Arbeitslosigkeit – ein
Fluch unserer Tage
J.-F. S. Lemarcou
Auf den alten Vorkriegs-Fünfzig-Pfennig-Stücken
stand zu lesen: Sich regen bringt Segen.
Schöner Spruch! Und es wird auch so sein! Doch was ist mit denen,
die sich regen mögen, wie sie wollen, und doch keinen roten Heller
dafür sehen? Deutschland hat die Fünfmillionenmarke in der
Arbeitslosigkeit nicht nur längst geknackt. Diese Unzahl hat
sich bereits manifestiert und strebt unverdrossen der Sechsmillion
entgegen. Die fetten Jahre sind definitiv vorüber.
Von daher gewinnt die obige Fragestellung eine grausame Aktualität:
Was ist mit denen?
Sie haben noch Arbeit? Sie verzehren Ihre sauer erkämpfte Pension,
Rente, Rendite? Da seien Sie sich mal nicht so sicher, daß Sie
von diesen Früchten bis zu Ihrem Lebensende werden zehren können!
Wenn die Wirtschaftskraft eines Landes dahinschmilzt wie ein Alpengletscher,
dann macht dieses Siechtum auch nicht auf Dauer vor Rücklagefonds
halt, aus denen solche Ansprüche ausbezahlt werden.
Was ist mit der einst so mächtigen Bundesrepublik Deutschland
geschehen? Ich glaube, eine der möglichen Antworten liegt auf
der anderen Seite des Planeten – auf Neuseeland. Als vor siebenhundert
Jahren die ersten Maori als Landnehmer die Doppelinsel betraten, fanden
sie ein unberührtes Paradies vor, das sie verleitete, aus dem
Vollen zu schöpfen. Sie aasten und waren sich dabei nicht eine
Sekunde der Folgen ihres Raubbaus an der sie ernährenden Natur
bewußt. In knapp hundert Jahren hatten sie das Eiland leergefressen
– jetzt begann der Kampf um die letzten Ressourcen. Und es wurde
ein blutiger, ein gnadenloser Kampf.
Diese Ereignisse gestatten uns, wie durch eine Lupe unsere Gegenwart
zu betrachten. Die extensive Reproduktion nach dem letzten Kriege
führte zu wahrhaft blühenden Landschaften im Westen Deutschlands.
Unter seinesgleichen schnitt Mitteldeutschland trotz der gandenlosen
Reparationsforderungen durch die Russen auch nicht eben schlecht ab.
Doch scheint eine Ermüdung eingetreten zu sein. An den wichtigsten,
das Volk ernährenden Ressourcen, innere Disziplin und Leistungsbereitschaft,
Bildung und Fähigkeit zur Innovation wurde im selben Maße
Raubbau betrieben, wie es schon die ersten neuseeländischen Siedler
mit den Geschenken ihres Paradieses taten. Die Quittung begann die
deutschen Gaue seit dem letzten Drittel der Kohl-Ära zu überrollen
wie eine Dampfwalze.
Die alten Kelten sprachen vom „Wüsten Land“. Man
achtete der Scholle nicht mehr, die einen trug und ernährte –
und das sowohl im materiellen als auch im vergeistigten Sinne.
Wohin also mit den vielen Menschen, deren Arbeitskraft angeblich nicht
mehr gebraucht wird? Angeblich? Natürlich! Denn wem wollte man
erzählen, daß in einem so großen Lande wie Deutschland
nicht allerorten zupackende Hände vonnöten wären? Es
gibt immer zu tun – und zwar im Überfluß. Doch niemand
will oder kann diese Arbeit mehr bezahlen! Da liegt der Hase im Pfeffer.
Wertschöpfende Arbeit kann nur dauerhaft bestehen, wenn sie ihre
Frau und ihren Mann auch ernährt. (Unter diesem Aspekt betrachtet
ist die Ein-Euro-Kampagne des Hartz-IV-Irrsinns der blanke Blödsinn.)
Sich seiner Fähigkeiten bewußt zu sein, gleichzeitig zu
sehen, daß diese Fähigkeiten auch gebraucht werden, dann
aber konstatieren zu müssen, daß man trotz allem außen
vor zu bleiben hat und einige wenige Glücklich-Unglückliche
die ganze verbleibende Arbeit zu schultern haben, die sie kaum noch
zu bewältigen vermögen – das umschreibt den Widersinn
unserer Tage.
Nun mögen einige ganz Optimistische einwerfen, daß aus
jeder Situation Kapital zu schlagen wäre. Man müsse nur
die Quelle finden und erkennen, wie sie anzuzapfen sei. Das ist an
und für sich richtig. Es gab schon immer die Sorte der Kriegsgewinnler,
die es verstanden, auch aus einer allgemeinen Notsituation für
sich ein Vermögen herauszuschlagen. Aber kann es Sinn der Sache
sein, ein ganzes Volk zu Schakalen oder Schrott- und Lumpenhändlern
umzuerziehen?
Wir haben das Problem, daß wir uns nicht mehr auf eine abgeschottete
Nationalökonomie verlassen können. Unser Wirtschaftspotential
ist in eine Globale Ökonomie eingebettet, die die Gesetze des
Handelns vorgibt. Es ist ein bißchen wie Tolkiens Trilogie „Herr
der Ringe“: Das Paradies Auenland beginnt unter den wuchtigen
Schlägen der Völker des Ostens zusammenzubrechen. Wir wollen
damit keineswegs die Chinesen dämonisieren. Wer sich durch harte
und entbehrungsreiche Arbeit emporschwingt, dem ist kein moralischer
Vorwurf zu machen. Die deutsche Wertarbeit, die diesen Prozeß
bis in die siebziger Jahre hinein noch leidlich aufzuhalten vermochte,
wird ebenfalls immer weniger nachgefragt. Eine rechnergesteuerte Maschine
in Saigon produziert schneller, präziser und billiger als jeder
deutsche Handwerker. Das ist nun mal so.
Was Deutschland perspektivisch noch einen Heimvorteil sichern könnte,
ist seine noch immer intakte und vorbildliche Infrastruktur. Autobahnen,
Gleisanschlüsse, Telekommunikationsleitungen… Es ist der
Ruf der Rechtssicherheit, an dem das unwissende Ausland noch immer
klammert. Diese Rechtssicherheit, die preußische Unbestechlichkeit
jedoch verfiel unter dem Eindruck des inneren Verkommens immer mehr,
so daß bereits die Verhältnisse einer Unheiligen Bananenrepublik
Deutscher Nation beobachtet werden können. Als letzter Punkt
auf dem Habenkonto sei die christlich-abendländische Tradition
erwähnt, deren Werte- und Moralvorstellungen jedoch schneller
dahinschwinden, als selbst die Arbeitslosigkeit hierzulande anzuschwellen
vermag. Dieser Wertekanon, der ein zivilisiertes Miteinander ermöglichte,
schuf auch einst die Grundlagen für eine starke Wirtschaft. Alle
gesellschaftlichen Schichten einbeziehend, wies er einem Jeden seinen
Platz zu, an dem er gebraucht und gefordert wurde. Was nach Abradierung
dieses ideellen Komplexes an geistiger Landschaft verbleibt, ist nurmehr
der Wahlspruch „Jeder für sich und gegen alle anderen“.
Das führt zu einer Neuauflage des Feudalismus, dessen Produktivität
zerrieben wurde zwischen den bemitleidenswerten Eitelkeiten einiger
seiner Protagonisten.
Vielleicht ist es der einzig gangbare Weg, die erworbenen Besitzansprüche
quer durch die Gesellschaft zurückzuschrauben und sowohl in der
Produktionsausrichtung als auch in der Organisation des Staates völlig
neue Wege zu beschreiten, die den deutschen Markt wieder attraktiver
machen – sowohl für Binnenkonsumenten als auch für
Käufer aus dem Ausland. Wie dem auch immer sei – ein radikales
Überdenken der gängigen Auffassungen in allen sozialen Bereichen
ist das absolute Gebot der Stunde. Das meint unter anderem die kompromißlose
Bekämpfung des Schmarotzertums sowohl in den Vorstandsetagen
als auch bei dem Heer der Asozialen. Wird Deutschland dieser Forderung
nicht gerecht, dann ist sein Absturz in die Marginalität unvermeidlich.
Deutschlands Arbeitslose können ihrer „Bleichen Mutter“
schon mal einen Vorgeschmack dessen entwickeln, was dann das Land
als Ganzes erwartet: erwerbslose Untätigkeit!