Die Isenschnibber Feldscheune
S. M. Druckepennig
Beschaulich liegt das Städtchen
Gardelegen in der Altmark. Eingebettet in einer sanften Landschaft,
die weitestgehend von der Elbe geprägt wurde, bewahrte sich die
ehemalige Hansestadt ihr mittelalterliches Flair.
Es ist just sechzig Jahre her, da wurde Gardelegen jedoch buchstäblich
über Nacht zu einem Nachbarort von Auschwitz, Buchenwald oder
Sachsenhausen.
Vorbei war es mit aller Beschaulichkeit, die so pittoresk auf den
Besucher wirkt. Und wir beginnen zu erahnen, daß viele der alten
Baudenkmäler, das gotische Rathaus, die beiden Stadtkirchen,
die Toranlagen lediglich Fassaden sind, hinter denen über die
Jahrhunderte an einem Sud gekocht wurde, der 1933 in seiner widerlichsten
Art des Kessels Deckel sprengte und über alle Grenzen menschlicher
Ethik und Moral hinwegkroch. Insofern geht es dieser Stadt wie Tausenden
anderen Kommunen des Reiches.
Haben nicht viele deutsche Archive Zeugnisse der Pogrome gegen Juden
aufbewahrt und ellenlange Gerichtsunterlagen über Hexenprozesse?
Was Michel im Laufe seiner tausendjährigen Geschichte an Intoleranz,
Xenophobie und anderen psychotischen Ängsten ausbrütete,
das entlud sich dann mit elementarer Gewalt in der Zeit des Nationalsozialismus
- einer Epoche, in der, wie ein berühmter Deutscher einmal sagte,
die Arbeitslosen von Arbeitsscheuen regiert wurden.
Diese Arbeitsscheuen hatten eigentlich nur ein Programm: Sie wollten
denen, die über Generationen hinweg hart gearbeitet hatten, das
Ihrige nehmen und sich selbst aneignen. "Die" - das waren
die anderen, per Dekret zu lebensunwerten Untermenschen erklärt.
Da sie sich für Herrenmenschen hielten und die hemmungslose Brutalität
zum höchsten Lebenszweck erkoren, hielten sie diese Art des Parasitentums
noch für besonders edel.
Wer immer zu den Untermenschen gezählt wurde, wer immer sich
aus den Reihen der eigenen "Volksgenossen" gegen diese "Weltanschauung"
verwahrte, des' Leben war kein Pfifferling mehr wert.
Solange die Nazis sich dieser Menschen noch als Arbeitssklaven bedienen
konnten, solange wurden sie schlimmer als Vieh in den Konzentrationslagern
des Reiches gehalten. Konnten sie nicht mehr schuften, waren ihre
Tage gezählt.
Dieses Treiben sollte erst sein Ende finden, als der Größenwahnsinn
der Herrenmenschen, von den Schlägen der Alliierten hart getroffen,
in Trümmer ging.
Doch Unmengen von Beispielen beweisen, daß die Fanatiker noch
bis zur buchstäblich letzten Minute versuchten, ihren Irrsinn
durchzuziehen. An den Kastanien der Reichsstraße 102 von Brandenburg
an der Havel nach Golzow hingen die Leichen der von den "Kettenhunden"
gehenkten "Deserteure". Zwei Tage später türmten
die Mörder selbst, versäumten aber geflissentlich, sich
neben ihren Opfern aufzuknüpfen.
Ein besonders abscheuliches Verbrechen der letzten Stunde begingen
zwei Nazistrolche mit ihren Schergen in einer nahe bei Gardelegen
gelegenen Feldscheune, die dem Rittergut Isenschnibbe zugehörte.
Der 32jährige SS-Hauptscharführer (Oberfeldwebel) Erhard
Brauny und der 36jährige ehemalige Lehrer(!) und NSDAP-Kreisleiter
von Gardelegen Gerhard Thiele ließen 1016 Kriegsgefangene und
KZ-Häftlinge am Abend des 13.April 1945(!!!) in die Feldscheune
treiben, deren strohbedeckter Boden zuvor mit Benzin begossen wurde.
Als die Menschen in dem Gebäude waren, wurde die Scheune in Brand
gesteckt. Wer immer vor der entsetzlichen Qual des Flammentodes zu
fliehen versuchte, wurde von den Maschinengewehrgarben der SS niedergemäht.
Wenige Stunden nur nach diesem Massaker erreichten die Stoßtruppen
der amerikanischen Armee den Ort des Grauens. Die Befreiung kam buchstäblich
um ein paar verfluchte Stunden zu spät. Wer das bedenkt, dessen
Gottesbegriff wird sich auflösen, wie ein eine Rauchwolke im
Nebel.
Colonel P. Lynch hielt als Stabschef der amerikanischen 102. Infanterie-Division,
die in den letzten Kriegstagen noch auf ein solches Entsetzen stoßen
mußte, die Trauerrede für die Ermordeten. Er soll seine
Ansprache mit den an die Gardelegener gerichteten Worten geendet haben:
"Sie haben die Achtung der zivilisierten Welt verloren!"
Das ist soweit richtig und unerwähnt bleibt, wieviele deutsche
Soldaten und Zivilisten noch im Nachhinein das Schurkenstück
der beiden Nazis zu bezahlen hatten, wenn sie auf die durch den Anblick
der rauchenden Leichen verbitterten Amerikaner trafen. Ob denen Prinzipien
wie Menschlichkeit und Barmherzigkeit im Angesicht eines Deutschen
noch viel gelten konnte? Wenn es nicht so ist, wir würden es
verstehen.
Doch das Unrecht wurde fortgesetzt. Thiele wurde schon am 30. Januar
1946 aus amerikanischer Haft entlassen und lebte bis zu seiner Höllenfahrt
1994 unangefochten in Düsseldorf.
Im Gedenken an die ermordeten Opfer spuckt der Preußische Landbote
der amerikanischen Militärjustiz und den deutschen Justizbehörden,
die diese Mordbestie haben laufen lassen, angewidert vor die Füße!
Diese besagten Behörden haben sich in gewisser Weise an dem Massaker
im Nachhinein mitschuldig gemacht, als sie es versäumten, alle
Henker zu richten. Ein paar erschossene SS-Mörder nur, ein paar
für einige Jahre eingeknastete Nazistrolche - das soll der Teufel
holen! Sie haben die Gefangenen ein zweites Mal angezündet.
In Gardelegen hängt die rechtsradikale Szene wieder Flugblätter
aus. Eines klebte gar an der Einganstür einer kleinen Schalter-
und Automatenstube einer bedeutenden Bank in der Gardelegener Nikolaistraße.
Es nannte sich "Klage eines Polizisten" und schwadronierte
von der Ungerechtigkeit, die einen Polizisten zwänge nationalsozialistische
Embleme und Symbole zu verfolgen, während die bolschewistische
Symbolik unangetastet bliebe. Ein Vogel würde von diesem Pamphlet
aus lediglich exakt zweieinhalb Kilometer fliegen müssen, um
sich auf der letzten verbliebenen Mauer der Isenschnibber Feldscheune
niederlassen zu können.
Wie ist es möglich, daß erneut Leute in unmittelbarer Nähe
eines solchen Verbrechensschauplatzes wieder ungestraft und ungezügelt
jene Ideen postulieren können, die noch Stunden vor ihrem materiellen
Kollaps zu einem Kapitalverbrechen von mittelalterlichen Dimensionen
führten?
Es ist eine Schande!
Der Preußische Landbote hat das betroffene Geldinstitut von
der Existenz des Flugblattes in Kenntnis gesetzt. Dieses reagierte
sofort und beherzt. Preußen steht auf Seiten der Gerechten!