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Das verlorene Brinsingamen vom Harlunger Berge
oder wie man als Stadt systematisch alle gottgegebenen Potenziale und Chancen verspielt

Kotofeij K. Bajun. Havelsee. In einer föderalistische strukturierten Gesellschaftsordnung, welche sich dem mehr oder weniger freien Markt verschrieben hat, konkurriert alles mit allem. Auch Gemeinden und Kommunen stehen in diesem Wettbewerb. Ihrer Natur gemäß sind diese Siedlungen weitestgehend immobil – von Ausnahmen einmal abgesehen. Freyenstein zum Beispiel wurde aufgelassen und ein paar hundert Meter neu aufgebaut. Nun gut.

Das aber ist, wie gesagt, nicht die Regel. Wenn die Lokatoren einmal gesagt hatten: „Hier!“, dann war die Entscheidung gefallen. Mochte diese Standortwahl zu damaligen Bedingungen vielversprechend und günstig gewesen sein, so konnte die Lotterie alles Seienden schon in der nächsten Runde neue Karten geben, welche sich auf die Prosperität des Dorfes oder der Stadt so ungünstig auswirkte, dass diese bestenfalls an Bedeutung verlor oder schlimmstenfalls die Existenz. Eine neue Wüstung konnte dann nur noch ihren Flurnamen auf den Landkarten hinterlassen.

Was ist nun mit veränderten Bedingungen gemeint. Nun, was im Mittelalter von Vorteil war, nämlich wenn eine Stadt weiträumig von unwegsamem Gelände und Sumpfland umgeben war, was eine Belagerung zu einer extrem schwierigen Angelegenheit machte, kann in der Neuzeit sehr um Nachteil ausschlagen, in dem eine Expansion des Stadtgebietes sowohl in der Horizontalen als auch in der Vertikalen zu einer Herausforderung werden lässt. Überlebenswichtige Infrastruktur wie entsprechende Zuwegungen bedürfen dann nicht selten komplizierter und teurer Gründungs- und Stützbauwerke. Neue Trassen müssen auf Pfähle gesetzt werden, die in Brandenburg an der Havel schon mal locker den halben Weg zum Erdmittelpunkt messen können.

Brandenburg an der Havel … die alte Chur- und Hauptstadt, Domstadt, Dreistadt, Hansestadt, Hafenstadt, verkehrstechnisch hervorragend vernetzt, landschaftlich in eine der lieblichsten und abwechslungsreichsten Gegenden Deutschlands gebettet ist vor allem eines: Die Stadt der Zipfelmützigkeit. Mehr dröges und angstbehaftetes Mittelmaß lässt sich kaum vorstellen.

In den Neunzigern war es „das Loch“ auf dem Neustadt Markt, dass die Welt über die Hauptstadt der Mark lachen ließ. Nun ist es die Brücke ohne Rampe, die am seit dreißig Jahren vernachlässigten Bahnübergang Wust erneut das komische Talent Brandenburgs an der Havel herausstreicht.

Dabei besitzt diese Stadt ein ungeheures Potential, welches jedoch seit der Wende 1990 systematisch verjuxt, verschleudert und systematisch unter Wert verschachert wurde.

Es ist das regional Besondere, mit der eine Gemeinde ins Rennen um Gewerbe- und Bürgeransiedlungen gehen muss. Da reicht es nicht, im Stadtgebiet ein paar bronzene Köter der Gattung Mops zu verteilen, nur weil der einstige Komiker von nationalem Format, Vicco von Bülow, ein Sohn der Stadt war.

Auf dem Neustadt Markt, der seit Kriegsende noch immer leer oder mit Automobilen seelenlos gefüllt in den Himmel glotzt, weil die Stadt es versäumte, den Investor „Wertkonzept“ die Kubatur des neustädtische Rathauses in Glas und Beton wiederauferstehen zu lassen, steht eine Bronzetafel mit der Stadtsilhouette zum Befühlen für Blinde. Na ja, weil’s eben alle so machen. Es ist zum Gähnen.

Heute inmitten der Stadt gelegen, ruht ein Solitär – der Harlunger- oder Marienberg. Es hat Blut, Schweiß und Tränen gekostet, Legionen von Ignoranten und geschichtsfernen Entscheidern dazu zu bewegen, die preußische Station des Optischen Telegraphen Nr. 7 auf der Kuppe des Berges nachzuempfinden. Irgendwo drückt sich auch eine Schautafel herum, auf der zu sehen ist, wie sich einst die Marienkirche – ein Bauwerk von europäischem Format auf dem Berge ausmachte. Vor achthundert Jahren wurde sie von Bischof Gernand errichtet und entwickelte sich zu einem Wallfahrtsort von europäischem Rang.Doch während in Santiago de Compostela der Batafumeiro noch immer seine enormen Pendelbahnen durch das Kirchenschiff der Kathedrale zieht, sind von der Marienkirche, die dem Berge den heute geläufigen Namen gab, nicht einmal mehr die Grundmauern zu sehen.

Dabei wäre es angezeigt, gerade diese eiszeitliche Aufschüttung zu einer Touristenattraktion zu gestalten, welche über das Pflegen der BUGA-Parkanlagen hinausgeht. Es kann zwar schwerlich bewiesen werden, dennoch spricht einiges dafür, dass die zauberhafte, märchenhaft schöne germanische Göttin Freya, die ihre Ausfahrten in einem von zwei mächtigen Katern gezogenen Streitwagen macht, auf dem Harlunger Berge ihren Sitz und ihren Tempel hatte. Damit hat der Berg eine direkte Verbindung zu den frühen Wurzeln der europäischen Zivilisation. Denn er ist über Freya eingebunden in den Sagenkreis um Herrn Dietrich von Bern, oder auch Theoderich genannt. Freya nämlich besitzt ein kostbares Collier, das Brinsingamen, welches die Neffen des Dietrich-Verwandten Ake Harlungentrost in Verwahrung hatten.

Harlungentrost – Harlungerberg … dämmert da etwas? Richtig, das Brinsingamen soll im Harlunger berg deponiert worden sein. Wenn da wohl auch Unfug ist – aber kann man das nicht mit einem umfangreichen Bildprogramm unterhalb der Kuppe darstellen? Das wäre doch mal was! Da gehört die Bronze hin!

Im Zuge der Völkerwanderung kamen die Slawen und brachten ihren Triglaf mit, den Dreiköpfigen, der sowohl in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, als auch in die Unterwelt, die Diesseits-Welt und die Jenseitswelt der Götter blicken kann. Warum nicht in Bronze ein mögliches Aussehen von dessen Tempel nachgestalten? Warum nicht die große Geschichte dieses kleinen Berges eindrücklich vermitteln und auf seine überegionale, ja europäische Bedeutung verweisen? Warum nicht die Marienkirche als Bronzemodell nachgestalten? Warum all das Potential noch immer verschenken, womit man den Adel dieser ganz besonderen Stadt Ostelbiens, dieser ältesten und bedeutendsten Tochter Magdeburgs herausstreichen kann?

Neben diesen Modelltafeln hätte sicherlich noch ein Modell der Bismarckwarte Platz, die SED-Bonze Pannhausen 1974 in seiner kulturrevolutionären Barbarei sprengen ließ.

In der Altstadt ließe sich das Bergschmidt-Haus am Rathenower Torturm kennzeichnen, mit seinem legendären Dachbalkenwerk, wie es schon auf dem ältesten Stich der Altstadt vom Turm der Gotthardt-Kirche zu erkennen ist, in seiner originalen Kubatur! Die Wieckhäuser am Walther-Rathenau-Platz ließen sich erklären, die Geschichte des Kreisgartens von der gefluteten Doppelwallanlage, bis über den Kaiser-Otto-Ring bis zum heutigen Rathenau-Platz. In der Kapellengasse ließe sich darauf aufmerksam machen, wo die kleine Kapelle stand, welche die armen Juden als Regress für das an ihnen verübte Justizverbrechen von 1510, das staatliche Hostien-Mord-Pogrom, hatten errichten müssen. Man weiß zwar nicht mehr genau, wo es stand, aber man kann beschreiben, warum die Kapellengasse so heißt, wie sie heißt.

In der Neustadt fehlen die Verweise auf das prächtige Abtshaus, die Residenz der mächtigen Äbte von Lehnin in der Chur- und Hauptstadt … auch hier trägt die Straße noch den entsprechenden Namen. Die Rochow’sche Residenz dort, wo heute die Barmer-Dependance logiert … das Riedel’sche und das Kurfürstenhaus hinterließen eine fürchterliche Lücke. Warum ist die Klappgasse so eng und die Zuwegungen zum Katharinenkirchplatz – keine Hinweise! Na, weil der Katharinenkirchplatz ein Kirchhof war, so, wie der Gotthardt-Platz ebenfalls. Warum wohl musste das älteste Schulgebäude der Mark im Schatten des Turmes der Gotthardt-Kirche um zwei Fachwerk-Joche eingekürzt werden?

Verschämt und ungeschützt lungern die wertvollen Bernini-Statuen auf dem Dom herum – Regen und Abgasen hilflos ausgesetzt. Kann man die nicht gläsern einhausen? Wo ist der Hinweis auf das Henkersgrundstück in der Neustadt, auf die Geschichte der Neustädtischen Gemeindeschule, später NSDAP-Kreisleitung unter Schweine-Siggi Heppner, dann Pestalozzi-Schule, dann Ausländerbehörde und Standesamt und Verbannungsort von Brandenburgs legendärem Museumsdirektor Dr. Hans-Georg Kohnke.

Einer Stadt aber, die sogar ihre Freilichtbühne in Gestalt eines antiken Amphitheaters restauriert um sie hernach wieder verkommen zu lassen, ist nich mehr zu helfen. Es ist ein so dröger, ein so traniger, ein so gartenzwergiger Umgang mit dem enormen Potential der Krone und Wiege der Mark. Alles, alles überlassen die Brandenburger den mächtigen Nachbarn Potsdam und Berlin. Die Hauptstadt ist nichts mehr als eine Tochter Brandenburgs, denn von Brandenburg erhielten Spandau, Berlin und Cölln überhaupt erstmal das Stadtrecht. Potsdam ist künstlich – Brandenburg ein einziges Original.

Ja, Rothenburg ob der Tauber, Tangermünde, Erfurt … die machen was aus sich. Die holen aus jedem Winkel noch das Letzte raus. Brandenburg schnarcht und stellt Mops-Hunde mit Hirschgeweihen als sogenannte Waldmöpse auf. Mutter Gottes. Irgendein Wegweiserchen wird mit großem Brimborium auf der Bahnhofsplatte eingeweiht, bei welcher der KFZ-Verkehr unter die Erde und die Straßenbahn unter ein Schleppdach am Bahnhof gehört hätte. Das ist alles nichts halbes und nichts ganzes! Das ist alles so miefig und so spießig. Das kommt nicht aus dem Knick. Das hat keine aggressive, auf Touristenfang eingenordete Dynamik. Man wurschtelt sich so altbacken-märkisch und behäbig durch, wie alle anderen eben auch … Bis auf die paar Kommunen, die es eben begriffen haben und noch aus dem letzten Hundehaufen Goldstücke schlagen.

Karl Zacharias sagte einst, in Brandenburg baue man nicht für heute und schon gar nicht für morgen, sondern eher für vorgestern. Das sagte er noch zu DDR-Zeiten, als es in Brandenburg noch voran ging. Die drei Brücken-Fiaschi zu tiefsten West-Zeiten bestätigen den alten Propheten noch weit über dessen weise Worte hinaus. Wenn man denn aber wenigstens der stolzen Vergangenheit noch adäquat Erwähnung täte!

Da sagt ein altes deutsches Sprichwort. „Und wenn man eynem Säu gleich ein gülden Kleidt anzöche, so bleibt es doch ein Säu!“ Tja, Brandenburg an der Havel … dir kann man so viele Marienberge spendieren, wie man will – der große europäische Verkehr wird wohl auch in hundert Jahren noch an dir auf der Reichsautobahn A2 vorbeifluten, ohne von dir auch nur die geringste Kenntnis zu nehmen. Gleichwohl diese Ost-West Magistrale sogar für einige Kilometer durch dein Stadtgebiet führt, obwohl der Marienberg von ihr aus gut zu sehen ist.

Wer das wertvollste Industriegrundstück Mitteldeutschlands sinnlos verhackstückt – gemeint ist natürlich das SWB-Gelände, wer nicht einmal weiß, wie viel Tonnage der eigene Binnenhafen umschlägt, wer seine touristischen Pfunde vergammeln lässt, wie das Bergschmidt-Haus am Rathenower Torturm, dem ist nicht mehr zu helfen. Der muss sich nicht wundern, wenn die so teuer erschlossenen Gewerbeflächen brach bleiben und die schön asphaltierten Zuwegungen bestenfalls für Skater und Fahrradfahrer interessant sind. Mittelmaß hat noch nie eine besondere Attraktivität verströmt. Und wer sich selbst nichts wert ist – niemand, der nichts über sich weiß, kann sich selbst etwas bedeuten – der darf auch nicht erwarten, dass er für andere von Bedeutung ist.

Also schnarche schön weiter, Chur- und Hauptstadt der Mark, Hanse- und Domstadt, Dreistadt, vornehmste Tochter Magdeburgs! Schnarche, bis die Mittelmäßigkeit dich zugewuchert hat und träume vielleicht noch ein bisschen von den vergangenen Zeiten, als in dir noch ein pulsierendes Herz schlug, als die Pferdebahn ein innovatives, innerstädtisches Verkehrsmittel war, du an die erste preußische Bahnlinie angeschlossen wurdest, der ICE bei dir hielt, das Militär große Kasernen vor deine Mauern baute, der Schöppenstuhl ein Ort zentraler wenn auch nicht immer weiser Rechtsprechung war, die besten Fahrräder der Welt in deinen Mauern gebaut wurden und der Schnittpunkt der wichtigsten Fernstraße Deutschlands und der wichtigsten Fernstraße der Mark dich zu einem besonderes Zentrum des Geschehens erhoben!

Apropos Kasernen … Brandenburgs große Militärgeschichte. Wo steht an den konvertierten Gebäuden auch nur der kleinste Hinweis, wen und was sie mal beherbergten? Na ja, stimmt, seit Amazon die neuen Zipfelmützen gebracht hat, sind wir alle ja so friedlich geworden, wenn es nicht gerade darum geht, gegen die Russen Flagge aufzuziehen. Die lagen übrigens auch mal mit starker Garnison in der Havelmetropole. Außer dem Denkmal und den paar Russenfriedhöfen erinner nichts mehr an sie. Wenn man aber schon den großen Dr. Heinrich Heine als Namenspatron der Hans-Schemm- (pfui Teufel!), später Quenzschule ausradiert, um ihr den geistlosen Namen Havelschule zu verpassen, wenn man den großen Puschkin aus der Stadt verbannt – was will man dann noch erwarten. Unser geistiger Herr Großvater Dr. jur. Heinrich Heine hat je wenigstens noch „seinen“ Park am linken Ufer von Mütterchen Havel behalten. Gott sei’s gepfiffen und getrommelt!

Sollte das Brinsingamen im Harlunger Berge liegen, so möge es dort bleiben. Denn selbst, wenn du es fändest, Brandenburg an der Havel, du könntest nichts damit beginnen. Kein Wunder, dass dir die schöne Freya, der weitsichtige Triglaf, die Gottesmutter und überhaupt alle guten Geister den Rücken zugekehrt haben. Der Preußische Landbote übrigens inklusive.

30. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2003
29.12.2024