EU und Hohe Pforte
Springt die EU über den Bosporus?
J. - F. S. Lemarcou
Es war einmal eine mächtige Stadt am Bosporus, die hieß Konstantinopel
und fiel am 29. Mai 1453 in die Hände der Muselmänner. Das Kreuz wurde
über der damals gewaltigsten Kirche der Christenheit abmontiert. Fortan
zierte ein Halbmond die Kuppel der Hagia Sophia. Aus war's mit Ostrom,
mit Byzanz, mit der christlichen Säule in Kleinasien. Ab 1930 nannte
man dieses Konstantinopel dann Istanbul und der Vater aller Türken,
Atatürk schuf einen laizistischen Staat, in dem der Einfluss der Moscheen
zurückgedrängt wurde. Hauptstadt dieses neuen Landes wurde 1923 zwar
Ankara – aber die Perle am Bosporus blieb, was sie durch alle Zeitläufte
hinweg war: der Pfeiler Europas im Osten.
Genau an diesem Fakt orientierte sich die seit den neunziger Jahren
aufholende Türkei und suchte anfangs des neuen Jahrtausends vehement
um Aufnahme in die Europäische Union. Geographisch gesehen schien das
zwar abwegig, weil der weitaus geringste Teil der Türkei auf der willkürlich
definierten europäischen Kontinentalmasse liegt – der Rest ist anerkanntermaßen
Asien – dennoch würde genau dieser Konstaninopolitanische Anteil am
Staatsgebiet zum Zugang in die Europäische Union berechtigen, ähnlich
wie sich das mit einem Bürger mit zwei Pässen verhielte.
Doch die Geographie ist nicht entscheidend, wenn sie auch dem Osmanischen
Reich im Vorderasiatischen Raum ganz selbstverständlich eine Vormachtsrolle
zuweist und so gesehen für die Europäische Union nicht uninteressant
sein dürfte. Dennoch, die Differenzen zu Westeuropa sind so groß, wie
sie das schon zu den Zeiten Ost- und Westroms gewesen waren. Der ab
und an russisch-orthodoxe Kollege Bajun witzelte seinerzeit boshaft:
Wir empfangen die Hohe Pforte mit fliegenden Fahnen, sobald von der
Hagia Sophia wieder das Kreuz grüßt. Nun, das Gebäude, von dem Herr
Bajun sprach, wurde als Kirche erbaut, fungierte dann als Moschee und
ist gegenwärtig ein Museum. Das Kreuz würde also wenig Sinn haben. Doch
wir verstehen, was der Russe meinte. Es sind die kulturellen Unterschiede
zu den Türken, welche die sowieso schon diffizilen innereuropäischen
Verhältnisse noch einmal kräftig durchrütteln würden und das Gemeinwesen
an den Rand der Unregierbarkeit brächten. Nirgendwo wird das deutlicher,
als bei der vehementen Leugnung des Völkermordes an den Armeniern vor
über einhundert Jahren, welche die noch immer latente Verbohrtheit und
Unreife der türkischen Gesellschaft hinlänglich dokumentiert.
Doch nun schnauft die osmanische Wirtschaftslokomotive gewaltige Dampfwolken
und schiebt zumindest den europäischen Teil der Türkei auf ein globales
Vorzeigeniveau. Ja, so ein Mitglied bräuchte die Europäische Union jetzt
dringend in dem Maße, in welchem sie auf das Mutterland der Demokratie,
auf Griechenland verzichten könnte. Welch ein Treppenwitz der Geschichte,
dass gerade dieses Griechenland der Erbfeind der Türken ist, seit jenem
verhängnisvollen Jahre 1453. Nun sitzen die osmanischen Sieger schenkelklopfend
am Ufer des Bosporus und sehen, wie ihre alten Gegner ein zweites Mal
grandios in den Sack gehauen haben. Die Türken könnten momentan Griechenland
wohl auslösen – das wäre wohl das Entree-Billet für die Union, doch
sie wollen wohl weder das eine noch das andere, selbst wenn diese grandiose
Demütigung der Hellenen unbezahlbar und daher jede einzige türkische
Lira wert wäre.
Nein, jetzt, wo es ihnen gut geht, sollen sie ein Blatt im europäischen
Kartenhaus werden? Jezt, wo rauskommt, wie betrügerisch sich die Hellenen
die Mitgliedschaft erschlichen haben, wie schludrig viele Leistungsträger
der EU ihre Nationalökonomien verwalteten, wie sehr selbst die Starken
der EU in den Roten Zahlen stecken, Schulden, die sie in dieser Welt
nie werden zurückzahlen können? Den Teufel werden sie jetzt tun. Eine
privilegierte Partnerschaft hat die EU unter Federführung der Deutschen
ihnen einst angeboten. Gerade die Deutschen, die natürlichen Verbündeten
der Hohen Pforte, mit denen sie einst in Nibelungentreue in den Untergang
trudelten – gerade diese Deutschen lassen sie draußen vor den Toren
betteln, wie einst Papst Gregor VII. den reuigen vierten Heinrich 1077
vor der Burg Canossa. Würden die stolzen Osmanen nach Canossa gehen?
Nie und nimmer. Sie gehen nicht mal einen winzigen Schritt auf Jerewan
zu. Oh, oh... Wenn jetzt mal nicht die Türken den Europäern eine priveligierte
Partnerschaft zur Hohen Pforte anbieten. So mancher Sohn Atatürks, der
vordem die sture Haltung der Europäer verfluchte, wird nun still und
heimlich feixen und Allahs Weitsicht preisen. Doch wie lange wird der
Konjunkturmotor rund um Istanbul herum weiterbrummen, wenn seinem europäischen
Hinterland die Puste ausgeht und Anatolien sowie die kurdischen Probleme
weiter drücken wie ein viel zu enger Pantoffel? Es ist wichtig und unverzichtbar,
die Türkei eng an Europa zu binden. Sie ist der Hauptbrückenkopf nach
Asien, sie kann das stabilisierende Element in Vorderasien sein. Ein
festgefügtes Dreieck Berlin-Moskau-Istanbul wäre für Europa ein unschätzbarer
Gewinn.
Man muss sich entgegen kommen – von beiden Seiten. Die Türken müssen
begreifen, was sie den Armeniern antaten, den Christen denselben Raum
gewähren, den die muselmanischen Türken in Westeuropa für sich beanspruchen
dürfen. Und die Europäer müssen den Türken ein wohnliches Zimmer im
gemeinsamen Haus Europa anbieten – eines, das nicht kracht und stöhnt
vom Fundament bis ins Dachgebälk. Und sie müssen alte Wunden schließen,
so wie sie alte Grenzen öffnen müssen. Das Schicksal Europas wird sich
nicht am Fall Griechenlands entscheiden. Es entscheidet sich an der
Linie zwischen Nikosia und Famagusta.