Wikileaks plaudert aus dem
Nähkästchen
Ein Aufklärer demontiert sich selbst –
schade eigentlich
J. F.- S. Lemarcou
Ein Sturm tobt im Wasserglas. Auf dem Etikett des Glases steht „Wikileaks“.
Diese Plattform hat sicher ihre Berechtigung. Dass sie Kriegsverbrechen
der Amerikaner in Afghanistan und dem Irak angeklagt hat, ist korrekt,
auch wenn das die Situation zwischen den kriegführenden Parteien
weiter anheizt. Wenn die Amerikaner nicht anders können, als junge,
unfertige Halbstarke, die blöd genug sind, sich für die amerikanischen
Wirtschaftsbosse kritiklos verheizen zu lassen, in solche Krisengebiete
zu senden, dann müssen sie damit rechnen, dass diese Dollbrägen
unter dem Diktat ihrer Hormone und ihrer Angst Kriegsverbrechen begehen.
Das ist aus jedem Krieg der Menschheitsgeschichte sattsam bekannt. Massaker
und Gräuel wie das von My Lai lassen sich nun einmal im Zeitalter
des globalen Kommunikationsdorfes nicht mehr unter den Teppich kehren.
Spätestens die Aufnahmen von Abu-Ghuraib hätten die Yankees
wachklingeln sollen. Wikileaks ist nicht verantwortlich für das,
was an den Fronten der Amerikaner passiert. Insofern ist es auch zutiefst
unredlich von der amerikanischen Administration, Wikileaks anzuklagen.
Schuld sind die Verbrecher, nicht diejenigen, die es aufdecken.
Was nun jedoch die neueste Enthüllungsserie betrifft, mit der Wikileaks
von sich reden macht um seine Existenz zu rechtfertigen, das ist albern
und bigott und blödsinnig. Da sammelt das amerikanische Außenministerium
Dossiers über seine weltweiten Gesprächspartner, Botschafter,
Militärs, Wirtschaftsfunktionäre, Diplomaten niederer Ränge
– sie alle berichten nach Washington, welchen Eindruck sie von
diesem oder jenem Staatsmann oder irgendeiner Politikerin gewonnen haben.
Das ist wichtig – man muss wissen, wie man mit jemandem dran ist.
Ebenfalls wichtig ist, dass diese Berichte ungeschminkt und fernab von
jedem verheuchelten, diplomatischen Protokoll verfasst sind. Das entbehrt
natürlich nicht einer gewissen Brisanz. Jeder aber, der in diesem
Geschäft groß geworden ist, weiß, wie es seit Jahrhunderten
nach ungeschriebenen Gesetzten läuft. Daraus jetzt eine schmutzige
Schlüssellochaffäre zu fabrizieren, die lediglich das scheinheilige
moralische Empfinden des Plebs anspricht, ist völlig sinnfrei.
Es geht dieses Mal eben nicht darum, den Eingeschätzten die nackte
Wahrheit darüber zu vermitteln, wie sie eingeschätzt werden.
Es geht auch nicht darum, dem sensationsgierigen Pöbel zu zeigen,
was außer ein paar Torfköpfen jeder längst weiß:
Dass nämlich Politiker und Diplomaten ebenso janusköpfig sind,
wie die meisten anderen Menschen auch. Dass sie ein offizielles und
ein privates Gesicht haben. Dass es auf dem diplomatischen Parkett Spielregeln
gibt, die man unbeschadet tatsächlicher Vorgänge und Ansichten
einhält, weil nur so eine erträgliche und ertragreiche Kommunikation
zwischen Gesprächspartnern oft divergentester Interessen möglich
ist. Das Protokoll ist der rote Faden, an dem man sicher durch das Labyrinth
der Ausgleichssuche geführt wird. Persönliche Einschätzung
des Verhandlungsgegenübers bleiben davon im Allgemeinen unberührt.
Weder eine Angela Merkel, noch ein Guido Westerwelle und auch kein Horst
Seehofer sind so unprofessionell, dass sie damit nicht absolut souverän
umgehen würden. Darüber hinaus darf man wohl mit Fug und Recht
annehmen, dass auch sie von ihren zuarbeitenden Stellen mit Informationen
versorgt werden, die das Profil ihrer Gegenüber deutlich abseits
des Protokolls, dafür aber sehr aussagekräftig und zutreffend
charakterisierten. Was Wikileaks mit dieser dummen Aktion erreicht hat,
ist also nichts anderes als eine peinliche Bloßstellung von Spitzenpolitikern
aller beteiligten Seiten. Möglicherweise zwingen die selbst ernannten
Streiter für Wahrheit und Gerechtigkeit jetzt die Bloßgestellten
zu künstlich entrüsteten, weil an die doofe Öffentlichkeit
adressierten Statements, die ihnen nicht in den Sinn gekommen wären,
wenn die Angelegenheit nach den alten Regeln weitergelaugfen wäre.
Andere wiegeln ab und machen gute Mine zum bösen Spiel, obwohl
jedermann ahnt, dass sich hinter den Kulissen bereits ein Gewitter zusammen
braut. Völlig bekloppt. Dabei kann Wikileaks nur einen abrechenbaren
Erfolg für sich verbuchen: Die Mitarbeiter von Wikileaks drängeln
sich wieder einmal in das öffentliche Bewusstsein, demonstrieren
ihre unheimliche Macht und können wohl auf dieser Schiene dringend
benötigte Sponsorengelder einwerben. Solange sie sich so verhalten,
während sie wirklichen Verbrechern auf die Pfoten hauen, ist das
alles legitim und ehrenhaft. Wenn sie aber eine Soap-Opera aufführen,
welche die niedrigsten Instinkte des Volkes anspricht, welches sich
ja tagaus tagein mehrheitlich im Umgang miteinander nicht, aber auch
gar nicht anderes verhält, als böse über den Nächsten
zu tratschen und sich diebisch freut, wenn ein anderer bei dem unlauteren
Treiben erwischt wird, dann bröckelt die Patina von einem bisher
als ehrenwert und unentbehrlich beschriebenen Projekt wie Wikileaks.
Sie werden sich nun dem Vorwurf aussetzen, in den Gremien und Ministerien,
den Botschaften und bei den Geheimdiensten eine zusätzliche Runde
der Paranoia und der undemokratischen Restrukturierung eingeläutet
zu haben. Wer sich für die Grabenkämpfe hintangesetzter, zu
kurz gekommener oder missverstanden fühlender, zweit- und drittklassiger
Chargen instrumentalisieren lässt und aus der politischen Weltbühne
ein Theatrum Flavium, genannt Colosseum macht, der ist auch nicht mehr
höher zu bewerten, als eben jene altrömischen Zirkusmanager.
Wikileaks – diese erbärmliche Spannerei war eine Nullnummer
und ein klassisches Eigentor.
Nachsatz eines Advocatus
Diaboli (Scholcher M. Druckepennig):
Als Martin Luther die Heilige Schrift verdeutschte und Thomas Müntzer
begann die Heilige Messe in deutscher Sprache zu halten und auf deutsch
zu predigen, stand die katholisch-alleinseeligmachende Mutter Kirche
zu Rom Kopf. Der Laie sollte nicht wissen, worum es geht, damit er nicht
auf den Trichter kommt, mitreden zu wollen oder das Wesen der Kirche
am Wesen des Evangeliums zu messen. Karl Marx lehrte, die Geschichte
würde sich spiralförmig wiederholen. Kluger Mann, der Vorkämpfer
der Arbeiterschaft...
Würde jedermann mit offenen Karten spielen, so bedürfte man
keiner Geheimniskrämerei, nicht wahr? Aber ganz so ist es natürlich
nicht. Der Pöbel will oft in seinem schnell urteilenden Unverstand
über Dinge urteilen, die er im Vorfeld nicht genügend ausdifferenzierte.
Dem man kann man wirklich nicht alles auf die Nase binden. Man käme
nie zu Potte. Daher erfolgt die Bewertung der Wikileaks - Aktion nachdenklich
einerseits, aber auch mit einem gewissen Augenzwinkern.