Deutschland, wo sind Deine Krücken?
Don Miquele Barbagrigia
Ach Deutschland, bleiche Mutter!
Was kränkelst Du zusammen? Deine besten Jahre scheinen vorüber.
Du hustest an fünf Millionen Arbeitslosen, erstickst zusehends
an Deiner Staatsverschuldung und degenerierst mehr und mehr zu einer
korrupten Bananenrepublik. Dein verfluchter Neofeudalismus macht Dir
den Garaus. Und was tust Du? Du legst dick Schminke auf, um Deine
tiefen Runzeln zu retuschieren, beinahe vierzig Prozent Rouge aller
Couleur – von Gysi bis Schröder. Es nutzt nichts, es ist
vergebens.
Du frönst einem Jugendwahn – der schon selbstmörderisch
ist. Dabei verhätschelst Du die Jugend nicht wirklich. Die meisten
läßt Du verblöden, Dein liberaler „Erziehungsstil“
ist nicht mehr als eine billige Flucht vor der Verantwortung. Die
wenigen, die wirklich etwas auf der Pfanne haben, die verheizt Du
in endlosen unbezahlten Praktika, oder vergraulst sie in die Länder,
in denen jungen Aufsteigern noch Chancen geboten werden.
Das ist der eigentliche Beweis dafür, Mutter Deutschland, daß
Du langsam aber sicher senilkonfus wirst: Deine Wirtschaft läßt
Du nach Arbeitskräften bläken, die im Idealfall vierundzwanzig
Jahre jung sind, zweiundvierzig Jahre Berufserfahrung besitzen, kein
Geld verlangen, dennoch eifrig konsumieren, stets flexibel und rund
um die Uhr ihrem Ausbeuter zu Diensten sind, willig und kritiklos
und sich vor allem von der Wiege bis zum Grabe selbst versichern.
Deutschland, Du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank!
Ist das Deine schiere Größe, die Dich so ganz das Gegenteil
von dem erscheinen läßt, was Du Deinen Kindern abverlangst?
Daß Du so völlig undynamisch und regressiv bist –
Du, die Du einst vor hundert Jahren einer der leistungsstärksten
Motoren dieser Welt gewesen bist?
Nach dem letzten Kriege bist Du brutal amputiert worden. Nicht genug?
Deine Beamtenschaft schleppst Du mit Dir herum wie einen Klumpfuß,
wie ein Geschwür, das an Dir zehrt. Du setzt Dich hin, ruhst
Dich nun schon drei Jahrzehnte lang aus und jammerst in einem Fort,
daß Dir das Geld ausgeht. Derweil vertickst Du Dein verbliebenes
Tafelsilber, um Dir noch ein paar Jahre des Jammerns zu erkaufen.
Deine Staatsobligationen sind keinen Pfifferling mehr wert.
So geht’s, wenn man den Anschluß verpaßt. Die kleine
Nation der Esten, Du erinnerst Dich, hoch oben im Baltikum, die macht
das anders. Die ist ja auch gerade erst erwacht. Die jammern nicht,
die klotzen. Und die packen es richtig an. Die setzen auf Fortschritt
und Kommunikation. Jedem Esten ein kostenloser Internetzugang ist
Gesetz. Jawoll! So muß das sein. Denn das Internet ist die Zukunft.
Wer den Anschluß verpaßt, möge sich in die Prärie
zurückziehen und mit den Koyoten um die Wette heulen. Sechsunddreißig
Jahre ist Estlands Ministerpräsident jung – seine Dynamik
überträgt sich auf das Land. Es geht rund in Reval und Umgebung!
Anderthalb Millionen Esten starten durch. Sie wollen es wissen. Es
herrscht Aufbruchstimmung im alten Ordensland rund um den „Langen
Hermann“. Hier, im Lande der fetten und trägen Dekadenz,
hier ist schon jetzt klar, wer die nächste Bundestagswahl gewinnt:
Die Stagnation. Und sie wird mit der Wirtschaftsdepression und der
Regression eine große Koalition bilden – darauf unser
Ehrenwort!
Träge, kundenunfreundliche Superorganisationen wie in Deutschland
ansässige Groß-Kommunikationsdienstleister denken an nichts
anderes als Profimaximierung. Nationale Belange sind Ihnen scheißegal.
Sie rechnen eh in Dollars.
Was dabei rauskommt? Ganz einfach: Wir nähren uns schrittweise
dem Kommunikationsniveau der verblichenen Größten DDR der
ganzen Welt: Sie erinnern sich doch noch: jahrzehntelange Wartezeiten
auf einen analogen Telephonanschluß, mit dem man gerade eben
telephonieren konnte. Nach Westberlin oder in den Rest der zivilisierten
Welt hinein fernsprechen – da war eine Anmeldung vonnöten,
die schon mal vierundzwanzig Stunden und länger dauern konnte.
Wenn es dem Fräulein vom Amt und dem Ministerium für Staatssicherheit
dann paßte und alle ihre Abhöranlagen geschaltet hatten,
dann kam die Genehmigung zum Sprechen auch schon mal um halb drei
Uhr morgens.
Ganz so schlimm wird es in absehbarer Zeit wohl nicht mehr. Aber wer
den Landboten aufmerksam gelesen hat, wird in etlichen Artikeln den
beklagenswerten Zustand deutscher Telekommunikationsanbindung reflektiert
finden.
Als vor fünfundsechzig Millionen Jahren die kosmische Bombe die
Halbinsel Yukatan traf, da waren die Großreptilien über
Nacht Schachmatt! Die Kleinen, die Säuger, die unter zwanzig
Pfund schweren Kreaturen, die kamen aus ihren Löchern hervor,
verspeisten die mausetoten und umgekippten Killer von gestern und
– entwickelten sich prächtig.
Das einzig Alte an Estland ist neben seiner Kulturlandschaft die Sprache.
Sie ist dem Finnischen verwandt und zählt zu dem uns fremden
Komplex der finno-ugrischen Sprachen. Nur knapp eine Millionen Menschen
spricht dieses Idiom. Schon befürchtet man, dieses für indoeuropäisch
geschulte Ohren verzwickte Sprachgebäude würde dem sogenannten
Gutenberg-Effekt anheimfallen und in der Versenkung der Weltgeschichte
verschwinden. Ich glaube das nicht. Ich denke, achtzig Millionen Deutsche
sollten sich eher vorbereiten, estnisch zu lernen.