit einem Richtrad alle Knochen und flochten ihn hernach auf dieses Rad. Dort ließen sie ihn dann elend verrecken. Eppelein war ein Schurke und viele, die er an Leib und Seele geschädigt hatte, werden bei dem bestialischen Urteil Genugtuung empfunden haben. Ein Bandit wie jene allerdings, welche 1946 im Schwurgerichtssaal 600 des Nürberger Justizpalastes abgeurteilt wurden, kann er nicht gewesen sein – dazu fehlten ihm schlichtweg die Mittel und die Möglichkeiten. Zu Nürnberg besann man sich also wieder des Galgens. Der zwischenzeitlich gewonnen geglaubte Grad an Zivilisation erforderte es. Das Rädern – für die Erzhalunken wäre das sicher angemessen gewesen – erschien denn wohl doch zu barbarisch. Außerdem hätte es denen Unverbesserlichen ihren unverzichtbaren Vorrat an Märtyrern geschaffen. Kurz und gut: Dort hängte man also die Obergauner des Dritten Reiches auf. Zumindest jene, deren man habhaft werden konnte. Die Rede des Chefanklägers Robert H. Jackson, ein US-Amerikaner, ging zu Recht als eine der brillantesten, je gehaltenen Reden in die Weltgeschichte ein. Gleich zu Beginn sprach der die berühmten Worte: „The privilege of opening the first trial in history for crimes against the peace of the world imposes a grave responsibility. The wrongs which we seek to condemn and punish have been so calculated, so malignant, and so devastating, that civilization cannot tolerate their being ignored, because it cannot survive their being repeated.“ Wir wollen das für unsere Leser, die des Englischen nicht oder nur unzureichend kundig sind, verdeutschen: „Das Privileg, den ersten Prozess der Geschichte wegen Verbrechen gegen den Weltfrieden zu eröffnen, birgt eine schwere Verantwortung in sich. Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so berechnend, so bösartig und so verheerend, dass die Zivilisation es nicht tolerieren kann, dass sie ignoriert werden, denn sie kann eine Wiederholung nicht überleben.“ Mr Jackson war ein Guter, keine Frage. Er zählte zu den nach unserer Ansicht herausragendsten Juristen, welche die Welt je sprechen hörte. Seine Worte meinte er ernst. Daran kann es keinen Zweifel geben. Recht hatte er mit allem, was er sagte. Nun aber sitzt ein Korrespondent des Preußischen Landboten in jenem Sitzungssaal und lauscht dieser Rede. Er sieht die Bänke, auf denen Göring, Kaltenbrunner, Streicher, Frank, Seyß-Inquart, Speer, Heß und die anderen Lumpen saßen, welche die Völker Europas und ihr eigenes in die größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte getrieben hatten. Er schaut zu der Stelle, von wo Mr Jackson sprach, der Journalist sitzt dort, wo seine Kollegen damals saßen, so unter anderem ein Herr Kästner seligen Angedenkens. Die Worte Mr Jacksons hallen im Kopf hin und her und vermengen sich mit der mahnenden Frage des Mr Roger Waters, gestellt auf dem genialen Pink-Floyd-Album „The final cut“, Titel: „The gunners dream“: „Was geschehen ist, ist geschehen - Wir können seine letzte Szene nicht wieder herausschreiben (er ist tot, wir können das nicht mehr ändern) - Gebt acht auf seinen Traum - Gebt acht!“ Und – haben wir Acht gegeben? Was lehrt uns Nürnberg? Ist die Welt seither eine bessere Welt geworden? Das wurde sie sicherlich … ein wenig zumindest. Nürnberg war ein Fanal, das erstmalig in der Weltgeschichte besagte: Die Mächtigen dieser Erde sollen sich nicht mehr in der Sicherheit wiegen, dass immer nur die armen Teufel und ihre Angehörigen bluten müssen – sondern, wenn es schief geht – sie auch! Nürnberg war ein Versprechen, eines, das im Haag seine Fortsetzung fand. Natürlich ist eine Welt mit Nürnberg und dem Haag besser, als eine Welt ohne diese Tribunale. Doch sehen wir uns die Realität an: Wer hing denn in Nürnberg am Galgen? Die Besiegten. Wer wurde denn im Haag eingelocht? Die Besiegten. Dazu gesellt sich noch ein schaler Beigeschmack: Es sind immer nur die vergleichsweise unbedeutenden Kriegsverbrecher und Warlords, die sich im Haag vor den Schranken des Internationalen Gerichtshofes wiederfinden. Unbedeutend, nicht gemessen an ihren Verbrechen, sondern unbedeutend, gemessen an der Rolle ihrer Staaten, Söldnertruppen oder Wirksamkeit auf der internationalen Bühne. Was aber ist mit den anderen? Was ist mit den Militärs und Zivilisten bedeutender, mächtiger, mitunter geschlagener aber dennoch unbesiegter Staaten? Jedenfalls insofern unbesiegt, dass niemand hätte über sie zu Gericht sitzen können: • Nur vier Jahre nach Mr Jacksons großer Rede und der Verurteilung der verantwortlichen Erzgauner verübten Landsleute von Mr Jackson das Massaker von Nogeun-ri in Korea. • Zwölf Jahre nach der Rede wurde das vietnamesische Dorf So My Lai samt seiner Bewohner von amerikanischen GIs mit hemmungsloser Brutalität ausradiert. • Fünfunddreißig Jahre nach Mr Jacksons Rede ermordete die 1. Brigade der 24 Infanteriedivision der Amerikaner 350 entwaffnete irakische Soldaten, die sich ergeben hatten. • Müssen wir zu Abu-Ghraib wirklich noch etwas sagen? Das war 58 Jahre nach Nürnberg. • Haditha, Mahmudiyya, Ishaqi, Azizabad, Kandahar, Bagram, Guantanamo … Welcher von diesen Kriegsverbrechern musste sich im Haag verantworten? Welche amerikanische Institution verhalf den unsterblichen Worten Mr Jacksons zur Geltung? Es gibt keinen Mord an Wehrlosen, Frauen, Kindern, Greisen im Namen des Guten. Es gibt keine Vergewaltigung von Frauen im Namen des Guten. Ein Verbrechen bleibt ein Verbrechen. Es gibt keine Todeslisten ohne den geringsten Versuch eines rechtsstaatlichen Verfahrens mit eingepreisten „Kollateralschäden“ im Namen des Guten. Nun mag man einwenden – die Israelis handeln doch aber auch so. Darauf antworten wir: Über die Juden haben WIR nicht zu richten! Nicht in den nächsten zehn Millionen Jahren. Nicht nach Auschwitz. Im Übrigen sitzt den Juden das Messer an der Kehle. Sie sind von Todfeinden eingekreist, die alle auf ihre Vernichtung sinnen und trachten. Ein Kampf auf Leben und Tod ist etwas anderes. Das entzieht sich unserer Bewertung. Für alle anderen aber gilt: Derjenige, der die Straffälligkeit nicht verfolgt und ahndet, macht sich zum Mittäter. So einfach ist das. Ein Staat, der sämtliche Versuche solche Täter zu bestrafen, mit dem Verweis auf seine Macht verhindert, ist ein Schurkenstaat, er denke von sich selbst, was er will, er treibe die Rechtsstaatlichkeit in seinem Innern auf die Spitze. Das ist an dieser Stelle völlig uninteressant. Der Haag indes versucht sich selbst nicht zu entehren und ermittelt auf internationalen Druck hin seit 2020 erstmals gegen amerikanische Kriegsverbrecher für ihre Gräueltaten in Afghanistan. Das ist aller Ehren wert, wird aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit über eine symbolische Verurteilung nicht hinausreichen. Die Amerikaner kooperieren in der Sache eigener Kriegsverbrechen nicht mit dem Haag. Sie haben es nicht nötig. Noch zählen sie nicht zu den Besiegten. Der Sieger zahlt keine Schulden. Doch Mr Jackson war nicht nur ein exzellenter Jurist, der das Seine dazu beigetragen hat, dass in Nürnberg vier Staaten mit völlig unterschiedlichen juristischen Traditionen und Kodizes zu einem von allen gemeinsam getragenen Verhandlungsprozedere und zu von allen Anklägern akzeptierten Urteilen fanden. Er war in gewisser Hinsicht auch ein Prophet mit Weitblick und Klarsicht. Eine Welt, die solche Verbrechen duldet, sie seien verantwortet von Siegern oder Besiegten, legt sich selbst den Strick um den Hals. Denn diese Welt klagt sich selbst an, verurteilt sich selbst und richtet sich selbst hin. Dabei führt sie die Nürnberger Tradition ungebrochen fort. Diese Welt, die das Unrecht der Sieger duldet, ist keine Siegerin in eigener Sache. Sie ist eine Besiegte. Gemäß der ebenso weisen wie zynischen Worte des gallischen Königs Brennus an die Römer, die da lauteten : „VAE VICTIS!“ zahlt der Besiegte die ganze Zeche. Das meinte Mr Jackson.
An diese profunde Wahrheit erinnert der Schwurgerichtssaal 600 im Justizpalast
zu Nürnberg. Wer das nicht begreift und auf die strafrechtliche Verfolgung
von Verbrechern verzichtet, unter welcher Flagge auch immer sie ihre Verbrechen
begangen haben mögen, der kann sich getrost zu den Bütteln und Henkersknechten
gesellen, welche unserer Zivilisation letztendlich den Todesstoß versetzen. … daß die Fürsten keine
Herren, sonder Diener des Schwerts sein. Sie sollen's nicht machen, wie
es ihnen wohlgefället (5. Mos. 17), sie sollen Recht tun. … Denn Gott
will Rechenschaft haben vom unschuldigen Blut (Ps. 79). Es ist der allergrößt
Greuel auf Erden, daß niemand der Bedürftigen Not sich will annehmen.
Die Großen machen's, wie sie wollen, wie Hiob am 41. beschreibt. So er sich dann vergreift
am allergeringesten, so muß er hängen. Da saget denn der Doktor Lügner:
Amen. Die Herren machen das selber, daß ihnen der arme Mann feind wird.
Die Ursache des Aufruhrs wollen sie nicht wegtun. Wie kann es die Länge
gut werden? So ich das sage,
muß ich aufrührisch sein! Wohlhin! Das halten wir für die wichtigste Botschaft, die uns der Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes lehrt. |
30.
Volumen |
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B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2003 18.03.2025 |