Betongewordene Bankrotterklärung
50 Jahre Schließung der Grenze nach Westberlin
B. St. Fjøllfross
Das Gegenteil von Gut ist nicht Böse, sondern Gutgemeint. Oft schon
zitierten wir dieses legendäre Zitat.
Die Kommunisten haben es zweifelsohne gut gemeint. Verflucht gut sogar.
Jedenfalls viele von ihnen. Sie kamen aus den Zille'schen Mietskasernen,
von denen Brecht sagte, auch mit einer Wohnung könne man einen Menschen
umbringen. Sie kamen von den ostpreußischen Äckern, auf denen noch im
20. Jahrhundert Junkerwillkür und brutalste Knechtschaft herrschte.
Sie hatten erfahren, was es heißt, sich 12 Stunden am Tag um Leben und
Gesundheit zu malochen, während die Besitzer der Produktionsmittel in
schier unvorstellbarem Luxus lebten. Und sie hatten erlebt, was es bedeutet,
wenn das Kapital außer Kontrolle gerät. Sie verbluteten an den Kriegsfronten,
verhungerten in den KZs und verloren ihre Köpfe unter den Fallbeilen
des Volksgerichtshofes. Sie wollten eine bessere Welt schaffen. Das
ist sicher. Ihre Welt sollte eine Welt ohne Ausbeutung des Menschen
durch den Menschen sein, in welcher den Leuten die Werte und Dinge auch
gehören, die sie mit ihren eigenen Händen erschaffen. Sie wollten menschenwürdige
Wohnungen, sie wollten eine Utopie verwirklichen – eine Utopie, an die
sie heißen Herzens glaubten und für die sie durch die Hölle gegangen
waren.
Aber es blieb eben eine Utopie, sie mochten wissenschaftliche Methodik
hineinzaubern, wie sie wollten. Das Perpetuum Mobile wäre leichter zu
erfinden gewesen.
Dennoch glaubten sie – aber eben nur sie. Der eigene Lehrsatz, das einzig
zuverlässige Kriterium der Wahrheit sei die Praxis, bedeutete ihnen
nichts, wenn es galt, die eigene Situation realistisch zu beurteilen.
Sie logen sich selbst in die Tasche, was das Zeug hält.
Was aber tun mit den Millionen Menschen, bei denen die frommen Ideen
von einer lichten Zukunft nicht verfangen wollten? Stell dir vor, es
ist Sozialismus und keiner geht hin! Denn genau so war es. Die Menschen
flohen in Scharen. Zwei Millionen sollen es bis zum Mauerbau 1961 gewesen
sein. Ganze Dorfstraßen leerten sich über Nacht und morgens blökte das
Vieh im Stall – ungefuttert und ungemolken. Die Werkbank blieb unbesetzt,
die Schüler warteten auf ihren Lehrer, die Patienten darauf, dass der
Doktor seine Praxis aufschloss, dass der Chrirurg sie operierte. Die
Brücke blieb unvollendet – der Ingenieur war im Westen. Alle waren sie
im Westen, der Lehrer, der Allgemeinarzt, der Chirurg, der Werkzeugmacher,
der Bauer. Im Osten waren ein Haufen Parteisekretäre und ein bißchen
gläubiges Fußvolk geblieben, denen man auch erzählen konnte, dass der
Mond ein Käse sei. Mit dieser armen Bande konnte man im wahrsten Sinne
des Wortes keinen Staat mehr machen. Was also tun, fragte seinerzeit
schon der Genosse Lenin? Der Massenexodus musste gestoppt werden, um
jeden, wirklich jeden Preis.
Der Preis war hoch, unermeßlich hoch. Und wenn man sagt, der Erste Weltkrieg
sei unter anderem von der Spanischen Grippe beendet worden, dann kann
man wohl auch zu Recht behaupten, die DDR sei auch an jener aberwitzigen
Demarkationslinie und an der Berliner Mauer erstickt. Was Wunder – nicht
nur das mühsam errungene internationale Renommee ging mit jedem Vorfall
an der Mauer flöten – man konnte bereits Olympiamedaillen gegen an der
Interzonengrenze verschossene Kugeln aufrechnen – die Mauer kostete
tatsächlich mehr, als die kleine DDR-Volkswirtschaft mit ihren wertlosen
Alu-Chips zu leisten im Stande war. Junge Männer im besten Alter scharwenzelten
auf Patrouillen im Postenbereich umher und fehlten dem Produktionsprozess
nicht minder als der in den Westen getürmte Werkzeugmacher. Sie fehlten
auf den Äckern der Republik und auf ihren Baustellen. Auf diesen wurden
aber nicht nur die von ihren Kollektiven zum "Ehrendienst an der
Staatsgrenze deligierten" Burschen vermisst – auch Baumaterial
war Mangelware. Die Belieferung des "Pioniertechnische Anlage", kurz
PTA genannten "Antifaschistischen Schutzwalls" hatte absoluten
Vorrang. Es spielte keine Rolle, dass es in die Küche des Leipziger
Taxifahrers hineinregnete. Hauptsache er blieb in Leipzig und liebäugelte
nicht zusehr mit einer trockenen Wohnung in Braunschweig. Also gingen
Beton, Draht und viele andere Baumaterialien, die der Taxifahrer und
auch sein Betrieb dringend benötigt hätten, an die Mauer.
Was glaubten die in Unehren ergrauten Politgreise der SED, wie lange
dieser Wahnsinn aufrecht zu erhalten sei? Wie peinlich, als die Aktuelle
Kamera jubelte, der verhasste Kommunistenfresser und Todfeind der DDR,
Franz Josef Strauß, hätte dieser einen Milliardenkredit besorgt, ohne
den die Sowjetzone bereits in den früheren Achtzigern den Offenbarungseid
hätte leisten müssen.
Noch desperater als bei Strauß hatte man seinerzeit bei den kommunistischen
Bruderstaaten um Hilfe zum Unterhalt der Westgrenze gebettelt. Doch
die hatten abgewunken. Erstens waren auch sie bettelarm und zweitens
hatten sie bis auf Polen und die Mongolei allesamt selbst gravierende
Grenzsicherungsprobleme.
Eine Gesellschaft, die es nicht vermag ihre inneren Widersprüche zufriedenstellend
zu lösen, ist zur Umwandlung verurteilt. So lehrten es die Kommunisten
an ihren Schulen und Hochschulen und wiesen dabei mit dem Finger über
die Mauer hinweg nach Westen. Dass das auch für sie zutrifft, darauf
kamen sie zumindest in der Öffentlichkeit mit keinem Gedanken. Selbst
intern mag so mancher Altbolschewist seine Schwierigkeiten mit der Realitätswahrnehmung
gehabt haben. Wie anders lässt es sich erklären, dass Anna Seghers'
Buch "Das Siebte Kreuz" zur Schulbuchlektüre erhoben wurde,
statt es auf den Index zu setzen? Sieben Kreuze hatten die Faschisten
in dem Roman der ostdeutschen Vorzeigeschriftstellerin aus Mainz errichtet
– für jeden aus einem ihrer KZ entflohen Gefangenen eines. Jeden, den
die Nazischergen einfingen, nagelten sie an eines der Kreuze – zur Abschreckung
für die anderen Häftlinge. Das siebte aber blieb frei – und Schülergeneration
auf Schülergeneration folgerte pflichtbewusst in den obligatorischen
Schulaufsätzen zu diesem Epos, dieses vakante Kreuz sei der Anfang vom
Untergang des Naziterrors gewesen, weil es eben für alle sichtbar aufzeigte,
dass das perfekte Unrechtssystem eben doch seine verwundbaren Schwachstellen
hatte. Man legte das Buch beiseite und hörte zu wie die Tagesschau vermeldete,
dass wieder einem DDR-Bürger die Flucht (!) gelungen sei. Mit einem
Ballon, durch einen Tunnel, im Kofferraum eines Automobils, mit dem
Faltboot oder schwimmend durch die Ostsee... Die Menschen riskierten
Kopf und Kragen, um aus dem Lande heraus zu kommen.
Wie konnte die DDR erklären, dass ein Pass- und Visavergehen – denn
mehr war der illegale Grenzübertritt zu keiner Zeit – ein todeswürdiges
Verbrechen sei? Sie tat es damit, dass sie argumentierte, das eigentliche
Verbrechen dieser Flüchtlinge bestünde in ihrem Landesverrat. Als sei
schon der in der DDR geborene Säugling unter einen Fahneneid genommen
worden. Die Kommunisten zählten den ausreisewilligen Menschen auf, welche
Güte sie von Partei und Regierung erfahren hätten und was sie dieser
demzufolge schuldeten. "Du hast für billig Geld in unseren Bruchbuden
gewohnt, hast eine Arbeit gehabt, hast dein Kind in einen Kindergarten
bringen können. Beim Arzt und im Krankenhaus musstest du nichts bezahlen
und hast unser nur wenige Groschen teures Brot gefressen. Du hast studiert
– je wer hat dir denn das Studium ermöglicht? Damit du Arzt werden konntest,
ein Professor dich das Operieren lehren konnte, hat ein Kumpel unter
Tage geschuftet und Kohle geschluckt. Und jetzt, wo er krank ist und
die Hilfe dessen braucht, den er hat auf Kosten seiner Gesundheit studieren
lassen, willst du ehrloser Lump abhauen, weil dir ein Wartburg oder
Lada zu wenig ist? Ein Mercedes muss es sein, hä? Du Schweinehund!"
Des weiteren wurde von denen berichtet, die drüben arbeiten gingen und
im Osten lebten, oder mit der um ein vielfaches wertvolleren Westmarkt
in Ostberlin die spottbilligen und hochsubventionierten Lebensmittel
einkauften. Auch die Währungsspekulanten waren eine ernstzunehmende
Bedrohung und tödliche Anschläge von westdeutschen Agenten auf Industrie-
und Reichsbahnanlagen des Ostens gab es auch. Das alles war nicht aus
der Luft gesogen. Die Diskussion entbehrte so gesehen nicht eines gewissen
Geschicks und die Argumente waren über weite Strecken berechtigt.
Nur – ehrloses, unmoralisches Verhalten oder kleinkriminelle Aktivitäten
rechtfertigen nicht das Einsperren eines ganzen Volkes und vor allem
nicht - den gezielten Todesschuss auf Leute, die von Deutschland nach
Deutschland oder von Berlin nach Berlin wollten. Nie. Niemals!
Die es gut gemeint hatten, wurden selbst zu schwerkriminellen Verbrechern
um des Erhaltes ihrer eigenen Macht willen – und damit zugunsten des
Erhaltes ihrer wahnwitzigen Utopie von einer besseren Welt. Es ist merkwürdig,
dass diejenigen, die anderen pausenlos eine bessere Welt in Aussicht
stellen, ihnen erst einmal die Hölle auf Erden bereiten, sagte einmal
ein kluger Mann. Wessen Fluchtversuch gescheitert war, der lernte, insofern
er das überlebte, die Hölle auf Erden in den Zuchthäusern Brandenburg/Havel,
Hoheneck und Bautzen kennen. Dort war er noch eingesperrter als im täglichen
Leben der DDR. Ober er wohl nach seiner Entlassung das bißchen Mehr
an Freiheit auf diese Art und Weise schätzen lernen sollte? Er lernte
die kommunistische Hölle nach seiner Entlassung kennen, wenn er nicht
freigekauft wurde. Die "Politischen" waren der letzte Dreck
und rangierten noch hinter Kindermördern und Vergewaltigern.
Die DDR baute vor 50 Jahren die Mauer, um ihrem wirtschaftlichen Offenbarungseid
zuvorzukommen. Ihren moralischen Offenbarungseid leistete sie im Augenblick
der Abriegelung der Staatsgrenze. Ihre Bankrotterklärung in Beton unterschrieb
sie am 13. August 1961. Aus Weltverbesserern wurden Geiselnehmer, Kidnapper,
Mörder und Banditen! Die Kommunisten sangen ungerührt und wie zum Hohn
das Hohelied auf Freiheit und Demokratie. Dafür hat die Geschichte sie
hinweggefegt. Das Andenken an ihre guten Taten wurde begraben von dem
Abscheu vor ihren Verbrechen. Vielleicht ist das die gerechte Strafe
dafür, dass sie um ihrer irren Idee willen ein ganzes Volk 28 Jahre
lang in Haft nahmen – mehr als "lebenslänglich", wie Heinz
Seehawer einst sagte.