Kevin nicht allein im Zug
Jules-Francois S. Lemarcou
Schon oft hatte sich der Landbote
mit der grassierenden Verblödung auseinanderzusetzen, die sich
in märkischen Gefilden ausbreitet. Es ist eines der gesteckten
Ziele unseres Blattes, diesem Dämon die Stirn zu bieten. Dennoch
fällt es uns immer wieder schwer, diesen traurigen Acker umzugraben.
Selbst die Feder beugt sich gramvoll und die Tinte zieht sich verblassend
zurück. Über erfreuliche Dinge reportieren wir lieber.
Eine Fahrt mit der Reichsbahn bringt oft die Muße, sich unter
den Mitreisenden umzuschauen. Viele hocken auf den Sitzen, Treppen
des Doppelstockwaggons, auf ihren Koffern - in sich gekehrt, lesend,
manchmal leise miteinander schwatzend. Nichts Aufregendes. Wenn da
nicht die halbwüchsigen Knaben wären, die mit ihrer erwachenden
Männlichkeit und den ins Kraut schießenden Hormonen nichts
so recht anzufangen wissen.
Sie fühlen sich als der Mittelpunkt der Welt und erahnen dunkel,
daß dieser Fakt dem Rest der menschlichen Gesellschaft noch
nicht bewußt ist. Das ist ein unbedingt zu ändernder Zustand:
Sie gehen dieses Werk zunächst einmal geräuschvoll an. Ob
es nun die Kakophonie ist, die den Ohrstöpseln des MP3-Players
entquillt, ob es das "Handy" ist, dem sie im Spielmenü
quiekende und knärzende Töne entlocken... Am unangenehmsten
aber wird es, wenn sie das Maul aufmachen. Dann überfliegt mich
regelmäßig ein gewisses Neidgefühl den Gehörlosen
gegenüber. Denn was diesen ansonsten geschlagenen Zeitgenossen
erspart bleibt, macht manches wieder wett! Welche grauenhafte Verstümmelung
der Sprache! "Eh, Alter, eh! Eh, hast Du nich irgend 'ne Kusine
in P? Ick habe da jestern 'ne Käthe kenn' jelernt, die kommt
von da. Die is echt kraß, Junge, eh, Alter, eh!" Ist der
Angesprochene jung? Ist er alt? Aus dem Kontext des Gestammelten geht
dieser Punkt nicht endgültig hervor. Ich schaue zu dem Angesprochenen
hin. Er ist eines Alters mit dem verhinderten Rhetor und sicher einer
intellektuellen Gewichtsklasse. Wenn sie ihre beiden Hirnrindenrudimente
addieren, könnten sie einer Schmeißfliege ernste Konkurrenz
machen.
Dann geht das unsägliche Gedöns weiter: "Eh, Alter
eh..." (es handelt sich hierbei sicher um die obligate Einleitung
eines Gestammels), "...wenn ick die Prüfung bestehe, Alter,
dann jeb ick mir dermaßen die Kante, daß nischt mehr jeht,
Alter, eh!" (Auch die Abschlußinterpunktion wird mit der
geistlosen Phrase gekennzeichnet.)
Und jetzt kommt ein Höhepunkt: „… ick saufe denn
bis zum Delirjum!“ Ei der Daus! Woher das fremdländische
Wort? Der Fetzen Bildung, von wannen kömpt er dem Stammler anheim?
Es bleibt ein Rätsel? Nun wissen wir zumindest, welch helfende
Faktoren dem Abbau der Großhirnmasse so hilfreich zu Diensten
war. Wie man effektiv Alkohol in den retardierten Brägen schüttet,
wahrscheinlich um der Substitution mangelhaft vorhandenen Parenchyms
willen, das wissen die Deppen. Und sie halten es für "obercool",
mit Force ein verheerendes Autopsychogramm zu plakatieren. Geist und
Bildung erscheinen ihnen suspekt. Aber ganz ohne geht es auch nicht
– wie wolle man den „Delirium“ anders ausdrücken?
Auch wenn man diesen Begriff nicht mal ansatzweise zu definieren wüßte.
Nun sollte man den eigenen Blick nicht auf solche Vertreter des Stumpfsinns
fixieren! Weitaus interessanter nämlich ist es zu beobachten,
wie die nähere Umgebung das hohle Gebrabbel rezipiert. Die meisten
reagieren mit totaler Gleichgültigkeit. Befangen in ihren eigenen
Alltagsproblemen und abgestumpft durch die Gewöhnung an solche
Mißtöne, nehmen sie das erschreckende Geschehen kaum noch
zur Kenntnis. Aber da: Da sitzen zwei junge Mädchen circa drei
Meter entfernt von dem Schwätzer und beobachten ihn unverhohlen.
Was mögen sie denken? Fühlen sie sich abgestoßen von
so viel Dummheit? Sagen sie sich: "Herrgott erspare mir die Liaison
mit so einem Dödel?" Beiden lugt das nackte Rückenfell
unter den viel zu knappen Hemdchen hervor, spärlich bedeckt von
einem schwarzen Nichts, welches, statt die empfindlichen Körperpartien
abzudecken, gerade mal das Bochdalek’sche Dreieck verhüllt
und sich "Tanga" nennt. Dieses Triangulum, soviel sei den
anatomischen Laien verraten, bezeichnet keineswegs das – wenn
behaart – so markante, für das männliche Geschlecht
so Unwiderstehliche am Ende der weiblichen Oberschenkel, sonder das
auf der Rückseite des femininen Beckens Gelegene, was häufig
durch zwei hübsche Grübchen geziert und begrenzt wird.
Doch zurück zu unseren halbnackten Jungdamen: Das unvermeidliche
"Arschgeweih" wird sie noch verunstalten, wenn sie mit Gottes
Hilfe hohes Alter erreicht haben und ihren runzligen Pelz mit sich
herumschleppen. Zu einem aber taugt diese Tätowierung ganz vortrefflich.
Sie stößt ein Fenster auf in die Seelen der Trägerin,
welches zugegebenermaßen nicht immer klar und zuverlässig
ist. Doch Nasen- und andere Ringe vervollständigen den Eindruck:
Nein, diese beiden sind nicht angewidert. Hier begegnet uns das traurige
Gegenteil: Sie sind fasziniert: "Gott, was für fesche Typen!
Knackiger Hintern, breite Schultern.." Und das dämliche
Gesülze wirkt keineswegs kontraproduktiv. Es klassifiziert ganz
im Gegenteil die Stammler als der eigenen Kaste zugehörig. Das
ist beruhigend. Das macht den Trottel in den Augen dieses Weibchens
attraktiv. Sie denkt noch nicht weiter. Sie kalkuliert noch nicht
die Belange ihres Daseins oder die ihrer zukünftigen Brut. Nur
ihr Stammhirn arbeitet momentan. Ja, was denn auch sonst?! Die graue
Zellschicht darüber ist ebenfalls sehr dünn geraten.
Die Tragik liegt in der Vermehrung dieser Gestalten, respektive in
der hohen Proliferationsrate. Das heckt ungehemmt. Denn das einzig
erstrebenswerte für diese Menschen liegt in der Befriedigung
ihrer Grundbedürfnisse, als da sind: fressen, saufen, „poppen“,
schlafen. Das „Poppen“ nimmt dabei die höchste Prioritätsstufe
ein. Hierin liegt auch das Hauptunterscheidungsmerkmal zu den Schichten,
welche Bildung weitaus mehr goutieren. Die nämlich halten sich
in der Geburtenstatistik auffällig zurück, sind zu sehr
mit ihrem Lebensstandard befaßt, als daß sie es zuließen,
daß dieser durch die Aufzucht von Kindern getrübt werde.
Die Produkte sind entsprechend. Für eine Zeit lang scheint dieser
unselige Mechanismus den Gesetzen Darwins zu widersprechen. Aber glauben
Sie mir: Wirklich nur für eine Zeit! Irgendwann sind die Ressourcen
erschöpft, die die Dumpfbacken auf Kosten der Armen dieser Welt
aus dem Vollen schöpfen läßt.
Es sind viele skurrile Typen, denen man auf einer Bahnfahrt begegnet.
Und keineswegs ausschließen wollen wir, daß wir nicht
auch auf Andere eventuell befremdlich wirken mögen.
Da ist beispielsweise die auf "rüstig" getrimmte Greisin,
die allmorgendlich mit ihrem Veloziped das Abteil stürmt, wie
eine Horde der Roten Armee. Zartgefühl ist der Dame fremd, und
wenn sie mit ihrer zweirädrigen Waffe menschliche Knie und andere
Drahtesel genugsam gestoßen und geschrammt hat, blickt sie triumphierend
in die Gegend. Da ist der liebende Vater, der seiner anderthalbjährigen
Tochter alles, alles durchgehen läßt, während die
feiste Mutter langsam fuchsig wird - sowohl auf den Alten als auch
auf die Range; da sind die notorischen und unvermeidlichen Verliebten,
die für nichts als sich selbst Augen haben (wir wollen der verliebten
Dame des Pärchens einige kleine, rasche, taxierende Blicke auf
das sonst anwesende männliche und besonders weibliche Kontingent
der Mitreisenden zugestehen.) Nicht zu vergessen der Laptop-Klimperer,
der versessen auf seinem Rechner herumhackt, dabei die klackenden
Geräusche mit der Beschallung vermischend, die den Ohrstöpseln
des Langbezopften neben ihm entfleuchen. Doch all das ist leidlich
erträglich. Nur der Schäfermischling in der Abteilecke sucht
sich dem Elend durch ein verzweifeltes Abtauchen unter eine Sitzbank
zu entziehen.
Ich aber sehe der Minute freudig entgegen, in der mich der nächste
Bahnhof von den Dumpfbacken erlöst.
Der Zug fährt ein, hält an – die Türen öffnen
sich: alles drängt nach außen. Kevin der Geistlose ist
unter den Massen, die sich mühsam nach draußen kämpfen,
gegen den Ansturm der Unerbittlichen, die draußen bereits Panik
schieben, drinnen keinen Sitzplatz mehr zu bekommen. Ihn wären
wir also los! Gott sei Dank! Das ist geschafft. Durch die offene Tür
hindurch bekomme ich noch mit, wie ein Loreley-Verschnitt an den Verliebten
vorübersegelt. Beide Augenpaare folgen ihr. Dem verliebten Fräulein
ist der Zwiespalt anzumerken, in dem sie sich befindet: Bleibe ich
an der Figur und den Klamotten der Schlampe hängen (Was hat sie,
was ich nicht hab’?), oder überwache ich lieber meinen
Süßen?! Denn daß er der Blonden ebenwalls auf den
wogenden und vielversprechenden Hintern starrt, steht für alle
- aber auch wirklich alle! - so fest wie das Amen in der Kirche. Auch
er weiß es, ertappt sich unter den ertappenden Blicken seiner
Freundin und beeilt sich zu versichern, wie unvorteilhaft sich dieses
Mädchen doch kleidet, wie unschön ihre mißratene Figur
(ha ,ha ,ha…), und daß „die“ ihr ja üüüüberhaupt
keine Konkurrenz machen könnte. Es klingt beruhigend –
doch sie weiß, daß er lügt. Winkt das blonde Gift
nur mit dem Finger, dann ist sie ihren Schmusi los, todsicher für
eine Nacht – und das reicht ja wohl schon. Also, bloß
weg aus dem Gefahrenbereich, dem Epizentrum weiblicher Potenz. Und
sie zieht, sie spült ihn mit sich fort. Der Bahnsteig ist leer.
Auch der doofe Kevin ist verschwunden. Ich atme befreit durch. Der
Zug ruckt an. Und für weitere acht Minuten genieße ich
die Stille. Dann erwartet mich eine Viertelstunde Fahrradfahrt zwischen
Seen hindurch unter den Wipfeln hoher Bäume. Der Wind rauscht
leise und mit einer perfekten Grammatik. Die Vögel zwitschern
dazu. Ach, Kevin, Du Hohlkopf – was kann die Welt schön
sein, wenn man Deine Stimme nicht vernehmen muß…
Bin ich zu alt? Bin ich spießig? Vielleicht. Spießig –
und Spaß dabei!