Paradigmenwechsel für die Kreditwirtschaft
Bundeskanzlerin mahnt Abkehr von bisherigem
Wirtschaftsdogma an
J. - F. S. Lemarcou
Hört, hört! Da ließ sich die Frau Bundeskanzlerin jüngst bei einem Vortrag
vor einem Umweltverband vernehmen, man müsse wegkommen vom Leben auf
Pump. Eine Wirtschaft, die sich auf Kredite und Darlehen gründe und
notorisch mehr verbrauche als sie produziere, sei auf Dauer zum Scheitern
verurteilt. Ja, gibt's denn so was?
Zwanzig Jahre früher wurde dem Kollegen Hübner von einem westdeutschen
Wirtschaftsfachmann das Gegenteil erklärt, als Hübner genau die Argumente
vortrug, derer sich nun die deutsche Bundeskanzlerin bedient. Hübner
ist ein Preuße, dem nach zweihundertundfünfzig Jahren noch immer die
Angst vor seinem Plus-machenden König Freidrich Wilhelm I. im Nacken
sitzt. Dieser stellte die Schuldner denen Dieben gleich, die man an
den lichten Galgen knüpfen solle, da sie doch mit fremdem Eigentum hantieren.
Zudem war ihm noch bekannt, was ihm von seinen Lehrern im Fache Mathematik
beigebracht wurde: simple Algebra, Prozent- und Zinsrechnung. Alles
wies darauf hin, dass ein solches Wirtschaftssystem irgendwann einmal
platzen müsse, da man eines schönen Tages zwangsweise an den Punkt käme,
an dem man nicht mehr tilgt, sondern nur noch der Zinslast hinterher
stolpert.
"Nein," tönte damals der Ökonom, "das ist Blödsinn!"
Eine kapitalistische Wirtschaft benötige das Kreditwesen als Fundament
– ohne Darlehen drehe sich kein Rad, käme alles immédiatement zum Stillstand.
Das war also die Doktrin. Heute kaufen – morgen bezahlen. Wie? Wovon?
Egal! Was schert uns die Zukunft? Hodie certa, cras incerta! Das Heute
ist sicher, das Morgen unsicher.
Nein, das Morgen, respektive dessen Nemesis war nur allzu gewiss. Kluge
Köpfe allerorten wussten schon damals sehr genau, was es bringen würde.
Nur, niemand machte das Maul auf. In der Zeit allgemeinen Konsumrauschs
war es nicht opportun, auf die Rechnung hinzuweisen. Solche Unkenrufe
wurden als störend empfunden und man hatte Angst, für die Quengelei
abgestraft zu werden. Immer weiter, lustig und vergnügt. Noch war ja
Tafelsilber da, was man verscherbeln konnte. Post, Bahn – da, nehmt,
wir geben es dahin und verbrämen diesen Ausverkauf mit einer Attitüde
des liberalen Wirtschaftsgebarens, der zurückhaltenden Politik und Verwaltung,
des sich nicht einmischenden Staates.
Dann nahm man den sozialen Schwachen das wenige, was sie noch hatten.
Man wolle sie als Teil der Solidargemeinschaft nicht bestehlen, Gott
bewahre! Nein, man wolle sie animieren, sich wieder dem Arbeitsmarkt
zur Verfügung zu stellen. Schönreden kann man so ziemlich alles.
Unter dem Druck der Ereignisse und den leeren Kassen werden nun die
Thesen offen ausgesprochen, die Hübner vor zwanzig Jahren mit eiskalter
Logik verfocht. Nun redet man dem Volk ins Gewissen. Viel wird jetzt
von Nachhaltigkeit und Solidität schwadroniert. Entschleunigung müsse
der globalen Raserei entgegen gesetzt werden. Na, dann man los! Helfen
wird es auch diesmal nicht. Die menschliche Gier setzt diesem hehren
Vorhaben enge Grenzen.
Es ist das erste Mal, dass wir – europäische Bekenner und Idealisten
– mit unendlichem Bedauern resignierend prophezeien, dass künftige Generationen
sehnsuchtsvoll nach einer "guten alten Zeit" zurückblicken
werden, in dem die Utopie einer europäischen Union greifbar nahe war.
Diese paneuropäische Idee des Friedens und der sozialen Sicherheit wurde
der Gier geopfert, dem Bestreben, möglichst viel zu besitzen, ohne viel
dafür zu tun, heute zu haben und irgendwann einmal dafür zu bezahlen
– wenn überhaupt.
Vor einigen Jahren überschwemmten Katastrophenszenarien Hollywoods Spielfilmindustrie.
Man ließ pausenlos Kometen auf die Erde prasseln. "Deep Impact"
hieß so ein Schinken. Hollywood aber hätte besser daran getan, wenn
es nicht ein Stein hätte auf die Erde zurasen lassen, sondern eine Immobilien-
und Kreditblase. Deren Zerstörungswut steht Gottes Hammer in nichts
nach.
Doch die Leute hätten es gesehen, nur wenige hätten es verstanden und
viele hätten es am nächsten Tage schon wieder vergessen um im gewohnten
Trott weiter zu machen.
Es ist besorgniserregend, wenn die Kanzlerin einen Klartext redet, der
seit spätestens vierzig Jahre überfällig ist. Dann ist es – so lehrt
es uns die Empirik – bereits fünf Minuten nach zwölf. Wir verfolgen
nun den blinden Aktionismus der Titanic-Crew nach der Kollision mit
dem Eisberg, während die nichts ahnenden Passagiere noch mit dem Eis
auf dem Oberdeck spielen. Das Hauen und Stechen begann damals erst,
als die Ersten bereits in den Booten waren und alles daran setzten,
die armen Teufel im Wasser nicht aufnehmen zu müssen. Das geschah vor
hundert Jahren und gibt uns nun ein mehr als deutliches Bild von dem,
was nun millionenfach verstärkt auf uns zurollt. Zuerst hauen wir den
Negern auf die Pfoten, die sich an die Arche Europa klammern. Dann werden
wir und gegenseitig umrennen und über Bord werfen – Schwache und Hilflose
zuerst. Danke, Frau Bundeskanzlerin für ein paar überfällige Wahrheiten
und für die deutliche Warnung!