Böhmische Dörfer
oder Prags späte halbherzige Entschuldigung
Michael L. Hübner
Der Hradschin hat jüngst
– sechzig Jahre nach Kriegsende verlauten lassen, daß
die Vertreibung einiger Sudetendeutscher ein Fehler war, den die Prager
Regierung nunmehr bedauert.
Das wollen wir uns auf der Zunge zergehen lassen. Sechzig Jahre, das
sind beinahe drei Generationen. Da ist viel Wasser die Moldau hinuntergeflossen.
Aber besser spät als nie, nicht wahr? Wenn da nicht diese merkwürdige
Nuance herauszuhören wäre, daß es nicht um alle Sudetendeutsche
geht, also nicht um eine Aufhebung der verbrecherischen Benes-Dekrete,
Nun sind wir beileibe keine Apologeten der Sudetendeutschen, die sich
seinerzeit Henlein anschlossen um Hitler und seinen Spitzbuben den
Weg nach Böhmen zu ebnen. Die braunen Halunken waren drauf und
dran, das slawische und mitteleuropäische Herzland Böhmen,
mitsamt Mähren und der Slowakei von der Landkarte zu tilgen,
die böhmische Bevölkerung im wirtschaftlichen Interesse
des Reiches zu versklaven. Henlein und seine Gefolgsleute, auch die,
die ihn passiv unterstützten, traf der gerechte Hammer der Geschichte
– und das mit allem Recht. Wer einem eine Grube gräbt...
Um diese ist es uns nicht leid und nicht zu tun. Ihr Gewimmer in den
Vertriebenenverbänden rührt uns nicht.
Was aber ist mit denen, die mit der Politik nichts am Hut hatten,
die mit ihren böhmischen Nachbarn gut zusammenlebten und daran
auch nichts änderten, nachdem die Wehrmacht die böhmische
Grenze überwalzt hatte? Und vor allem, was ist mit denen, die
auf Seiten ihrer böhmischen Nachbarn den Nazis aktiven Widerstand
leisteten, dabei Kopf und Kragen riskierten und dann aufgrund ihrer
nationalen Zugehörigkeit ebenfalls vertrieben wurden? Diese böhmische
Lumperei, Nazis, Heydrich und Lidice hin oder her, ist unverzeihlich.
Nun, und gerade diesen Punkt suchte der Hradschin jüngst mit
seiner Entschuldigungsofferte zu korrigieren. Kein Kniefall von Wahrschau,
wohlgemerkt. Aber eine nette Geste, immerhin.
Wenn sie nur nicht zur Unzeit käme. Aber wie denn, lieber Hübner,
sagten Sie nicht, das wäre überfällig; sagten Sie nicht
gerade oben: "Besser spät als nie?!" Ja, richtig. Aber
warum zum Kuckuck ausgerechnet im deutschen Wahljahr 2005, in dem
die Wetten gegen die deutsche Sozialdemokratie mittlerweile 1:18 stehen?
Wissen Sie, da stinkt es über das Erzgebirge: Die Böhmen
wissen genau, daß die revanchistisch unterwanderten und dominierten
deutschen Landsmannschafts- und Vertriebenenverbände noch immer
eine nicht zu unterschätzende Macht in Deutschland darstellen.
Sie können sich an ihren zehn Fingern abzählen, wie das
Klima zwischen Prag und Berlin – oder sollte man besser sagen:
München – sehr zu Lasten Böhmens abkühlen wird.
Und also meinen sie es nicht ehrlich mit ihrem Unrechtseingeständnis
dieser doch sehr umgrenzten Personengruppe. Diese Entschuldigung kommt
nicht aus böhmischen Herzen, aus besserer Einsicht im Abstand
der Jahre – nein, hier wird ein durch und durch politischer
Akt vollzogen. Das Willy-Brandt-Haus soll gestützt werden und
der CDU/CSU wird kolateral etwas Wind aus den Segeln genommen.
Das aber heißt, die Opfer zu verhöhnen, ihnen ein zweites
Mal eine runterzuhauen.
Böhmen und Stodoranen, oder "Heveller", wie letztere
von den Deutschen genannt wurden, sind Brudervölker. Ich, der
ich ein reinrassiges deutsch-slawisches Mischblut bin, gestatte mir
daher die Schelte an meinen böhmischen Vettern. Ich gestatte
mir diese Kritik aus dem Blickwinkel, daß die Hälfte meiner
Ahnen gleichfalls Opfer von Invasoren wurden und keinesfalls das Glück
hatten, sich von diesen Räubern auf Dauer wieder ledig zu wissen.
Und auch wenn ein Jahrtausend uns von der Trennung unseres gemeinsamen
Stammes entfernt hat, die Verbundenheit der Brandenburg mit den Töchtern
und Söhnen der Moldau bleibt – und berechtigt meiner Ansicht
zufolge zu dieser harschen Kritik am Verhalten der böhmischen
Vettern. Es wäre schön, wenn sie als solche gehört
und verstanden würde.