Abstimmung mit den Füßen,
            oder: Was unter anderem nach unserer Sicht 
            im Zuge der Restitutionspolitik nach der Wiedervereinigung falsch 
            gelaufen ist
          Don Miquele Barbagrigia
            Als ihnen die FDJler buchstäblich 
            in den frühen Jahren der DDR aufs Dach stiegen um ihnen die Antennen 
            umzudrehen, damit sie kein Westfernsehen mehr sehen können, da 
            hat es ihnen definitiv gelangt. Schon der kommunistische Wahn von 
            der Zwangskollektivierung brachte die Suppe zum Kochen. Die, deren 
            Voreltern über Generationen hinweg hart geschuftet hatten; die, 
            deren Höfe beispielsweise durch eine Hochzeit auf über 100 
            ha anwuchsen, waren plötzlich Kulaken und wurden entschädigungslos 
            enteignet. "Bodenreform" nannte sich das. 
            Die Landlosen, das ländliche Proletariat, wurden mit kleinen 
            Wirtschaften bedacht. Inwieweit das nun gerecht war, darüber 
            mögen sich die Historiker streiten. 
            Doch viele hatten vom bolschewistischen Treiben die Nase gestrichen 
            voll. In Ermangelung freier Wahlen stimmten sie mit den Füßen 
            ab und verschwanden in Richtung Westen. Die DDR begann auszubluten. 
            Über Nacht standen ganze Häuserzeilen, ganz Dorfstraßen 
            leer. Die Gehöfte waren verlassen. Das Vieh blökte und quiekte, 
            schnatterte und bellte vor Hunger in den Ställen. In den Wohnräumen 
            verstaubten die Möbel. Die Flüchtlinge ließen alles 
            zurück. Ein Koffer mit der nötigsten Habe, meist mit den 
            Papieren, war alles, was sie in das Auffanglager jenseits der Grünen 
            Grenze mitnehmen konnten.
            Es wurde „drüben“ zunächst sicher nicht einfach 
            für sie. Aber sie richteten sich ein, arbeiteten sich hoch, schufen 
            sich neues Eigentum. Das alte wäre dem Verfall preisgegeben, 
            wenn es nicht durch die vielen Verbliebenen umgehend neu besetzt worden 
            wäre. Das ging relativ schnell. In der DDR herrschte Zeit ihres 
            Bestehens immer eine große Wohnungsnot. Millionen arbeitsfähiger 
            Menschen gingen also damals einem Teil der im Aufbau befindlichen 
            Nation unwiederbringlich verloren.
            Unwiederbringlich?
            Nein, nicht ganz. Denn nach der Wiedervereinigung waren viele von 
            ihnen und ihren Erben über Nacht wieder da. Plötzlich standen 
            sie vor den Zäunen und Türen ihrer damals verlassenen Anwesen. 
            Ein paar ganz Unverfrorene meinten gar, sie hätten noch immer 
            das Hausrecht und scherten sich keinen Deut um die „neuen“ 
            Bewohner. Viele aber bestanden auf der Restitution der vormaligen 
            Besitzverhältnisse, der „Herausgabe“ ihres „Eigentums“. 
            Der im Zuge der Wiedervereinigung ausgehandelte Rechtsgrundsatz „Rückgabe 
            vor Entschädigung“ stärkte ihnen das Kreuz. Eine Prozeßwelle 
            begann über das Land zu rollen. 
            Ein akuter Fall ließ uns über das Geschehen nachdenken.
            War es wirklich Recht, was dort formuliert wurde?
            Wie alles im Staate Bundesrepublik Deutschland wurde auch diese Entscheidung 
            von finanziellen Erwägungen diktiert. Rückgabe an die „Altbesitzer“ 
            dünkte den Staat vorteilhafter als riesige Kompensationszahlungen. 
            Aber was für Entschädigungen waren denn eigentlich gemeint? 
            Unseres Wissens sind die Flüchtlinge schon damals vom Staate 
            großzügig für ihr verlassenes Hab und Gut entschädigt 
            worden. Ein neuerlicher Ausgleich also?
            Und – wären die Liegenschaften nicht neu besetzt worden, 
            wer wollte ernsthaft bestreiten, daß sie in der Zwischenzeit 
            völlig überwuchert und verfallen, also unbrauchbar und nur 
            unter großem Aufwand rekultivierbar wären. 
            Die Menschen, die sich seither um die verlassenen Häuser und 
            das Vieh kümmerten, haben die Werte erhalten. Werte, für 
            die die Vorbesitzer und deren Erben seit Jahrzehnten keinen Finger 
            krumm gemacht hatten.
            Wir fragen: In welcher Rechnung taucht diese Komponente auf?
            Eine Entschädigung ist nach unserem Rechtsverständnis ein 
            Schlußstrich unter die Ansprüche auf verlorenes Eigentum.
            Wir haben eine Alternative parat, die uns gerechter und den Umständen 
            angemessener dünkt. Wenn man den Rechtsgrundsatz „Rückgabe 
            vor Entschädigung“ beibehält, dann sollten die Anspruchsteller 
            zuerst das in den fünfziger Jahren kassierte Geld an einen staatlichen 
            Sonderfond zurückzahlen – und zwar mit Zins und Zinseszins. 
            Ist das geschehen, müssen die Werte der zurück zu übertragenden 
            Liegenschaften nach aktuellem Stand getaxt werden. Wertsteigerungen, 
            die durch Erhaltungsarbeiten, Ausbesserungen und An- bzw. Neubauten 
            erzielt wurden, sollten der Rückzahlungssumme zugeschlagen werden. 
            Mit den nun in den Fonds vorhandenen Mitteln wären die zum Auszug 
            aus ihren seit vierzig, fünfzig Jahren bewohnten Häusern 
            gezwungenen Menschen zumindest in der Lage, sich anderweitig einen 
            adäquaten Ersatz zu schaffen. 
            Das alles ist nicht geschehen. Daraus ist viel Zorn und Unmut erwachsen. 
            Die Mauer, die die Deutschen achtundzwanzig Jahre lang trennte, verschwand. 
            Ein tiefer Graben wurde hingegen neu ausgehoben zwischen den „Ossis“ 
            und den „Wessis“. 
            Wäre da nicht diese sinnlose, diese bornierte und idiotische 
            Arroganz von Leuten gewesen, die sich als Sieger der Geschichte fühlten 
            und aufspielten, es wäre viel politisches und mentales Porzellan 
            heil geblieben. 
            Mögen künftige Generationen dermaleinst unbelastet von den 
            Fehlern ihrer Voreltern heranwachsen! Daß das jedoch ein naives 
            Wunschdenken ist und die Ressentiments gegeneinander über historische 
            Zeiträume hinweg immer neue Blüten treiben, ohne sich kaum 
            noch der Wurzeln ihres Haders bewußt zu sein, ja, daß 
            Feindseligkeiten schon eine traditionellen Anstrich erhalten – 
            das ist uns auch klar. Das ist die Realität, in der wir leben.
            Das ist die stinkende Frucht der Ewigen Dummheit.