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Tucholskys Erben

B. St. Fjøllfross
Vor mir liegt eine zehnbändige Gesamtausgabe der Werke unseres Geistigen Vaters Tucholsky. Ich sehe auf die beigen Pappeinbände und meine Gedanken schweifen ab.
Es muß in der letzten Woche gewesen sein, daß ich an einem Berliner Trödler vorbeikam, ganz in der Nähe von Tucholskys Geburtshaus. Der Trödler warb damit, daß er allen Krempel entgegennähme, daß er Haushaltsauflösungen betreibe und so weiter. Ich blieb stehen. Zwischen Kramtischen, in denen sich ein paar Schellackplatten und ein Haufen alter Dutzendbücher um den geringen Platz stritten, schlängelte ich mich hindurch, einen zerflederten Korbstuhl anrempelnd, mich bei der in gebückter Haltung kauernden Stehlampe entschuldigend. Halbblinde Puppen glotzten mich mit den verbliebenen Augen an, traurige Plüschbären, abgegriffen von Generationen, betrachteten düster einen röhrenden Hirsch, der – Gott sei Dank – sich züchtig rekelnde Jungfrauen des fin de ciecle bedeckte. Die Frau des Trödlers, die augenscheinlich ihre Garderobe aus ihrem Ankauf bezog, kam auf mich zugesteuert und fragte geschäftstüchtig nach meinem Begehr. Ich blickte verlegen auf den Stapel fettiger und verblichener Skatkarten, die nach ihren Eselsohren zu urteilen, aus zweiunddreißig Kreuz-Buben bestehen mußten. Dann stammelte ich irgend etwas von einem entzweigegangenen Zwiebelmusterteller, der kürzlich kaputt gegangen sei, und dessen Verlust den Bestand des Service’ gefährdete. Eilfertig stürzte die als Hexe verkleidete Verkäuferin auf eine ihrer Vitrinen zu um kurz darauf mit einem Stapel zwiebelmusterartigen Geschirrs wiederzukehren. Zu jedem einzelnen Teil gab sie ihren kundigen Kommentar, als hätte sie nie von etwas anderem gegessen, als wäre sie mit diesen Tellern aufgewachsen.
Das aber was sie nicht und was sie erzählte, entstammte alles ihrer ins Kraut schießenden Phantasie. „Meißner“ hörte ich sie sagen. Es war „Kahla“ – DDR-Massenproduktion. Es war deutlich zu sehen: Sie hatte keinen inneren Bezug zu dem Kram. Sie heuchelte ihn nur. Irgendwie hatte sie den Plunder erworben und jetzt versuchte sie, ihn zu verramschen. Dabei allerdings legte sie sich mächtig ins Zeug. Sicher nicht um der Teller wegen, die anderen einmal viel bedeutet haben mögen. Es ging ihr nur um sich, um ihre blanken Talers. Ich verneinte und sie strafte mich fortan, bis ich ihr Geschäft verließ, mit kalter Ignoranz. Ich hatte nichts gekauft. In ihren Augen hatte ich mich strafbar gemacht.
Warum nur, Vater Kurt, kommen mir solche Gedanken, wenn ich im Vorwort blättere, das die Herausgeber Deiner Gesamtausgabe beigesellten?
Herr Raddatz schreibt da, Du hättest „Rheinsberg“ zwei Frauen gewidmet, also gar keiner. Er nahm Bezug auf K. F. und M. W. Alle Welt aber weiß, und fünfunddreißig Seiten später ist es für jeden des Lesens Kundigen einzusehen, daß diese liebliche Jahrhundertnovelle auch noch einer gewissen C. P. gewidmet wurde. Das war der Augenblick, indem meine Gedanken auf Reise gingen – hin zu jener Trödelbude.
Hattest Du ein Testament gemacht, Vater Kurt? Ach ja, ich weiß, Du hattest.
Deine irdischen Belange hast Du darin geordnet. Aber was ist mit Deinem zeitlosen Erbe? Hattest Du vergessen anzuordnen, daß Dein Werk nur von Leuten verwaltet werden soll, die Deine Seele verstehen bis ins Letzte? Die bereit sind, Dein Schwert aufzunehmen und es weiterzuführen, als sei es das Schwert Gottes; auch wenn sie es nie so beherrschen werden, wie Du? Oder hast Du das alles, Dein eigenes Werk, nicht so ernst genommen? Herr Raddatz wollte einst Geld sehen für ein winzigen Zwei-Sätze-Text aus Deiner Feder, den wir baten, im Landboten zitieren zu dürfen. Wir mußten mangels Masse verzichten.
Am 21. Dezember 2005 bist Du siebzig Jahre tot. Der Rowohlt-Verlag, der sich durchaus auch in moralischer Form zu Deinen geistigen Erben zählen darf, wies uns darauf hin, daß wir schon am Folgetag niemanden mehr zu fragen bräuchten.
Dann ist die Ära der vom Recht Begünstigten zu Ende. Dann sind Deine Texte frei und keine Krämerseele darf sich mehr erdreisten, Dein Erbe für sich und ihre Gesellschaft auszubeuten.

6. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2005