Eine Brandenburger Fahrradfahrt
– Protokoll des Irrsinns
S. M. Druckepennig
Um 11:15 Uhr betrat Herr Bajun
die Redaktion. Draußen hatte es 30 Grad im Schatten, ein laues
Lüftchen wehte aus Südsüdost zu Süd. Der Himmel
war wolkenlos und strahlendblau, die Asphaltdecken der Straßen
flimmerten etwas.
Herr Bajun schwitzte fürchterlich. Er war nicht zu spät,
dennoch ging er ohne auch nur vorher einen Blick in die Dusche zu
tun, in die Bibliothek des Landboten und zog sich die 35. Auflage
des Strafgesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland. Mit zitternder
Stimme begann er uns den Paragraphen 284 vorzulesen: „Unerlaubtes
Veranstalten eines Glückspiels. (1) Wer ohne behördliche
Erlaubnis öffentlich ein Glückspiel veranstaltet oder hält
oder die Einrichtungen hierzu bereitstellt, wird mit Freiheitsstrafe
bis zu…“, er blickte gequält auf, „…zwei
Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
Wir sahen uns betroffen an. In der Redaktion spielen wir eigentlich
nur Skat oder Schach und manchmal Malefiz®, aber niemals um Geld.
Herr Bajun selbst ist ein grundsolider Charakter. Was um Himmels Willen
hatte er?
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. „Meine Herrn,
“ hub her Bajun das Sprechen an, „meine Herrn, Sie wissen,
daß ich vorhin mit meinem Drahtesel in Brandenburg war. Soeben
bin ich mit Gottes Beistand heimgekehrt. Es ist aber wohl möglich,
daß mir wie jedem deutschen Velozipedisten eine Strafanzeige
wegen illegalen Glückspiels droht.“ Hatte unser stellvertretender
Schriftleiter und Kulturmann den Verstand verloren?
Herr Fjøllfross rückte ihm einen Stuhl hin: „So
nehmen sie doch erst einmal Platz, mein lieber Bajun!“ Herr
Lemarcou brachte einen kühlen Spätburgunder.
Nachdem er einen Schluck genippt hatte, begann unser Russe zu berichten:
„Meine Herren, das Fahrradfahren muß in unseren Breiten
unbedingt den Glücksspielen zugerechnet werden. Und da es hierbei
um den höchsten Einsatz überhaupt geht, nämlich das
eigene Leben, so glaube ich nie und nimmer, daß es vor den Behörden
genehmigungsfähig sei. Wer also auf öffentlichen Straßen
mit seinem Drahtesel unterwegs ist, macht sich per se strafbar.“
Dieser sybillinischen Deklaration ließ er einige deftige Flüche
aus seiner sibirischen Heimat folgen. Dann fuhr er fort: „Sehen
Sie, ich war dicht hinter der alten Plauer Havel-Brücke, die
den vormaligen Verlauf der Bundesstraße 1 über den Fluß
führt, als nach drei Minuten das erste Attentat auf mich verübt
wurde. Ein betagter Fahrer eines Kia aus Magdeburg verließ das
Grundstück der Wiesicke-Villa. Der Greis aus der Domstadt muß
lange Zeit in England oder Japan gelebt haben, denn während er
den Wagen vorrollen ließ, blickte er fortwährend nach rechts
und verschwendete keinen einzigen Blick nach links, die Richtung,
aus der ich kam. Es war gut, daß es so heiß war: sein
Fenster war offen und die Batterien seines Hörgerät waren
wohl noch nicht zur Gänze runter. So bekam er denn mein drittes
gebrülltes „Hallo“ mit und brachte seinen Wagen noch
eben zum Stehen.
Vier Kilometer weiter sollen die Autofahrer durch eine Verkehrsinsel
inmitten der Bundesstraße daran erinnert werden, daß sie
das Hoheitsgebiet der Stadt Brandenburg an der Havel erreicht haben
und demzufolge spätestens an dieser Stelle den Fuß vom
Gas nehmen sollten. Den Fahrer eines polnischen Vierzig - Tonners
erinnerte die Verkehrsschikane jedoch erst einmal daran, daß
es Zeit sei aufzuwachen. So viel Maut gespart…, wer weiß,
wovon der Pole gerade noch so träumte! Jedenfalls verriß
er gelinde sein Steuer und der Brummi hielt für kurze Zeit wacker
auf das leerstehende Autohaus am Heidekrug zu. Ich befand mich in
der Visierlinie. Irgendwie gewann der Pan Fahrer dann aber doch wieder
die Straße und ließ mich unzerquetscht ziehen.
Doch nur für zweihundert Meter konnte ich mich meines unverschämten
Glückes freuen. Vor der Fischbude verließ eine Traube Kleingärtner
in Begleitung ihrer unangeleinten Tölen die Kleingartensparte,
ohne sich um den Fahrradweg weiter zu bekümmern. Wie die Erdbeeren
gerade standen, war weitaus wichtiger. Ganz besonders ignorant erwies
sich ein Pinscher, der seinem Rudel voranstob. Das deutsche Straßenverkehrsrecht
war ihm scheißegal. Fünf Meter trennten uns. Nicht eben
viel bei annähernd dreißig km/h. Da schaffe ich etwa 8m
in der Sekunde. Gottlob quietschen meine Felgenbremsen fürchterlich.
Was sie erst im Ultraschallbereich in Hundeohren anrichten, wage ich
mir nicht auszumalen. Jedenfalls bekam die Trethupe Räder statt
seiner Stummelfüße und einen Kondensstreifen fuhr ihm aus
dem Ärschlein und er verließ beinahe mit Schallgeschwindigkeit
den Radweg in Richtung Chaussee. Der Pole war mittlerweile außer
Sicht. Er hätte das vorwitzige Vieh sicherlich unter dem Druck
seiner Zwillingsreifen zu einer mehreren Quadratmeter großen
Straßenmalerei verwandelt und damit einen Beitrag zur Stadtverschönerung
geleitstet. Die Töle, jetzt wieder bei Sinnen, begann ein mörderisches
Gekläff, was zu einem herzhaften Gelächter der Kleingärtner
führte. Ob sie auch so laut gelacht hätten, wenn meine Reifen
das Vieh unterhalb des Bauchnabels zerteilt hätten oder sie für
mich auf Grund ihrer Fahrlässigkeit lebenslang eine Invalidenrente
hätten zahlen müssen?
Ich kam nicht dazu, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Wiederum
nur wenige hundert Meter weiter will die B1 über den Brandenburger
Silokanal. Vor der Brücke mündet der Quenzweg in die Fernstraße.
Autos, die ihn benutzen, haben den Verkehrsteilnehmern, die auf der
Bundesstraße fahren, Vorfahrt zu gewähren. Das hatte jene
Fahrerin eines Skoda Octavia mit Brandenburger Kennzeichen im Prinzip
auch vor. Nur fiel es ihr offensichtlich schwer, Fahrradfahrer als
Verkehrsteilnehmer zu akzeptieren und so hielt sie denn erst, als
der Fahrradweg zwischen ihrer A- und ihrer B-Säule hindurchzog.
(Für alle Feministinnen: mit diesem technischen Begriff aus der
Welt des Automobils sind nicht die Beine der Fahrerin gemeint…)
Ich hielt etwa drei Zentimeter vor ihrer Türe und fragte sie
nach ihrem Befinden. Sie verstand und legte in kühl organisierter
Panik den Rückwärtsgang ein, was ihren mittlerweile auf
engen Abstand aufgefahrenen Hintermann sehr verdroß. Als der
dann auch noch ein Hupensolo zur Performance beisteuerte, war es um
die Automobilistin geschehen. Hin und hergerissen zwischen dem Verlangen,
ihren Schlitten auf der Kreuzung stehenzulassen um sich zum Relaxen
in die nächste Friseurstube zu begeben und der Ratlosigkeit,
was sie denn nun wirklich tun solle, gab sie entschlossen Gas und
verwies einige Kraftfahrzeuge auf der vierspurigen „1“
auf die zweiten Plätze, respektive ganz spontan auf die Innenspur.
Ob sie mal bei der Kamikaze-Truppe des Tennos gedient hatte? Wer weiß…!
Bis zur Rücktour sollte ich wenigstens vor weiteren Attacken
verschont bleiben.
Mittlerweile wähnte ich mich auf einem Kreuzzug – Sarazenen
und Feinde von allen Seiten, zwei Beine, vier Beine – meistens
keinen Kopf – oder zumindest nichts darinnen – die Augen
dieser Straßenbenutzer waren gnadenlos und unbarmherzig entweder
geschlossen, oder aber dem Schminkspiegel vorbehalten.
Der Rückweg gestaltete sich entsprechend. Gegenüber der
Zuchthausmauer wandelte ein Liebhaber stark geistiger Getränke
einsam auf dem Radwege. Da von solchen Genußmenschen ein spontanes
Wechseln der jeweiligen Körperlage und Bewegungsrichtung bekannt
ist, reduzierte ich meine Geschwindigkeit rapide. Und richtig! Ohne
Rückspiegel und bar jeden ersichtlichen Grundes entschloß
sich der Saufaus, daß er die linke Seite des Weges lange genug
benützt habe. Also wechselte er in einer grazilen Wendung nach
Steuerbord. Die Seeschlange von Loch Ness wäre neidvoll erblaßt.
Daß er dies just eine Reifenlänge vor mir tat, kam ihm
nicht weiter zu Bewußtsein. Es ist davon auszugehen, daß
er mich nicht einmal wahrnahm, als ich ihn und seine hochprozentige
Fahne fluchend passierte.
Wieder hatte ich einen halben Kilometer Ruhe. Dann sah ich sie: Zwei
Halbwüchsige, die – mir entgegenkommend – brav nebeneinander
fuhren, intensiv ins Gespräch vertieft. Ich hoffte, ihre hypermodernen
Mountainbikes wären sensorgesteuert und würden bei Annäherung
eines Fremdobjektes Alarm schlagen. Meine Hoffnung trog. Also brüllte
wieder einmal ich: „Links, Rechts oder Mitte?“ Der ungewohnte
Lärm ließ die beiden aufschrecken und bewog dann doch den
auf der falschen Seite Fahrenden, den flachen Straßengraben
aufzusuchen, um eine Kollision zu vermeiden. Ich gelangte so peu a
peu zu der Überzeugung, daß es sich nirgendwo so gut schliefe,
wie auf märkischen Alleen.
Wenn es dafür noch eines Beweises bedurfte, so lieferte ihn die
Horde etwa fünfzehnjähriger Mädchen, die offensichtlich
von dem Vergnügungsgelände auf dem Grundstück der Wiesicke-Villa
ausgespuckt worden war und nunmehr über die ganze Breite der
alten Reichsstraße 1 verteilt den langen Marsch nach Osten antrat.
Mit den Mädchen so um die Pubertät herum ist das schon eine
kuriose Sache: Sind sie allein, so möchten sie sich oftmals am
liebsten eine Tarnkappe überziehen. Treten sie aber zu Mehreren
auf, dann ist kein Acker breit genug, um ihre Phalanx aufzunehmen.
Und so zirkelte ich mittig eine enge Gasse aus, die mir um Haaresbreite
Durchschlupf zu bieten schien. Doch eine von den Gaken hatte diesen
Leerraum auch schon erspäht und setzte alles daran, ihn umgehend
zu besetzen. Ob sie vom Horror vacui getrieben wurde? Nein sie wollte
mir nicht die Weiterfahrt verleiden. Sie sah mich nicht. Niemand von
den Kurzberockten und zutiefst Ausgeschnittenen nahm mich wahr. Ich
repräsentierte doch nur eine Masse von über zwei Zentnern
(mit Drahtesel und Rucksack), die mit einer Geschwindigkeit von annähernd
dreißig km/h unterwegs ist. F=m*a, Kraft ist gleich Masse mal
Beschleunigung – das hatte deren Physiklehrer sicher auch diesen
Mädchen zu vermitteln versucht. Doch was interessiert die öde
Physik? Sarah Connor ist wichtig, der süße Rechtsaußen
von den Backstreet Boys, die Pickel auf Sandys Nase und das Scheiß
Outfit von Timmys neuer Braut, der verdammten Schlampe! Was juckt
da die Aufprallwucht von beinahe einer Tonne pro Quadratmeter. Das
ist doch alles viel zu abstrakt für eine Fünfzehnjährige.
Die Kerle, die sie zwischen ihre erwachenden Schenkel zu lassen erwägen,
wiegen nicht mal ein Zehntel davon. Und das ist oft schon schwer genug
und läßt sie bestenfalls über einen Wechsel der Stellung
sinnieren.
Der Wind hatte etwas gedreht und kam nunmehr aus Südwest. Das
hieß, ich hatte zwar Tonnen von Parfums in der Nase, die Mädchennasen
jedoch vermeldeten ihren Oberzentren keineswegs die Anwesenheit von
Testosteron. Also kein Grund aufzublicken und umherzuschauen. Man
konnte sich getrost mitten auf einer für den öffentlichen
Verkehr zugelassenen Straße über seine Jungmädchenprobleme
unterhalten, die zweifelsohne mehr wiegen als so läßliche
Lappalien wie Leben und Gesundheit. Meine schrill quietschenden Bremsen
taten erneut ihren Dienst – und wie eng Primaten und Hunde stammesgeschichtlich
verwandt miteinander sind, wurde durch das markerschütternde
Gekläff aus einem Dutzend aufgeschreckter Mädchenkehlen
verdeutlicht. Einige unter den Sopranistinnen übertrafen meine
Bremsen noch um eine geschlagene Oktave!
Haben sie mitgezählt, meine Herrn? Das waren sieben Anschläge
auf mein Radlerleben in knapp einer Stunde. Durchschnittlich alle
zweieinhalb Kilometer, im Schnitt alle fünf Minuten einmal in
ernsthafter Gefahr…
Verstehen Sie jetzt, warum ich das Radfahren dem Roulette, dem Hazard,
und dem „Siebzehn und Vier“ als Glücksspiel beigeselle?
Wieviel Glück muß ein Mensch haben, in fünfunddreißig
Minuten sieben Mal davor bewahrt zu werden, seine achtzehn Kilometer
lange Tour als Krüppel oder gar als Leiche zu beenden?
Da ich das weiß und trotzdem jeden Tag aufs Neue mein Stahlroß
reite, begehe ich da nicht nach § 284 StGB eine vorsätzliche
und fluchwürdige Straftat? Ist es recht von mit, so viele friedliche
Schläfer auf Brandenburgs Straßen aus ihrem wohligen Dämmer
zu reißen?“
Während Herr Bajun erschöpft seinen horriblen Bericht endete,
bemerkte ich, wie Don Miquele Herrn Akinokawa, Herrn Lemarcou und
dem Chef flüsternd die Panzerung des Königstigers der Deutschen
Wehrmacht an einem Modell erklärte. Ich hörte nur noch Fjø
stöhnen: „Aber die Spritkosten, lieber Don Miquele, die
Spritkosten!“
Haben die Kollegen ernsthaft die Anschaffung eines Panzers diskutiert?
Na ja, zum eigenen Schutze wäre die Idee so abwegig nicht.
Doch, was soll’s! Unser braver Bajun hatte sein Glücksspiel
„Fahrradtour“ doch letzten Endes auf der ganzen Linie
gewonnen! Und sein Erster Preis? Ein paar heile Knochen und ein gekühlter
Spätburgunder. Das Leben kann so schön sein…