Ein Hoch auf karolingische Minuskeln
Hamburg plant die "Abschaffung" der
Schreibschrift
Kotofeij K. Bajun
"Welches Datum weist der julianische Kalender für den 30. Julei
2011 aus? Den ersten April?" Das fragte mich der Chefredakteur,
als ich in der Redaktionskonferenz berichtete, was ich durch unsere
Frau Lektorin, Madame Colvert erfahren hatte, nämlich, dass Hamburg
plane, die Schreibschrift abzuschaffen. Mit seiner Frage spielte Fjoe
auf meine russische Herkunft an und darauf, dass der Kalender der russischen
Orthodoxie der gregorianischen Reform noch immer nicht gefolgt ist.
Die Schreibschrift abzuschaffen, konnte ein gebildeter Europäer wie
der Fjøllfross nur für einen zweitklassigen Aprilscherz halten.
Einzig Herr Akinokawa, Herr Druckepennig und Herr Katz nahmen die Sache
gelassen. Eine japanische Laufschrift existiert nur in der Kunst, die
hebräische und jiddische Kurrentschrift ist quasi bedeutungslos. Die
Deutschen aber tauschen sich seit achthundert Jahren in gebundener Schrift
aus. Nun plant Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe (SPD) die sukzessive
Abschaffung der Schreibschrift. Es ist eine weitere Nachäffung einer
amerikanischen Unsitte. Auch in den U.S.A. haben die Bildungspolitiker
mittlerweile vor der Verblödung ihres Volkes die weiße Fahne gehißt.
Doch wir sind hier in Deutschland – dem leider nicht in die nordamerikanische
Union aufgenommen Aftervasallen, Stiefelknecht und Speichellecker des
Yankeetums. Aus Rabes Sicht ist diese Bankrotterklärung der deutschen
Kultur durchaus verständlich: Seit Jahren müssen westdeutsche und nach
der Wiedervereinigung nun auch mitteldeutsche Schüler nicht mehr im
Unterricht mitschreiben, sind also nicht gefordert, möglichst viel Inhalt
gut lesbar in festgesteckten Zeiträumen zu Papier zu bringen. Es werden
massenweise kopierte Arbeitsblätter verteilt und später, bei der Vorlesung
in der Universität läßt man Diktaphone mitlaufen. Für den Rest gibt
es Scripte. Das geistige Rasenlatschertum hat sich machtvoll durchgesetzt
und der "Bildungssenator" der Kaufmannsmetropole Hamburg knickt
vor dem übermächtigen Feind farblos ein. Wie sollte er auch nicht –
immerhin ist er ja ein SPD-Mann – und in der alten Arbeiterverräter-Tante
SPD hat das Einknicken vor übermächtigen Feinden Tradition, nicht wahr,
die Herren Ebert und Noske?
Wozu also noch Schreibschrift? Die SMS werden nur in Druckbuchstaben
verfasst – auf den Tastaturen der Rechner gibt es ebenfalls keine Laufschrift
– (doch, die gibt es, aber für world-of-warcraft spielende Idioten kaum
zu finden...) - und die Egoshooter tragen nicht gerade zur intellektuellen
Ausbaufähigkeit der nachwachsenden Generation bei. Warum sie also mit
einer so komplizierten Sache wie einer gebundenen Schrift belasten,
da sie ja schon Mühe haben, einzelne Druckbuchstaben voneinander zu
unterscheiden? Man muss Konzessionen an die Hirnis machen, noch eine
und noch eine und noch eine... Was kommt als nächstes?
Na klar – wir schaffen die Großschreibung der Substantive ab und danach
einigen wir uns darauf, überhaupt nur noch große oder aber kleine Lettern
zu verwenden. Ist doch alles viel übersichtlicher. Und die lieben, lernbehinderten
Kleinen freut es – statt 59 Buchstabenzeichen müssen sie jetzt nur noch
30 lernen – ach was, 26 tun es auch: ß und die Umlaute lassen sich auch
ganz gut wegrationalisieren. Ein Ä kann man auch AE ausdrücken. Immer
lustig und vergnügt – auf dem breiten, sanft abfallenden Weg zurück
in die Steinzeit.
Die Schreibschrift ist eine kulturelle Errungenschaft, die nicht aus
dem leeren Raume heraus entstanden ist. Sie diente dazu, den Prozeß
des Schreibens zu beschleunigen und somit kommunikative Prozesse effektiver
zu gestalten. Sicherlich ist ihr durch moderne Formen der Kommunikation
manches Wasser abgegraben worden. Aber zur Gänze darauf zu verzichten,
um die retardierten Hirn-Erbsen lernunwilliger Schüler zu schonen, ist
ein Kulturverbrechen, ein verzichtbarer Kahlschlag, der schon begonnen
hat, als die Briefkultur des Volkes der Dichter und Denker auszusterben
begann. Wir degenerieren wieder zu einem Volk der Grunzer und Stammler
und der Hamburger Bildungssenat stößt das Dammtor weit auf, um der Sturmflut
der brodelnden Dummheit ungehemmt den Weg zu ebnen.
Sicher wird diese Entscheidung auch negative ökonomische Folgen zeitigen:
Erstens – das papierlose Büro war, ist und bleibt auf lange Sicht eine
Illusion. Kurze Notizen werden für die Kretins der Zukunft zu nervenaufreibenden
und zeitverschlingenden Malübungen. Zweitens – das Erlernen komplexerer
Systeme ist an sich schon eine den Geist schulende Übung. Verzichtet
man auf diese, weil man den Kinderchens um jeden Preis jeden Stein schonend
aus dem Wege räumen möchte, so züchtet man die Unterbelichteten der
Zukunft regelrecht heran. Wie diese sich zu Leistungsträgern entwickeln
und auf dem Weltmarkt behaupten sollen, erscheint rätselhaft. Auch ewige
Konzessionen an Verweigerer und Dummbratzen fordern irgendwann ihren
Preis – todsicher!
Ja, und was nun die eingangs gestellte Frage des Chefs betrifft – nein,
der 30. Julei 2011 entspricht nicht dem ersten April des julianischen
Kalenders. Der Patriarch von Moskau und ganz Rußland schreibt an diesem
Tage den 17. Julei und hinkt damit nur etwa vierzehn Tage hinterher.
Der Hamburger Senat aber ist dabei, uns Jahrhunderte zurückzuwerfen.
Möglicherweise derer zwölf. Im Jahre 800 nämlich, als Einhard Karls
des Großen Vita noch in karolingischen Minuskeln niederschrieb, war
Bildung ein Privileg für Wenige. Die Kunst des Lesens und Schreibens
stellte ein Alleinstellungsmerkmal für handverlesene Eliten dar. Allerdings
wurden diese Auserwählten um ihrer Kenntnisse wegen hoch geachtet. Da
wir Dialektiker sind, versuchen wir in diesem Nebeneffekt eines epochalen
Saltos rückwärts das Positive der ganzen, leidigen Geschichte zu sehen.
Ein armseliger Trost, gewiss – weil das bedeutet, das das nächste Zeitalter
der Aufklärung und Erleuchtung noch im fernen Nebel der Zukunft liegt.
Doch haben wir keinen Grund zu übermäßiger Trauer. Bei vielen europäischen
Nachbarn, so bei den Polen, Livländern, Finnen und Briten wird Bildung
durchaus noch wertgeschätzt. Sie werden uns hoffentlich mit durchfüttern,
wenn unsere Jugend zu dämlich geworden ist, dem Volk das tägliche Brot
zu erwirtschaften.