Wo liegt Wien?
Michael L. Hübner
Das Kaminfeuer flackerte und prasselte lustig vor sich hin. Das Gespräch
der vor ihm versammelten Redakteure aber drehte sich um ein anderes
brennendes Thema. Über die Unverfrorenheit des Kindermörders Gaefgen,
der sich nach den Jahren, die seit der Entführung und Ermordung des
kleinen Jacob von Metzler vergangen waren, wieder skandalös ins Bewußtsein
der Öffentlichkeit gedrängelt hatte, kam das Gespräch zu der Unverschämtheit
des Josef Fritzl, der sich in Amstetten erkühnte, aus seiner Zelle heraus
ein Haus zu bauen.
"Sind denn die Ostmärker irrsinnig geworden", raunzte Don
Miquele in die Runde, "welches ehrliche Gewerk verhandelt denn
noch mit diesem Strolch? Woher hat der das Geld? Hat der keine Verpflichtungen
seiner geschändeten Tochter und deren Familie, sowie dem Gericht gegenüber?
Wer von den Ösis möchte denn schon in einem Haus wohnen, das Fritzl
gebaut hat?"
Keine der Fragen wurden dem Sizilianer beantwortet. Statt dessen fühlte
er alle Augen auf sich gerichtet. "Noch interessanter erscheint
uns Ihr Duktus, verehrter Don", erklärte Bajun, nachdem er genüßlich
an seiner Pfeife gesogen hatte. In Ihrer Wut sprechen Sie ganz despektierlich
von der Ostmark. Hatten Sie nicht seinerzeit vom Führer des Großdeutschen
Reiches Südtirol geschenkt bekommen, was ja mal ein Teil jener von Ihnen
so verachteten Ostmark war?" "Kerl, was schießt er schlecht!",
polterte der Mann aus Palermo zurück und man vermeinte, einen schwarzen,
breitkrempigen Hut auf seinem Kopfe zu sehen. "Wir wollen mal konstatieren,
dass ICH überhaupt nichts vom Führer geschenkt bekommen habe. Und von
Mussolini auch nicht. Damit das gleich klar ist! Von Bozen und Meran
verstehe ich so wenig wie Sie. Die sind nicht richtig deutsch und italienisch
sind sie auch nicht..." "Also der ideale Kitt für Europa",
rief Monsieur Lemarcou in die Runde. Die Anspielung auf Andreas Hofer
ließ den Franzosen so rot werden wie seinen geliebten Bordeaux.
"Nun, nun", warf Fjoe begütigend in die Runde, nachdem er
während der hitzigen Diskussion bislang selbst nur still seine Pfeife
gestopft und entzündet hatte, "ja, welches Verhältnis haben wir
eigentlich zu denen Österreichern? Ist es ein besonderes innerhalb des
europäischen Hauses? Verbindet uns mehr mit ihnen, als nur die Sprache
und eine gemeinsame europäische Geschichte? Mit was wäre dieses Verhältnis
vergleichbar? Mit China und Formosa gar, oder mit Berlin und Danzig?
Wie steht Preußen zu Wien? Ich meine nach Kolin und Leuthen, nach Königgrätz,
der Nibelungentreue und der auf dem Heldenplatz vor der Geschichte gemeldeten
"Eintritt" der Heimat des Gröfaz in das Deutsche Reich."
Es kehrte Ruhe ein, man möchte sagen, ein beinahe betretenes Schweigen.
Nur bei Herrn Akinokawa wusste man nicht so recht, ob er in der Musterung
seiner berühmten, dünnwandigen Teeschale aus Bizen nicht gerade die
sich gegen den Horizont blass abzeichnende Berglinie der Kurilen hinter
dem Meer zu erkennen vermeinte. Das Thema war ihm in jedem Falle ferne.
Wie abwesend ließ er sich in die Stille hinein vernehmen: "Völkerrechtlich
gesehen..." "Hai, Akinokawa sama", unterbrach ihn sehr
unhöflich der Vize, "die internationale Rechtslage dürfte jedem
hier im Raume geläufig sein und bedarf keiner näheren Erläuterung. Sie
wird ja auch von niemandem in Frage gestellt." "Worum aber
könnte es ihnen bei klarer Vernunft dann gehen?" fragte der Japaner
mit ruhiger Gelassenheit zurück. "Möglicherweise geht es darum,
ob Österreich so etwas wie ein gefühltes In- oder Ausland ist.",
wandte Herr Katz aus Krakau ein. "Gefiehlt, gefiehlt – was gefiehlt?
Ist doch fier einen Jid nebbich alles eines. Wir fielen uns hier zuhause
und dort, wie wir uns dort nicht zuhause fielen und hier auch nicht.
Zuhause ist im Heiligen Land! Wos mocht das fier einen Unterschied,
ob man wird in Wien herumgestoßen oder in Berlin!"
Der Gesprächsgegenstand war dem Aschkenas sichtlich unangenehm, weswegen
er wohl gelinde über das Ziel hinaus schoss.
"Sie bemühten vorhin das Bild des europäischen Hauses, Chef",
mischte ich mich in das Gespräch hinein. Als einziger, der in einer
preußischen Provinz zur Welt gekommen und aufgewachsen war, durfte ich
mit einigem Interesse rechnen und tatsächlich wandten sich mir nun die
Kollegen zu. Wien ist tatsächlich so etwas wie gefühltes Inland, ohne
das diese Feststellung das Geringste mit dem gewaltsamen Anschluss vom
12. März 1938 etwas zu tun hätte. Wir gingen gemeinsam aus dem Heiligen
Römischen Reich Deutscher Nation hervor. Die römisch-deutschen Kaiser
residierten in Wien, ließen sich aber in Frankfurt krönen. Die spätere
Grenzziehung zwischen der Alpenmonarchie und den nördlicheren Teilen
des Vaterlandes war widersinnig. Sicher, Grenzen gab es auch innerhalb
des Reiches. So verhinderte Friedrich der Große seinerzeit, dass sich
Kaiser Joseph das Königreich Bayern einverleibte. Die eigentliche Trennung
erfolgte doch erst unter Bismarck, als sich Hohenzollern, die jahrhundertelang
Vasallen Habsburgs gewesen waren, mit einer eigenen Kaiserkrone gegen
ihre vormaligen Lehnsherren zu emanzipieren begannen. Aber was ging
das das deutsche Volk an?"
"Nun, wir danken für die Geschichtsstunde, obgleich sie nicht viel
Neues zu Tage förderte und daher sicher auf der nächsten Honorarabrechnung
keine Berücksichtigung finden wird" ätzte Bajun aus seiner Ecke.
"Moment," rief ich ihm über die Köpfe der anderen hinweg zu,
"ich bin noch nicht fertig! Was ich damit zum Ausdruck bringen
will, ist, dass die Reichsinsignien, die in der Hofburg zu Wien verwahrt
werden, das gesamte Reich repräsentieren – bis zurück zu unserem Herrn
Kaiser Otto, dem – nota bene – auch der Herzog von Österreich Lehnstreue
schuldete. Solange also die deutsche Kaiserkrone, der Reichsapfel, das
Reichsszepter und die Heilige Lanze in Wien liegen, solange bleibt auch
von österreichischer Seite nolens volens die ideelle Verbindung zu Deutschland
bestehen. Nehmen Sie als Analogon ein Doppelzimmer im europäischen Hause,
dessen Schiebetür seit 1945 wieder abgeschlossen wurde. Sicher, man
muss nun über den Flur zum Nachbarn – aber die Schiebetür ist nun einmal
da! Offen oder geschlossen. Zum Zimmer Frankreichs, Spaniens oder Griechenlands
gibt es keinen solchen Durchgang."
"Und was ist mit uns", krähte süffisant der an seinem Chianti
nippende Don, einen gewaltigen Schwaden aus seiner Zigarre paffend,
"unser gemeinsamer Kaiser liegt in Palermo begraben. Haben wir
auch so eine Schiebetür nach Norden?" Er grinste, das seine Ohren
Besuch bekamen. Die Situation begann ins Peinliche abzugleiten. Niemand
hatte ein Interesse daran, die unselige Achse Berlin-Rom-Tokio geisterhaft
zu beschwören. Dass dieses Gespenst jedoch bereits durch die Rauchschwaden
um den Kamin herum zu wabern begann, merkte man selbst Herrn Akinokawa
an, der seine Teeschale mittlerweile wieder auf den Bambusuntersetzer
platziert hatte. Ich war gefordert und beschloss, in Flucht nach vorn
anzutreten: "Selbstredend, Don Miquele! Das Einzige, was Rom eine
geschlagene preußische Meile hinter Wien rangieren lässt, ist der Unterschied
der Sprachen. Ansonsten schauen wir unter allen Nachbarn wohl am Genauesten
hin, was ihr euren Signore Berlusconi so treiben laßt!" Das saß!
Betroffen schwieg der Landsmann unseres großen Kaisers Friedrich. "Etwas
abgekühlter fuhr ich daher fort: "Tatsächlich kann man wohl sagen,
dass unser Verhältnis zu den Österreichern so etwas wie ein gefühltes
innerdeutsches ist, ohne das jemand plant, einen Landeshauptmann gegen
einen Ministerpräsidenten auszutauschen oder aus zwei Bundeskanzlerämtern
eines zu machen. Wenn man – und wir alle sind ja wohl bekennende Europäer
– (Herr Akinokawa räusperte sich dezent) – also das gemeinsame europäische
Haus bemüht, dann ist es wohl nicht verkehrt zu sagen, dass uns der
Habsburger Rock näher liegt, als die französichen Culotten." Nun
war es an Monsieur Lemarcou etwas pikiert anzumerken: "Das haben
wir dann wohl den Herren Richelieu und Mazarin zu danken..." "...und
Bonaparte und Talleyrand und Pétain...", setze Herr Bajun giftig
lächelnd hinzu. "Friedlich, Kinders", rief Fjoe an dieser
Stelle dazwischen, "de Gaulle und Adenauer, Kohl und Mitterand
haben die Brücken über den Rhein wieder repariert, das Elsaß und Lothringen
trennen nicht mehr – sie verbinden. Ich sehe dort durchaus die vielbeschworene
Schiebetür, die längst nicht so verbarrikadiert ist, wie die von ihnen
angeregte zwischen Berlin und Wien oder Berlin und Rom." "Eine
Schwalbe macht noch keinen Frühling, Chef", rief ich zu ihm hinüber.
"Wenn die Deutschen de Gaulle zujubelten, weil er sie auf Deutsch
adressierte, wenn sich Kohl und Mitterand bei den Händen fassten, so
ist das noch lange kein Indiz dafür, dass uns Marianne genauso fest
in ihr französisches Herz geschlossen hat. Der Kultursender ARTE bemüht
sehr lobenswert, aber doch auch gleichzeitig sehr angestrengt, einen
ziemlich trägen und schläfrigen Geist aus der Flasche zu beschwören.
Zumindest will in der französischen Provinz kaum jemanden einen Boche
neben sich wohnen haben. In Paris selbst mag man das liberaler handhaben.
Aber der Rest, der Rest... Die Achse Berlin-Paris ist eine Verbindung,
die leider aus der Angst geboren wurde, der Angst vor Verdun. Man hat
den Eindruck, wenn sich Kohl und Mitterand bei den Händen halten, dann
aus echter Freundschaft, wenn sich aber Heinrich und Pierre bei den
Händen halten, dann, weil sie nur in diesem Augenblick sicher sein können,
dass der andere keinen Dolch in der Hand hält. Das ist wohl bei allen
Spötteleien so zwischen Wien und Berlin nicht zu erwarten, sowenig wie
zwischen Passau und Salzburg.
Als ich geendet hatte, hielt mir Monsieur Lemarcou eine barocke, mundgeblasene,
böhmische Flöte, angefüllt mit seinem geliebten Bordeaux vor die Nase.
"Nehmen Sie, nehmen Sie", sagte er lächelnd, "und danke
für das Edikt von Potsdam! Trinken sie ruhig, Sie brauchen keine Angst
zu haben, wir Lemarcous sind kleiner französischer Landadel, nicht die
Spur verwandt mit dem Hause Katharina von Medici." "Prost,
Languedoc! Prost Wien", grinste ich zurück.
"Wenn Sie jetzt nicht den Choral von Leuthen anstimmen, sie durchtriebener
preußischer Schweinehund, dann lasse auch ich das Glas klingen",
lachte mich der Don an. "Ach, das europäische Haus ist doch etwas
Schönes. Es macht die Wände zwischen den Zimmern durchsichtiger und
dünner. In- oder Ausland – das spielt hoffentlich bald gar keine Rolle
mehr." Der dieses Schlußwort hielt, war Herr Katz, der auf seiner
Rückfahrt von Krakau mit dem Zug durch Schlesien gerollt war und in
Breslau einen Zwischenstop eingelegt hatte. "Schade, dass der Schweidnitzer
Keller nicht so eine schöne Feuerstelle besitzt" räsonierte er
leise. Herr Bajun legte ein paar Scheite nach. Es träumte sich gar nicht
so schlecht vor einem preußischen Kamin.