Brief an K.T.
B. St. Fjøllfross
Lieber geistiger Vater Kurt
Tucholsky!
Es ist die Reichsbahn, die mir allmorgendlich die Muße gewährt,
Deine herrlichen, spritzigen, geschliffenen und so überaus geistvollen
Artikel zu lesen. Meine heutige Lektüre hast Du 1927 zu Papier
gebracht. Beinahe achtzig Jahre ist das jetzt her. Mag sein, daß
Du den ein oder anderen Text ebenfalls auf Reisen, in einem Coupee
der Reichsbahn sitzend, in Deine Reiseschreibmaschine gehämmert
hast. Bist Du auch mal über Magdeburg gefahren, an Brandenburg
vorbei? Hast Du aufgeschaut? Dann ist das Weichbild der alten Chur-
und Hauptstadt der Mark an Deinem Fenster vorübergeschwebt. Da
grüßt der mächtige Dom mit seinem spätgotischen
Helm über die sumpfigen Havelwiesen hinweg. Flankiert wird er
durch die Hauptkirchen der Alt- und der Neustadt, St.Gotthard und
St.Katharinen. Türme charakterisieren ein Stadtbild. Wenn ich
acht Jahrzehnte später auf dieser seit dem letzten Kriege schmaler
gewordenen Schienentrasse entlangfahre, so erkenne ich neben den beschriebenen
Kirchen im Westen der Neustadt den traurigen Stumpf des Dominikanerklosters
St.Pauli, der sich nun - Gott sei's gepfiffen und getrommelt - seit
einigen Monden in neuer Schönheit wieder aufrichtet.
Da hattest Du es besser. Alles stand noch vor acht Jahrzehnten - bis
auf die viertürmige Marienkirche auf dem Harlunger Berge. (Das
Trauma des Verlustes dieser herrlichen Basilika wird Brandenburg für
den Rest seiner Tage nicht verwinden.)
Dennoch - ein schöner, ein kompletter Blick war Dir noch vergönnt.
Neben dem großen Turm von St.Katharinen stand der hohe, aus
rotem Backstein gemauerte und die St.Annenstraße bezeichnende
Turm der Reichspost. Zwischen den beiden drängelte sich der Turm
des Neustädtischen Rathauses. Auch St.Johannis war noch intakt.
Du wirst kurz aufgeblickt haben und dann hast Du bestimmt Deinen Gedanken
nachgehangen und weiter getippelt. Gerad‘ so, wie ich jetzt.
Achtzig Jahre später...
Und, haben Sie Dich gelesen? Vater, haben sie Dich verstanden? Haben
Sie sich danach gerichtet? Konnte der alles zerstörende Krieg,
dieser unselige Sohn der menschlichen Dummheit, vor dem Du warntest
für und für, verhindert werden?
Wohl nicht. Zumindest nicht genug. Hat nicht gereicht. Deshalb gähnen
jetzt so große Lücken in der Brandenburger Silhouette.
Das ist die Quittung dafür, daß sie ignorierten, was Du
zu sagen hattest. Es ist nicht Deine Schuld. Denn mehr als schreiben
konntest Du nicht.
Es ist wie die Geschichte mit den alttestamentarischen Propheten:
Das bockige Volk rebellierte gegen die Stimme Gottes und bekam regelmäßig
in die Fresse. So lange, wie's dauerte, übten sie sich im Jammern,
Klagen und Zagen. Dann ging derselbe Zirkus von vorne los. Unbeschulbar,
Therapieresistent.
Aber geht es letzten Endes um "sie"? Schau noch mal auf,
Vater! Blick aus dem Fenster, wenn der Dampf der Lokomotive den Blick
für kurze Zeit wieder freigibt! Siehst Du die Wiesen, die Havelsümpfe?
Siehst Du die Kiefern in der Abendsonne leuchten, wie von Schischkin
gemalt? Schimmert da nicht der große Plauer See durch die alten
Bäume, die Eichen, die Birken, die Linden, die märkischen
Kiefern? Da huscht ein Dachs über den Waldweg, das Reh auf der
Lichtung merkt kurz auf und äugt gespannt hinterher. Das hat
Bestand! Das wird noch sein, wenn der Nackte Affe nicht mehr da ist,
es zu verwüsten. Das wollen wir festhalten mit Zähnen und
Klauen. Denn das ist der wahre Sinn des Lebens, daß wir uns
dessen erfreuen sollen, solange der Herr der Welten uns Augenlicht
und Sinne läßt.
Das Verhalten des Nackten Raubaffen ist ihm immanent. Das ändern
wir nicht. Wir, WIR sind wichtig. Und zwar für die Zeit, die
WIR da sind.
Ob es von Bedeutung ist, Spuren zu hinterlassen? I wo. Wozu denn?
Wie Du mal sagtest: "Es hat wenig Zweck, der reichste Mann auf
dem Kirchhof zu sein..." Und ob einem die Nachwelt hinterher
jubelt, ist auch wurscht. Das Hier und das Jetzt ist wesentlich; plus
die Verantwortung, die Welt für die Nachfolgenden lebenswert
zu hinterlassen. Aber darüber hinaus?
Das ist kein Appell, in den Tag hineinzuleben und den Lieben Gott
einen guten Mann sein zu lassen. Beileibe nicht. Es ist die Aufforderung,
sich nicht an den sinnlosen Kampf gegen sich drehende Windmühlenflügel
zu vergeuden. Für Dich, lieber Vater, kommt er zu spät.
Und - zugegeben: Wie viele Deiner brillanten Artikel wären der
Welt vorenthalten gewesen, wenn Du nach der Quintessenz dieser Maxime
gelebt hättest?
Nein, Du hattest Recht. Man muß auch noch am nächsten Tage
in den Spiegel schauen können. Und wenn man nicht ignorieren
kann, dann muß man kämpfen. Nicht so sehr für die
Therapieresistenten - für sich. Und das hast Du getan.
Da drüben der Platz im Abteil - sieh, der ist noch frei. Setz
Dich, alter Vater, und laß uns zusammen das schöne Havelland
genießen, wie es an uns vorüber zieht...
Und während Du in den etwas frostigen, frühherbstlichen
Morgen hinausblickst, dem Entenpärchen hinterher, das sich nakelnd
und gakelnd ins Schilf flüchtet, schiele ich nach meiner dünnen
Fahrradjacke am Haken über meinem Sitz. Ich kann sie hängenlassen,
denn ich habe Deine brillante Rezension des Büchleins „Histoires
Naturelles“ von Jules Renard vor mir. Dich zu lesen, wärmt
das Herz. Es wärmt durch und durch.