Kathedralen und das Heidentum
Scholcher M. Druckepennig
Jüngst war Monsieur Lemarcou
in seiner nordfranzösischen Heimat. Die Bilder, die er von den
berühmten Kathedralen wie Chartres, Reims, Amiens, Rouen, Tours
und Dreux mitbrachte, riefen ungläubiges Erstaunen im Redaktionskollegium
hervor. Welche himmelstürmende Pracht, welche überladene
und sinnunterlegte Ornamentik! Welch aberwitzige Arbeit, Schweiß,
Blut und Mühe dahintersteckt! Es ist gigantisch. Die tiefempfundene
Frömmigkeit von Generationen. Aber es machte auch nachdenklich.
Wir wissen, daß die meisten Kathedralenerbauer ihre Wunderwerke
in Stein auf den Fundamenten heidnischrer Tempel errichteten, um sich
zum ersten den kultischen Boden zunutze zu machen und zum Zweiten
das Heidentum auf diese sublime Art und Weise, quasi per Substitution,
auszumerzen. Der Plan ging successive auf. Aber was kam dabei heraus?
Das Christentum als revolutionäre Idee sollte den Menschen befreien
aus seinem Verlorensein, aus seinem Gefühl nur ein unbedeutender
Spielball der ihn feindlich umgebenen Natur zu sein. Es sollte ihn
quasi per persönlichen Vertrag der Gottheit näherbringen.
Doch der Schuß ging vollständig nach hinten los. Als erstes
verlor die "Krone der Schöpfung" mit der Einnahme ihrer
Sonderposition ihren Respekt. Zuerst vor der Umwelt, dann vor sich
selbst und zuletzt vor Gott selbst. Ein weiterer wesentlicher Aspekt
der "Versteppung" menschlichen Daseins ließ sich beobachten:
War die Natur vorher unergründlich, verzaubert, bevölkert
von Heerscharen von Geistern, Dämonen, Feen, Kobolden, Göttern
und vor allem - Göttinnen; war jeder Strauch, jeder Hase, ja
sogar Steine, Träger einer Magie, sprach ehedem jeder Baum zu
den Menschen, so wurde die Welt buchstäblich entzaubert, als
der verrückte Bonifazius seine Axt an die Irminsul legte. Jetzt
wurde das den Menschen Umgebene zu jenem fatalen Dualismus eingeengt,
der ihn fortan in einem ständigen Spannungsfeld gefangen hielt.
Hie Gott - da Teufel, hie Gut - da Böse. Du bist nicht länger
Herr deines Lebens und schon gar nicht deines Schicksals. Du bist
entweder Gottes oder des Teufels - in jedem Fall aber komplett fremdbestimmt,
ohnmächtig. Die einen sagten, man könne sich durch Askese
und völliger Entsagung aller irdischen Genüsse das Himmelreich
verdienen; die anderen lehrten, nichts könne wirklich helfen
- was bliebe, wäre einzig auf die Gnade Gottes zu hoffen. Welcher
geistige Qualenteppich auf die Bevölkerung des "christlichen"
Abendlandes niedergesenkt wurde, läßt sich heute kaum in
Worte fassen. Statt der verheißenen Erlösung brachten die
Missionare seelische Einkerkerung, verbunden mit dem vollständigen
Verlust zur sprechenden Natur. Wurde man dessen intuitiv gewahr, als
just zu dieser Zeit, da die alten Götter in den Herzen der Menschen
endgültig verloschen, die Abkehr von der schlichten Romanik hin
zur prachtvollen Gotik erfolgte? Versuchte man das "Verlorene
Land" in diesen schmucküberladenen Kunstwerken zu kompensieren,
zu imitieren, ja - zu beschwören? Nicht umsonst sollten diese
Bauten irdische Vorhöfe zum "himmlischen" Jerusalem
sein, Ausdruck namenloser Sehnsucht nach einer verlorenen, besseren
Welt. Doch so sehr man sich auch mühte, das Ziel wurde verfehlt:
Bei aller unübertrefflichen Kunstfertigkeit und Reichhaltigkeit
der Ausstattung blieben sie doch toter Stein. Durch die bezaubernden
Lichtspiele, hervorgerufen durch die überirdisch schönen
Buntglasfenster, konnte man beeindrucken. Aber das Verlorene Land
brachten auch sie nicht wieder. Deshalb ist es widersinnig, im Falle
der riesigen Kathedralen von "Gotteshäusern" zu sprechen.
Möglich, daß die Erbauer das so sahen. Aber der Mensch
an sich meinte Gott schon lange nicht mehr. Er meinte sich. Nicht
seiner Frömmigkeit und Demut gab er Ausdruck. Hätte er das
gewollt, eine kleine Holzhütte hätte es auch getan. Sie
hätte diesem Zweck sogar weitaus besser gedient als ein wuchtiger
und pompöser Kirchenbau. Die Bauherren feierten sich am Ende
selbst, sie präsentierten sich selbst, sie erhoben sich selbst.
Das christliche Prinzip der Bescheidenheit in Demut war auf pervertierte
Weise korrumpiert.
Doch der Pferdefuß ließ nicht auf sich warten. Als Schlußstein
wurde er sozusagen ins Gewölbe eingemauert. Denn mit der Abkehr
von der natürlichen Umwelt, mit seiner gewollt vollzogenen Desintegration
verließ der Mensch auch ideologisch das Diesseits. Ab jetzt
wurde ein schwammiges, nebulöses und keinesfalls zu bestätigendes
Jenseits etabliert, auf das es alle Aufmerksamkeit zu richten galt.
Der Teufel hole diese hirnrissige Idee! Wer zählt die Legionen
derer, die diesem metaphysischen Unfug aufsitzend ihr einziges, unwiederbringliches
Leben vergeudeten! Alles diente nur noch dem Zweck, daß ein
paar ausgeschlafene Burschen die Zeichen der Zeit erkannten, und die
heillose Schwärmerei einiger verrückter Juden und Griechen
geschickt in ein Gesellschaftsmodell einzubauen verstanden. Der monotheistische
Grundgedanke stützte in nie dagewesener Weise das hierarchische
Herrschaftssystem. Die früher verachtete Armut und Schwäche
zu instrumentalisieren, war der geniale Einfall der Führungseliten,
die sich das Christentum erbötig machten.
Doch weitaus mehr ging den Menschen verloren: Die Demut, die Ihnen
das Christentum vermitteln sollte, ging komplett über den Jordan.
Hielten die alten, heidnischen Ägypter die Katze für ein
heiliges Tier - verbrannte, verfolgte und denunzierte man diese wundervolle
Kreatur als dämonische Ausgeburt der Hölle, die nirgendwo
anders existierte, als in den Köpfen der Menschen. Entschuldigten
sich die Ahnen bei den Tieren, wenn sie sie töten mußten,
so verloren die Christen jeden Bezug zu dem Respekt, den sie der Fauna
von jeher schuldeten. Was entstand, war - wie bereits beschrieben
- das Öde Land, in der Landschaft sowohl, als auch in den Seelen
der Menschen. Hähne, Ziegen, Ratten, Esel - alle, alle hatten
mit einem Schlage unter dem Dogma zu leiden, welches irgendein Wirrkopf
seinerzeit in die Bibel hineingeschrieben hatte: Machet Euch die Erde
untertan, mit allem, was darauf kreucht und fleucht.
Die Urmutter Erde aber, verraten von ihren "denkenden" Geschöpfen
würde diesen patriarchalen Blödsinn nicht lange dulden und
die Spinner aushusten - mitsamt ihrem demiurgischen Götzen.
Vieles reden die großen Dome der Christenheit. Doch täte
man gut daran, nachdem man das Labyrinth auf dem Fußboden der
magischen Kathedrale zu Chartres durchwandert hat, sich hinzuknien
und das Ohr an den Boden zu halten. Tief unter den Mosaikfliesen pocht
das alte Herz der keltischen Urmutter und ihrer heidnischen Kinder.
Deren Botschaft könnte sich über kurz oder lang als für
unsere weitere Existenz essentiell erweisen. Die Aussage dieser Botschaft
wird leise geflüstert, zu dick ist das Fundament der Kathedrale.
Wer sich aber nicht die Mühe macht, genau hinzuhören, der
wird erleben, daß die Folgen dieser Ignoranz über die Menschen
kommen werden, wie einst die apokalyptischen Reiter - mit dröhnendem
Schritt! Dann werden die Kathedralen in sich zusammenfallen, denn
es wird niemand mehr sein, der sich ihrem Erhalte verschreiben könnte.
Auf ihren Trümmerbergen werden Bäume und Sträucher
wachsen, die im Winde wieder das Lied singen, welches einst von den
vorchristlichen Menschen verstanden wurde. Wer aber wir dann zuhören...?